Unbändiger Freiheitsdrang

Der chilenische Regisseur Pablo Larraín hat sich mit einer Filmtrilogie über die Pinochet-Diktatur einen Namen gemacht. In seinem ersten Gegenwartsfilm porträtiert er die junge Generation Chiles auf ihrer Suche nach Identität und Orientierung.

Der Film beginnt buchstäblich mit einem Fanal. Die junge Tänzerin Ema betrachtet in einem Schutzanzug eine Verkehrsampel in Valparaiso, die sie mit einem Flammenwerfer in Brand gesetzt hat. Die anarchische Tat gibt einen Vorgeschmack auf den chaotischen Trip, zu dem die unberechenbare Heldin mit den wasserstoffblonden Haaren aufbricht. 

Versteht man die Ampel als Symbol für Konvention und Ordnung, so ist nun klar: Ema steht für Nonkonformismus, Aufbruch, Rebellion. Die Ursache für ihr provokantes Auftreten und die aggressiven Wortgefechte mit ihrem deutlich älteren Mann Gastón, zu dessen moderner Tanzkompanie Ema gehört, ist schnell ausgemacht. Die beiden haben vor einem Jahr den kolumbianischen Waisenjungen Polo adoptiert. Nachdem dieser eine Katze ins Kühlfach gesteckt und in der Wohnung ein Feuer gelegt hatte, das eine Gesichtshälfte von Emas Schwester verbrannte, hat Ema den Achtjährigen ans Jugendamt zurückgegeben. Gastón macht ihr deshalb schwere Vorwürfe, sie verspottet ihn im Gegenzug wegen seiner Unfruchtbarkeit. Ema bereut den Schritt und möchte Polo zurückholen, doch die zuständige Sozialarbeiterin lässt sie abblitzen. Zudem verliert sie wegen ihres Verhaltens gegenüber dem Jungen den Job an einer Schule, in der sie Tanzunterricht gibt.

Von den Ereignissen gebeutelt, stürzt sich die selbstbewusste junge Frau ins wilde Leben, leitet die Scheidung ein, beginnt eine Liebschaft mit ihrer Anwältin und tanzt mit einer Mädchen-Gang im Rhythmus des in Chile sehr angesagten Reggaeton – eines  temperamentvollen Musikmixes aus Reggae, Hip-Hop und Merengue – durch die Stadt. Mit ihren neuen Genossinnen legt sie hier und da Feuer und verführt einen attraktiven, verheirateten Feuerwehrmann. Am Ende der furiosen Tour de Force wird deutlich, dass Ema bei alldem einen raffinierten Plan verfolgt.

Analog zur sprunghaften Protagonistin mit ihrem unbändigen Freiheitsdrang entzieht sich die Inszenierung jeder konventionellen Genrezuordnung. Larraín wechselt ebenso munter wie elegant von Außenseiterstudie zum Generationenporträt, vom Melodram zum Musical, von schwarzer Komödie zur Groteske, ja, im überraschenden Finale skizziert er mit einem experimentellen Familienkonzept sogar eine Art Utopie.

Zeitsprünge und eine assoziative Montage machen „Ema“ nicht gerade zur leichten Kinokost. Wer nichts Wichtiges verpassen will, muss ständig aufpassen, zumal Larraín ohnehin vieles offen lässt und divergierende Deutungen eröffnet. Dazu sorgen faszinierende Tanzsequenzen vor einem riesigen Sonnenball, der im Hintergrund eines Tanzstudios leuchtet und eine surrealistische Atmosphäre erzeugt, ebenso wie die geschmeidige Kameraführung und der pulsierende Soundtrack für intensive sinnliche Kinoerfahrungen.

Neben den privaten Konflikten und familiären Verwicklungen lässt Larraín immer wieder die Härte der sozialen Wirklichkeit im heutigen Chile durchschimmern, dessen wirtschaftliche und soziale Strukturen noch immer vom Neoliberalismus der Militärdiktatur geprägt sind. Die Tänzer-Community schlägt sich mit prekären Arbeitsverhältnissen mehr schlecht als recht durchs Leben; Ema ist so abgebrannt, dass sie ihre Scheidungsanwältin nicht bezahlen kann und ihr ersatzweise Dienstleistungen im Haushalt anbietet.

Schließlich wartet der Film mit starken schauspielerischen Leistungen auf: So gibt die 1990 geborene Chilenin Mariana Di Girolamo Arteaga, Spross einer verzweigten Künstlerfamilie, in ihrer ersten großen Kinohauptrolle als impulsive Tänzerin Ema einen glänzenden Einstand. Der Mexikaner Gael Garcia Bernal, der seit 2004 Botschafter für Oxfam ist, bekräftigt als Gastón einmal mehr seinen Ruf als Lieblingsdarsteller wichtiger Autorenfilmer.

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