Das Hilfspaket hat ausgedient

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Afrikanische Hilfsorganisation
Geld als Nothilfe
Nothilfe wird meist in Form von Nahrungsmitteln, Trinkwasser oder medizinischer Hilfe geleistet. Wer den Opfern Geld gibt, bewirkt aber oft mehr. Für die Hilfsorganisationen hat das weitreichende Folgen.

Menschen in Notlagen mit Bargeld zu helfen, ist sinnvoll. Und die Praxis verbreitet sich. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert in seinem Bericht für den humanitären Weltgipfel Ende Mai in Istanbul, „bargeldbasierte Programme als die bevorzugte Methode zur Unterstützung“ einzuführen. Auch Experten empfehlen, das mehr zu nutzen.

Bislang werden nur sechs Prozent der humanitären Hilfe in Form von Bargeld-Transfers geleistet. Was spricht gegen einen Anstieg auf 30, 50 oder sogar 70 Prozent? Bargeld-Transfers zählen zu den am sorgfältigsten untersuchten Instrumenten der humanitären Hilfe in den vergangenen zehn Jahren. Die wissenschaftlichen Beweise, dass sie Gutes bewirken, sind erdrückend. Unter den meisten Umständen kann Geld sicher, effizient und nachvollziehbar ausgezahlt werden, zumal immer mehr digitale Systeme dafür eingesetzt werden.

Notleidende gehen vernünftig mit Geld um und verwenden Hilfe zum Beispiel in der Regel nicht, um Alkohol zu kaufen. Zudem ist bei Geld die Gefahr, dass es in dunklen Kanälen verschwindet, nicht größer als bei anderen Hilfsgütern. Lokale Märkte von Somalia bis zu den Philippinen haben auch nicht mit Inflation auf den Zufluss von Bargeld reagiert – eine Sorge, die Skeptiker häufig äußern. Geld ermöglicht Investitionen und eröffnet Märkte, weil die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen steigt.

Menschen bevorzugen Bargeld, weil es ihnen ein Gefühl der Würde gibt und ihnen die Wahl und die Kontrolle darüber lässt, wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen. Notleidende wissen besser als Hilfsorganisationen, was sie am meisten brauchen – das ist wenig überraschend. Hilfsgüter, mit denen sie wenig anfangen können, verkaufen sie, um dann das zu erwerben, was sie wirklich benötigen. Fast drei Viertel der syrischen Flüchtlinge im Irak haben das getan. Der Differenzbetrag zwischen dem Preis, den sie für Hilfsgüter und Lebensmittel bekommen, und den Kosten, zu denen sie beschafft wurden, ist reine Verschwendung.

Es hat lange gedauert, bis Bargeld-Transfers in der humanitären Hilfe akzeptiert wurden. Denn sie stellen tief verankerte Überzeugungen, wie man am besten hilft, und die Struktur des Hilfesystems infrage. Dieses ist nicht gut darin, Menschen zu vertrauen, und sehr zurückhaltend dabei, Macht und Kontrolle abzugeben. Es ist auf die Annahme gegründet, dass Experten von außen entscheiden, was in einer Notlage benötigt wird, und es beschaffen. Bargeld auszugeben schafft außerdem Unsicherheit für manche Profession. Was passiert etwa mit Logistikern und Nahrungshilfe-Experten?

Wie die Nothilfe im Jahr 2030 aussehen könnte

Und wenn es sinnvoll ist, Geld auszuzahlen, um eine ganze Reihe von Grundbedürfnissen zugleich zu erfüllen – brauchen wir dann noch so viele spezialisierte Organisationen für die Verteilung von Hilfsgütern? 2014 verteilten im Libanon 30 Organisationen Bargeld und Gutscheine für 14 verschiedene Zwecke, darunter Hilfe zum Überwintern, juristische Unterstützung und Nahrungsmittel. So etwas stellt die gegenwärtigen Modelle infrage, wie Hilfe finanziert und geleistet wird.

Wie wird Nothilfe im Jahr 2030 aussehen? Als Optimist denke ich, wir werden bis dahin gute Fortschritte gemacht haben beim Ziel, die Armut auszurotten. Wohlhabendere Staaten und reiche Leute werden mehr investieren, um auf die steigende Zahl von Naturkatastrophen vorbereitet zu sein, die mit dem Klimawandel einhergehen, und sie besser überstehen können. Fortschritte im Kampf gegen die Armut werden teilweise mittels Ausweitung von Sozialprogrammen erreicht werden. In mehr Gegenden wird es ähnlich sein wie im Norden Kenias, wo 2015 das Sicherheitsnetz gegen Hunger (Kenya Hunger Safety Net) als Reaktion auf Dürren und Überschwemmungen die Zuschüsse an die Bevölkerung automatisch erhöhen konnte. Denn es hatte alle vorher registriert und klare Auslöser definiert, wann das Programm ausgedehnt werden sollte.

In den meisten Teilen der Welt werden humanitäre Organisationen nicht länger vor allem Hilfsgüter und Bargeld verteilen. Sondern sie werden nichtstaatlichen Organisationen (NGO) helfen, ihre Regierungen zu überzeugen, dass sie jene in die staatlichen Sozialprogramme aufnehmen müssen, die zu Unrecht davon ausgeschlossen sind.

Die übrige internationale humanitäre Hilfe wird viel stärker auf Konflikte konzentriert sein. Die Bürgerkriege in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und im Jemen dürften leider in ihr drittes Jahrzehnt gehen. Die Hilfsorganisationen werden ihre Hilfe dort nicht mehr mit jährlichen Spendenaufrufen finanzieren, sondern mit Fünf-Jahres-Plänen, deren Herzstück ein Grundeinkommen für alle sein wird, deren Lebensgrundlage der Krieg zerstört hat. Einige Naturkatastrophen werden natürlich weiter die lokalen und nationalen Kräfte überfordern und internationale Hilfe nötig machen. Auch werden neue Kriege Not und Elend verursachen. Im Mittelpunkt der Soforthilfe in solchen Fällen werden Bargeld-Transfers stehen.

Autor

Paul Harvey

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humanitarian Policy Group bei der britischen Denkfabrik Overseas Development Institute (ODI).
Hilfsorganisationen sind dann befreit davon, Hilfslieferungen abzuwickeln. Sie werden stärker darauf achten, wo sie einen besonderen Mehrwert leisten können. Solche wie Oxfam, das auf Wasser und sanitäre Anlagen spezialisiert ist, müssen sich auf technische Expertise rückbesinnen. Andere werden verschwinden, stark schrumpfen oder Netzwerke im globalen Süden unterstützen, ohne selbst noch Projekte durchzuführen. Die Lage analysieren und bewerten, Zielgruppen auswählen und Maßnahmen evaluieren – darauf werden sie sich stärker konzentrieren. Die schwierigsten Fragen in der humanitären Hilfe waren immer: Was wird gebraucht? Wer soll es bekommen und wieviel? Sind die richtigen Menschen erreicht worden? Das wird auch so bleiben.

Darüber hinaus werden soziale und politische Dimensionen humanitärer Krise stärker in den Mittelpunkt rücken. Hilfsorganisationen neigen bisher dazu, sich als Lieferanten von Gütern zu sehen – eine humanitäre Version des Paketdienstleisters DHL. Sie werden sich künftig stärker als Sozialarbeiter verstehen müssen, die eng mit einheimischen Organisationen und der lokalen Bevölkerung zusammenarbeiten. Dazu werden mehr Verhandlungen mit Konfliktparteien gehören, mehr Anwaltschaft zu den psychischen Folgen von Kriegen sowie mehr Vermittlungsarbeit zugunsten einheimischer Lösungen. Die Frage „Wie können wir Menschen helfen, ihre Würde zu bewahren, und inmitten eines Konflikts sicher zu leben?“ muss die Frage „Was müssen wir liefern?“ ablösen.

Auch dann wird es nicht immer die beste Wahl sein, Bargeld auszuzahlen. Manchmal werden Menschen auf dem Markt nicht bekommen, was sie brauchen, oder die Politik wird die Ausgabe von Bargeld verhindern. Auch künftig muss man Bargeld-Transfers ergänzen durch öffentliche Dienstleistungen wie Wasser, Impfungen und sanitäre Anlagen, die der Markt nicht effizient verfügbar macht. Bei alldem wird der Geist der Solidarität im Angesicht von inakzeptablem Leid der Kern der humanitären Hilfe bleiben – und Bargeld-Transfers werden es gestatten, ihn mehr in den Mittelpunkt zu stellen.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2016: Religion: Vom Glauben und Zweifeln
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