Zwischen Tinder und Todesstrafe

Nadine Pungs: Frühling in Saudi-Arabien. Begegnungen in einem Land der Widersprüche. Malik 2024, 288 Seiten, 18 Euro

Nadine Pungs beschreibt Saudi-Arabien als Gesellschaft zwischen Aufbruch und alten Traditionen. Dabei liefert sie eher Impressionen als Analysen.

Saudi-Arabien gilt vielen als Inbegriff des Rückständigen und Frauenfeindlichen. Mit der 2016 von Kronprinz Mohammed bin Salman verkündeten „Vision 2030“, die das Land auf das post-fossile Zeitalter vorbereiten soll, begann Saudi-Arabien aber, sich auch gesellschaftspolitisch zu öffnen. Die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum wurde aufgehoben, die Befugnisse der Religionspolizei eingeschränkt, Kinos und Pop-Konzerte zugelassen und 2019 die ersten Touristenvisa erteilt. Allerdings handelt Mohammed bin Salman weiterhin autoritär, die Menschenrechtslage ist katastrophal und öffentliche Diskussionen über seine Strategie sind unmöglich. 

Die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Nadine Pungs hat Saudi-Arabien in den Jahren 2020 und 2023 bereist. Ihr Bericht lebt von ihren Begegnungen mit Saudis, mit denen sie sich teils auf Englisch und teils mithilfe von Übersetzungs-Apps unterhalten hat, von ihren Einblicken in Alltagsleben, Hoffnungen, Sehnsüchte und Befürchtungen der Menschen. Sie fährt mit Bus und Taxi von der Ölstadt Dammam am Persischen Golf in die Hauptstadt Riad und ins weltoffenere Dschidda am Roten Meer. Sie besucht die Ruinen von al-Ula, die heilige Stadt Medina, erlebt Wüsten und futuristische Stadtlandschaften. 

Häufig trifft sie Frauen, wird in Familien eingeladen, feiert mit ihnen das Fastenbrechen im Ramadan, besucht Kunstgalerien und Kinos, Yogastudios und Schönheitssalons. Sie erfährt, wie Ehen angebahnt werden, warum sie zerbrechen, dass Scheidungen immer noch gesellschaftlich schwierig sind, dass junge Frauen lieber ihre beruflichen Vorstellungen verwirklichen möchten, anstatt zu heiraten, oder von den Männern schlichtweg enttäuscht sind. Immer wieder erlebt sie großzügige Gastfreundschaft. 

Repression und Reform Hand in Hand

Gut lesbar beschreibt die Autorin, wie junge Menschen sich über die Neuerungen freuen und gleichzeitig an überkommenen Konventionen festhalten, beispielsweise Scheidungen kategorisch ablehnen. So entsteht ein guter Einblick in eine Gesellschaft, die sich im Wandel befindet. An einigen Stellen allerdings wünscht man sich mehr Hintergrundinformationen, um zu verstehen, warum etwa ein Yogastudio für Saudi-Arabien so besonders ist oder was die Haltung der Religionsgelehrten ist, die lange die Politik des Königshauses mitbestimmt hatten und dann vom Kronprinzen kaltgestellt wurden.

Repression und Reform, das macht die Autorin immer wieder deutlich, gehen in Saudi-Arabien Hand in Hand. So beschreibt sie das Nebeneinander von Schönheit, Gastfreundschaft und Brutalität, als sie einen Platz besucht, auf dem in der Vergangenheit auch Hinrichtungen öffentlich vollzogen wurden. Saudi-Arabien sei gleichzeitig erzkonservatives Königreich und digitalaffine junge Nation, ein Land zwischen „Tinder und Todesstrafe“, wie sie schreibt. Wie aufrichtig kann eine Öffnung sein, wenn Kritiker um ihr Leben fürchten müssen, fragt die Autorin. Es ist die entscheidende Frage für die Zukunft Saudi-Arabiens.

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