Verzerrte Ergebnisse

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SDG-Index
Der Nachhaltigkeitsindex der Bertelsmann-Stiftung soll Aufschluss darüber geben, wie einzelne Länder bei der Umsetzung der Agenda 2030 vorankommen. Doch das funktioniert nicht mit einer Zahl, kritisiert Roberto Bissio.

Im Juni haben die Bertelsmann-Stiftung und das Sustainable Development Solutions Network (SDNS) mit Sitz in New York und Paris ihren Sustainable Development Report für das Jahr 2019 veröffentlicht. Die Autoren „messen“ darin anhand ausgewählter Indikatoren, wie die Staaten bei den 17 Nachhaltigkeitszielen abschneiden, und fassen die Ergebnisse in einer Rangliste von 162 Ländern zusammen, für die ausreichend Daten verfügbar sind.

Erstaunlich dabei ist: Die Werte des SDG-Index ähneln stark denen des Human Development Index (HDI), den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) jährlich veröffentlicht. Der Korrelationskoeffizient beträgt 0,91, was bedeutet: Wenn man den Wert eines Landes im HDI kennt, kann man mit einer 91-prozentigen Genauigkeit die Position des Landes in der SDG-Rangliste vorhersagen. Der neue Index bietet also kaum neue Informationen.

Das überrascht, weil der HDI lediglich drei Faktoren berücksichtigt (Einkommen, Gesundheit und Bildung), der SDG-Index aber das Abschneiden eines Landes in allen 17 Zielen abbilden will – von Armut, Hunger, Gesundheit und Bildung (Ziele ein bis fünf) über Umwelt (Ziele 12 bis 15), Regierungsführung (Ziel 16) und der Umsetzung (Ziel 17).

Die Agenda 2030 als Rahmen der Nachhaltigkeitsziele versteht sich als „transformativ“. Sollte sich das nicht auch in einem Index spiegeln, der die Fortschritte einer solchen Transformation messen will?

Entwicklung wurde lange Zeit mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt. In den 1990er Jahren erweiterte der HDI dieses Verständnis und ergänzte das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt um Indikatoren des Wohlbefindens. Der Index zeigte, dass Länder mit ähnlichem Einkommensniveau sehr unterschiedliche Erfolge bei der „menschlichen Entwicklung“ erzielen. Die Nachhaltigkeitsziele gehen nun noch einen Schritt weiter, indem sie Ungleichheit, Regierungsführung und die Umwelt in den Blick nehmen.

Eine solche Erweiterung müsste eigentlich Folgen für das Gesamtergebnis haben. Doch das ist nicht der Fall und die Ursache liegt darin, wie der Index gebildet wird. Ein Beispiel: Ein Indikator, der in den SDGs anders als in früheren Indizes enthalten ist, ist die Zahl der Mordfälle pro 100.000 Einwohner eines Landes. Die Rangliste der Länder nach diesem Indikator korreliert in keiner Weise mit dem Pro-Kopf-Einkommen oder dem HDI: Unter den zehn Ländern mit niedrigster Mordrate finden sich einige der reichsten und einige der ärmsten Länder der Welt.

Teilweise willkürliche Auswahl der Indikatoren

Und obwohl Burkina Faso und Indonesien hier besser abschneiden als Großbritannien oder die Schweiz, landen sie auf dem SDG-Index weiter hinter diesen auf den Plätzen 141 und 101. Der Grund dafür ist, dass die niedrige Mordrate sozusagen weggemittelt wird: Sie verschwindet im Durchschnitt der anderen Indikatoren für Ziel 16 wie der Qualität der Eigentumsrechte (ermittelt vom Weltwirtschaftsforum) und der Pressefreiheit (gemessen von Reporter ohne Grenzen).

Autor

Roberto Bissio

ist Koordinator von Social Watch, einem internationalen Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich für nachhaltige Entwicklung einsetzen.
Der SDG-Index kommt zustande, indem die Mittelwerte der für jedes Ziel ausgewählten Indikatoren gebildet werden und dann aus diesen insgesamt 17 Mittelwerten der Durchschnitt berechnet wird. Dabei werden jeder Indikator innerhalb der Ziele sowie die Ziele untereinander gleich gewichtet. Die Auswahl der Indikatoren ergibt sich zum einen aus der Verfügbarkeit von Daten, folgt aber auch der willkürlichen Entscheidung der Autoren.

So sind bei der Berechnung des Indexwertes des ersten Nachhaltigkeitsziels drei Armutsindikatoren maßgebend: Der Anteil der Bevölkerung, der mit weniger als 1,90 beziehungsweise 3,20 US-Dollar auskommen muss, sowie für OECD-Länder der Anteil der Bevölkerung, dessen Einkommen 50 Prozent unter dem Median liegt. Die Abdeckung sozialer Sicherung fließt dagegen nicht in die Berechnung ein, obwohl sie eines der Unterziele ist und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) dazu ausreichend Daten bereitstellt.

Die Zentralafrikanische Republik steht beim Klimaschutz auf dem zweiten Platz

Als unabhängigen Forschungseinrichtungen steht es Bertelsmann und dem SDSN natürlich frei, die Auswahl zu bestimmen. Aber die Berechnung des Indexes reflektiert damit eben nur teilweise die Stoßrichtung der Agenda 2030.

Das belegt eine statistische Prüfung des SDGs-Berichts durch die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission: Sie zeigt, dass manche Länder, die bei SDG 12 zu nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion und bei SDG 13 zum Klimaschutz schlecht abschneiden, bei allen anderen Zielen hohe Werte erzielen – und umgekehrt. Die fünf Länder, die den Gesamtindex anführen, landen bei den Zielen 12 und 13 auf den hinteren Plätzen. Schweden beispielsweise steht auf dem zweiten Platz des Index, bei nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion aber auf Position 138. Die Zentralafrikanische Republik wiederum, die auf dem Gesamtindex ganz unten steht, landet beim Klimaschutz auf dem zweiten Platz.

Diese Beobachtung bestätigt, was die von den Nobelpreisgewinnern Amartya Sen und Joseph Stiglitz angeführte Kommission zur Erforschung eines neuen Maßstabs für Wohlstand schon 2009 geschrieben hat: Die Bewertung nachhaltiger Entwicklung müsse getrennt vom Wohlstand und der Wirtschaftsleistung beurteilt werden. „Versucht man, aktuelles Wohlergehen und Nachhaltigkeit in einem einzelnen Indikator zusammenzufassen, führt das zu Verfälschungen. Oder anders ausgedrückt: Beim Autofahren würde ein Zähler, der die Geschwindigkeit des Fahrzeugs und den verbleibenden Benzinstand in einer einzigen Zahl zusammenfasst, dem Fahrer nichts nützen.“

Das Versagen der reichen Länder, die armen zu unterstützen

Genau das passiert im SGD-Index: Im abschließenden Durchschnittswert der Durchschnittswerte werden die zwei Ziele, bei denen die reichen Länder schlecht abschneiden, von den 15 anderen Zielen egalisiert, die dem gängigen Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung entsprechen. Der finale Indexwert wird zudem dadurch beeinflusst, dass das in jedem SDG enthaltene Unterziel der Umsetzung nicht berücksichtigt wird. Laut diesem Unterziel sollen die reichsten Länder ärmere Länder bei der Umsetzung unterstützen. Die Folge: Das schlechte Abschneiden der armen Länder bei den Wohlstandsindikatoren schlägt bei jedem einzelnen SDG durch und verschlechtert die Werte. Hingegen taucht das Versagen der reichen Länder, die armen bei der Umsetzung der Ziele zu unterstützen, nur einmal auf – im Wert für Ziel 17.

„Entwicklung“ wurde gemeinhin als linearer Anstieg verstanden, von niedrig zu hoch, von arm zu reich, gemessen an einer einzigen Zahl, dem Pro-Kopf-Einkommen oder dem HDI. Die Bertelsmann-Stiftung macht es in ihrem Bericht ähnlich, indem sie Fortschritte bei den SDGs als eine Art olympischen Wettbewerb darstellt, bei dem die Länder Medaillen in verschiedenen Disziplinen sammeln können. Wie bei einem Marathon werden manche Läufer das Ziel schneller erreichen als andere, aber mit etwas Mühe werden letztlich alle ankommen, wobei die etwas Fitteren die Nachzügler mit Rat und Ermutigungen unterstützen und mit guten Beispielen vorangehen.

Der SDG-Index ist dem Human Development Index so ähnlich, dass er wie dieser letztlich die vorherrschende Entwicklungsstrategie legitimiert. Die Botschaft lautet: Wenn wir nicht auf Kurs sind, die Ziele zu erreichen, dann müssen wir eben einfach nur etwas schneller werden in dem, was wir tun.

Aber was wäre, wenn wir anstelle des Strebens nach mehr Medaillen die Wechselbeziehungen, die Kosten und Umweltfolgen unseres Entwicklungsmodells in den Mittelpunkt rückten? Mit dieser Frage sollten sich die Regierungen und das internationale Entwicklungssystem bei der Überprüfung der Agenda 2030 auseinandersetzen. Denn ein „Weiter so wie bisher“ wird uns nicht die erhofften Fortschritte bringen.

Aus dem Englischen von Sebastian Drescher.

Eine längere englische Version dieses Beitrags ist bei www.globalpolicywatch.org erschienen.

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