Fremdes Wissen aufgesogen

Chinas Aufstieg ist verbunden mit der Aufnahme von Wissen aus dem Ausland. Im Westen weckt das inzwischen Argwohn – chinesische Unternehmen werden zur Konkurrenz. Und unter Chinas Führern regt sich die alte Angst, dass sich mit fremder Technik auch westliche Werte einschleichen.

Ohne einen gewaltigen Wissenstransfer aus anderen Ländern wären weder das Wirtschaftswachstum noch die Modernisierung Chinas in den vergangenen drei Jahrzehnten denkbar gewesen. Das zeigt, wie die Weitergabe von Wissen zur Entwicklung beitragen kann. Und doch gibt es in China noch immer ein tiefes Unbehagen gegenüber Wissen, das aus dem Ausland übernommen wurde. Sein Platz in der chinesischen Gesellschaft und seine Vereinbarkeit mit einheimischen Werten bleiben umstritten.

Autor

Richard P. Suttmeier

ist emeritierter Professor für Politik­wissenschaft an der Universität Oregon in den USA. Er ist einer der führenden Experten für Chinas Strategien des Technologietransfers und der Entwicklung von Wissenschaft und Technik.

Die erste Voraussetzung dafür, dass China sich in den vergangenen rund 30 Jahren so viele Kenntnisse aus dem Ausland aneignen konnte, war die Tradition der Hochschätzung von Wissen und Bildung in der chinesischen Kultur. Unter Mao Zedong, von den frühen 1950er bis zur Mitte der 1970er Jahre, wurde diese Tradition fast gänzlich preisgegeben: Die radikale politische Ausrichtung, besonders in der Kulturrevolution, ging mit der Verunglimpfung von Bildung und Gelehrsamkeit einher, importiertes Wissen war größtenteils suspekt, und es gab kaum Möglichkeiten, sich außerhalb Chinas weiterzubilden. Als danach Deng Xiaoping die Reform- und Öffnungspolitik einleitete, hatte sich ein starkes Bedürfnis nach Informationen jeder Art und nach internationalem Austausch aufgestaut.

Mit der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu den USA ab 1979 veränderte sich die amerikanische Politik, die Kontakte zu China weitgehend verhindert hatte. Der Zugriff der Chinesen auf Informationen aus dem Ausland wurde erleichtert. So wurden Universitäten für den Austausch von Studierenden und Forschern geöffnet und wissenschaftliche Zusammenarbeit, Handel, Investitionen und verschiedene Formen der technischen Unterstützung aufgenommen. Wissen von außen bezog China nicht nur aus den USA und anderen Industrieländern, sondern auch von internationalen Organisationen wie der Weltbank und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Das erste Darlehen, das China mitsamt technischer Unterstützung von der Weltbank erhielt, war für die Verbesserung der Laborausstattung an chinesischen Universitäten bestimmt. 

Weil die Kulturrevolution die Forschungsarbeit an den Universitäten unterbrochen hatte, mussten in den 1980er Jahren zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden, um eine Wissensbasis für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft aufzubauen. Dabei standen Naturwissenschaften und Technik im Mittelpunkt, doch auch andere Wissensgebiete wurden nach und nach stärker beachtet. So wurden in Zusammenarbeit mit ausländischen Regierungen und Institutionen Programme zur Förderung von Soziologie, Ökonomie, Jura und anderen Sozialwissenschaften ins Leben gerufen.

China erkannte allmählich, wie wichtig beim Technologietransfer die Kenntnisse von Menschen sind

Dabei verbanden sich in China bewusste Strategien des Staates mit dem opportunistischen Verhalten von Einzelnen und Organisationen, die aus der Chance zum Austausch mit dem Ausland Nutzen für sich ziehen wollten. Das kommt etwa in der hohen Zahl chinesischer Studenten und Wissenschaftler zum Ausdruck, die zu Studien und zu Forschungszwecken ins Ausland strömten: In rund 35 Jahren sind etwa 2,64 Millionen ins Ausland gegangen und etwa 1,09 Millionen zurückgekommen. Dies ist zum Teil das Resultat veränderter Ziele in der Regierungspolitik, aber auch die unbeabsichtigte Folge des Wegfalls der Barrieren, die einer Ausbildung im Ausland im Wege gestanden hatten.

Das Zusammenwirken von Strategie und Opportunismus wird auch im Versuch sichtbar, neue Technologien zu erwerben. Einerseits beobachtet man ungeplante, unkoordinierte Anstrengungen einzelner Unternehmen, die neuesten Ideen und Produkte aufzunehmen, die international im Trend sind. Sie sind vor allem an kommerziell nutzbaren Technologien interessiert, die kurzfristig die größten Gewinne versprechen. Das führt oft zu zahlreichen Dopplungen und Parallelentwicklungen, vor allem bei der Unterhaltungselektronik.

Auf der anderen Seite war während der gesamten 1980er Jahre zu beobachten, wie die Lernkurve bezüglich der Modalitäten des Technologietransfers steil anstieg. Allmählich bildete sich eine Strategie heraus. Zu Beginn der Öffnungspolitik ging es China vor allem um den Erwerb von Technik in Form von Maschinen und/oder um Lizenzen zur Verwendung von Know-how. Doch dank Erfahrungen während der Ausbildung im Ausland und mit der Liberalisierung der Auslandsinvestitionen in China erkannten die Chinesen allmählich, wie wichtig beim Technologietransfer die Kenntnisse von Menschen sind – besonders für die Aneignung von unverzichtbarem implizitem, nicht schriftlich fixiertem Wissen.

Investitionen aus dem Ausland, der Austausch von Studierenden und Forschern (wo sich nun der Abfluss von Hochqualifizierten umkehrte), die Nutzung von Kenntnissen der Auslandschinesen sowie die Förderung von ausländischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten in China haben seit Beginn der 1990er Jahre zu einem enormen Zufluss von Wissenschaft und Technologie geführt. Dazu trug auch die Politik bei, dass ausländische Investoren neue Technologien mitbringen mussten, wenn sie Zugang zum chinesischen Markt bekommen wollten.

China verwendet viel Zeit und Anstrengung darauf, zu ermitteln, welche Technologien es aus dem Ausland beziehen will. Sie werden in Listen zusammengestellt, an denen sich dann die Anforderungen zum Technologietransfer an ausländische Investoren und die anderen legalen und illegalen Aneignungsbemühungen orientieren. Außerdem verfolgt eine große Zahl von Experten die internationale Literatur zu neuesten Forschungsergebnissen sowie Veränderungen der politischen und institutionellen Rahmenbedingungen in den wissenschaftlich und technologisch führenden Ländern. Daher können die politischen Strategen, die Chinas Vorteile aus dem internationalen Wissenstransfer vergrößern wollen, auf viel Sachkunde zurückgreifen.

Wie kann man der chinesischen „Substanz“ westliche Wissenschaft und Technologie aufpfropfen?

Trotzdem zeigen sich weiter Vorbehalte gegen den Wissenstransfer. Seit mehr als 150 Jahren steckt China in Bezug auf die Nutzung von Wissen aus dem Ausland in einem Zwiespalt. Im späten 19. Jahrhundert wurde das auf seine Kultur so stolze Land von Aufständen geschwächt und von technisch höher entwickelten imperialistischen Mächten aus dem Westen bedroht. Damals suchte es einen Weg, westliche Fachkenntnisse mit eigenen kulturellen Traditionen zu verbinden. Für einige führende Politiker konnte China nur wieder erstarken, wenn es die eigene Tradition und vor allem die konfuzianische Gelehrsamkeit neu belebte. Andere, zu denen auch die Führer der kommunistischen Revolution im 20. Jahrhundert gehörten, hielten gerade diese chinesische Tradition für den Grund der politischen Schwäche Chinas und wollten „modernes“ Wissen aus dem Ausland an deren Stelle setzen. Die Übernahme des Marxismus-Leninismus ist ein besonders krasses Beispiel für die Abwendung von der Tradition und dafür, wie ausländisches Gedankengut das Land verändert hat. Sogar sie war aber ambivalent, wie die ständigen Versuche zeigen, dem Marxismus ein spezifisch chinesisches Gesicht zu geben.

Eine dritte Strömung, die führende Reformer des späten 19. Jahrhunderts vertraten, wollte westliches Wissen nutzen, um die chinesische Tradition zu stärken unter dem Motto „Chinas Lehren als Substanz (ti), die Lehren des Westens für die Praxis (yong)“. Diese Einstellung zum Wissenstransfer ist mehrdeutig und gab zu scharfen Kontroversen Anlass: Was genau ist das „ti“, die chinesische Substanz, und vor allem: Worin besteht die westliche Praxis?

Sie wird im Allgemeinen als Summe des praktisch anwendbaren Wissens definiert, das in der im Westen entwickelten Technik und Naturwissenschaft steckt. Doch das lässt wichtige Fragen unbeantwortet: Wie kann man der chinesischen „Substanz“ westliche Wissenschaft und Technologie aufpfropfen? Kann China diese rezipieren, ohne jene Werte und Institutionen mit zu importieren, die im Westen die Entwicklung von Wissenschaft und Technik möglich gemacht haben?

Die Entwicklung Chinas seit den späten 1970er Jahren orientierte sich an den miteinander verbundenen Konzepten „gaige“ (Reform) und „kaifang“ (Öffnung nach außen). Der Reformimpuls erklärt sich aus der Notwendigkeit, die wirtschaftlichen und politischen Probleme der Mao-Jahre zu überwinden. Doch der Inhalt der Reformpolitik war stark unterschiedlichen Erfahrungen aus anderen Ländern verpflichtet – darunter Reformen im sozialistischen Osteuropa und der Wirtschaftspolitik in kapitalistischen Ländern. Auch Beratung von internationalen Organisationen wie der Weltbank und dem UNDP hatte Einfluss. Das brachte in vieler Hinsicht neues praktisches Wissen, um wirtschaftliche und soziale Institutionen in China neu zu organisieren.

Doch die Neugestaltung von Institutionen führte schnell zur politisch heiklen Frage nach der chinesischen Substanz. Wissen, das den Interessen der Kommunistischen Partei widersprach, galt als inakzeptabel. Zugleich setzte die Partei aber der kulturellen Selbstgenügsamkeit der Mao-Jahre ein Ende, die einer weitgehenden Autarkie gleichgekommen war. Die Öffnungspolitik brachte allmählich so viele neue Wege, sich ausländisches Wissen anzueignen, dass im Laufe der Jahre eine Flut von Ideen über China hereinbrach. Diese Politik erinnert daher in gewisser Weise an das frühere Schwanken zwischen „ti“ und „yong“: Wie im 19. Jahrhundert resultierte aus den eigenen Fehlern und Veränderungen im internationalen Gefüge eine relative Schwächung Chinas. Die Öffnung erschien als der richtige Weg, Anschluss an die Technologie und die Fortschritte der Wissenschaft zu finden, die Schwäche Chinas zu überwinden und damit auch seine „Substanz“ zu erhalten.

Der Wissenszufluss hat die wissenschaftlichen und technischen Fertigkeiten in China erheblich gestärkt – so weit, dass ausländische Partner nun Bedenken gegen den Technologietransfer nach China haben. So fürchten westliche Unternehmen, dass ihnen infolge des technologischen Fortschritts in China ernstzunehmende Konkurrenz auf den Weltmärkten erwächst. Und Regierungen beobachten, dass der Fortschritt sich auch in der Militärtechnik niederschlägt, und verlangen, wieder Exportkontrollen für auch militärisch nutzbare Technologie in Betracht zu ziehen. Die Chinesen spüren, dass Exportbeschränkungen und die Vorbehalte ausländischer Unternehmen ihren Zugang zu den neuesten Technologien erschweren könnten.

China will unbedingt Zugang zu Technologien bekommen, die zu Hause nicht ohne weiteres entwickelt werden können

Sie versuchen deshalb, ihre Strategien zu verändern. Seit 2000 sind die Chinesen einerseits bestrebt, die einheimische Forschung und Entwicklung voranzutreiben. Das zeigt sich in der nationalen Planung, vor allem in der Einführung eines mittel- und langfristigen Plans für wissenschaftliche und technologische Entwicklung für den Zeitraum von 2006 bis 2020 sowie im Programm zur Förderung wichtiger, strategischer neuer Industriezweige. Doch obwohl hier die in China selbst geleistete Innovation im Mittelpunkt steht, ist der Zugang zu ausländischer Technologie dafür weiter nötig.

Andererseits geht China daher zunehmend aggressiv vor, um Zugang zu Technologien zu bekommen, die zu Hause nicht ohne weiteres entwickelt werden können. Angesichts der Vorbehalte im Ausland gegen weiteren Technologietransfer muss das Land neue Strategien anwenden. Der Umgang mit ausländischen Direktinvestitionen wurde so geändert, dass internationale Unternehmen Technologien transferieren müssen, wenn sie die Genehmigung für Investitionen bekommen wollen – eine Neuauflage der Markt-für-Technik-Strategie. Zudem wird die chinesische Diaspora verstärkt für den Wissenstransfer genutzt, den legalen und manchmal auch den illegalen. Das zeigen Berichte über spektakuläre Spionagefälle in den USA und in anderen Ländern, an denen Ingenieure chinesischer Abstammung beteiligt waren. Und wenn man neueren Berichten über chinesische Cyberspionage glauben darf, wird mit groß angelegten Angriffen auf die Computersysteme ausländischer Regierungen und Unternehmen in großem Umfang geistiges Eigentum gestohlen.

Chinas Aufstieg in den vergangenen drei Jahrzehnten sollte insgesamt als Versuch verstanden werden, die Vorteile der Globalisierung für das Land zu nutzen. Zum Wesen der Globalisierung gehört ein gewaltiger internationaler Austausch von Wissen. Chinas Führer haben erkannt, dass es große Vorteile bringt, sich dafür zu öffnen – nicht nur bei Wissenschaft und Technologie, sondern auch in Bereichen der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Doch wird die Öffnung von Kontrollen begleitet. Zum Beispiel wird ein flächendeckender Zugang zum Internet gefördert, um die Modernisierung voranzutreiben; doch die verfügbaren Informationen werden umfangreich politisch zensiert, um die Wirkungen des Wissensimports zu begrenzen. 

In dieser ambivalenten Haltung erscheint erneut das alte Problem von „ti“ und „yong“. Versucht China die Quadratur des Kreises, also das praktische Wissen zu mehren und gleichzeitig die chinesische „Substanz“ zu schützen? Aber kann eine Gesellschaft wirklich technisch innovativ sein und den globalen Wissensaustausch nutzen, ohne das Recht auf geistiges Eigentum zu schützen? Kann es einen starken Schutz des geistigen Eigentums geben ohne zuverlässigen Rechtsstaat? Kann es diesen geben ohne Unabhängigkeit der Rechtsprechung, und ist eine unabhängige Rechtsprechung möglich ohne einen gewissen Grad an demokratischer Rechenschaftspflicht für die Politik? Kann man Weltklasse-Universitäten haben, ohne ihnen weitreichende institutionelle Autonomie zu geben, und ist diese möglich ohne Freiheit von der Aufsicht der Kommunistischen Partei?

Derzeit glauben manche in Chinas Führung tatsächlich, dass man mit entschlossener Anleitung und der Vorgabe klarer Normen die globalen Wissensströme so kanalisieren kann, dass sie spezifisch chinesischen Grundwerten dienen. Wenn man sich der Verlockung widersetzt, Werte anderer Gesellschaften zu übernehmen, sich aber ihre technischen Mittel aneignet, dann kann man diesen Führern zufolge im 21. Jahrhundert einen besonderen chinesischen Weg zu Macht und Wohlstand nehmen. Wie China künftig „ti“ und „yong“ vereinbart, ist offen. Doch seine Erfahrung in den vergangenen 35 Jahren zeigt, dass die Wirtschaftsentwicklung und der gesellschaftliche Wandel durch disziplinierte, zielstrebige und breit angelegte Aneignung fremden Wissens beschleunigt werden können. Und vielleicht macht die 150-jährige Spannung zwischen „ti“ und „yong“ deutlich, dass ausländisches Wissen nutzlos bleibt, wenn es ohne Rücksicht auf die komplexe Realität in einem sich schnell verändernden Land übernommen wird.

Aus dem Englischen von Anna Latz

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erschienen in Ausgabe 7 / 2013: Neues Wissen im Blick
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