Aufstieg mit der Nähmaschine

Zum Thema
Sazzad Ibne Sayed

Die Fabrik in

Bangladesch
Trotz aller Missstände hat die Textilindustrie in Bangladesch vor allem Frauen zu Einkommen verholfen.
Nach dem Einsturz der Rana Plaza-Fabrik im April 2013 hat sich auch die Sicherheit am Arbeitsplatz verbessert.

Die Stimmung bei Tagesanbruch ist friedlich in dem abgelegenen, von fruchtbarem Land, Reisfeldern und Bambus umgebenen Dorf. Hirten versorgen Rinder in ihren Ställen, in den Gärten der Häuser wächst das Wintergemüse, Kinder spielen mit gackernden Hühnern und quakenden Enten – ein bangladeschisches Dorf wie aus dem Bilderbuch.

Doch Männer und Frauen eilen hastig durch seine engen, lehmigen Gassen, um sich in eine Schlange vor dem Eingang der Fabrik einzureihen. Sie halten ihren Ausweis bereit, um pünktlich um acht Uhr ihren Arbeitsbeginn registrieren zu lassen. Kinder klammern sich an ihre Mütter, als sie in die Kindertagesstätte bei der Fabrik gebracht werden. Andere Kinder laufen in karierten Schürzen und schwarzen Schuhen zur Schule, die ebenfalls innerhalb der Fabrikmauern liegt.
Die Fabrik MG Niche Stitch Ltd in dem kleinen Dörfchen Doguri in Mirzapur, Gazipur, am Stadtrand von Dhaka ist eine der größten Textilfabriken Bangladeschs. Sie beschäftigt rund 1650 Arbeiter.

Asma Ahkter ist ein hübsches, 19 Jahre altes Mädchen, mit wachen Augen, die saubere Kleider und ein gelbes Kopftuch trägt. Ihre Aufgabe ist es, Ärmel an Oberteile zu nähen. Bald wird sie einen der führenden Ingenieure zu einem Test treffen, bei dem es um ihre Beförderung geht. Sie stammt aus Maimansingh, einer einige Kilometer von Doguri entfernten Stadt. Nun lebt sie mit ihrer Schwester in der Nähe der Fabrik MG Niche Stitch Ltd in Gazipur. „Vor vier Jahren fing ich als Aushilfe an, heute verdiene ich 8654 Taka (90 Euro), wovon ich einen Teil nach Hause schicke, um meinen Eltern zu helfen. Ich habe ein Bankkonto zum Sparen, den Rest behalte ich für mich“, sagt Ahkter.

Arbeiten, damit die Kinder zur Schule gehen können

Shabana Begum, ihre Kollegin, ist 25 Jahre alt und hat anders als Ahkter relativ spät angefangen, in der Fabrik zu arbeiten. Als Hausfrau war ihre wirtschaftliche Situation schwierig, zumal sie zwei Kinder versorgen muss. Als die Fabrik in der Nähe ihres Hauses vor vier Jahren den Betrieb aufnahm, fing sie an, dort zu arbeiten. „Ich habe zwei Kinder, und es war unmöglich, mit dem Einkommen meines Mannes über die Runden zu kommen“, sagt Begum. „Dass ich dort anfangen konnte, war nur möglich, weil ich meinen Sohn mitbringen konnte.“ Sie und ihr Mann arbeiten, um ihren Kindern den Besuch einer Schule zu ermöglichen.

Mosammat Shirin Akter ist 30 Jahre alt und verdient umgerechnet 265 Euro als Etagenaufsicht. Auf dem Weg von einer einfachen Schneiderin zur Aufsicht arbeitete sie in allen Bereichen und hat die Umwälzungen der Industrie miterlebt. Sie sagt: „Unsere Fabriken gehen jetzt systematischer vor und haben klarere Regeln als jemals zuvor, was Löhne, Abwesenheiten, Beförderungen, Gesundheit und Gewerkschaften betrifft.“

Shafiqul Islam, ein Gewerkschaftsführer und Präsident der Arbeitervereinigung der Fabrik, bestätigt, dass die Eigentümer inzwischen zugänglicher seien und sich in den meisten Fällen mit den Anliegen der Beschäftigten auseinandersetzten. Probleme am Arbeitsplatz würden immer geklärt und das Betriebsklima sei gut.

Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat zum Rückgang von Armut beigetragen

Diese Kurzporträts aus der Fabrik in Gazipur zeigen, wie sich die bangladeschische Industrie entwickelt hat und zeugen von der robusten Wirtschaft des Landes. Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat zum Wirtschaftswachstum Bangladeschs – und damit zum Rückgang von Armut – beigetragen. Der Weltbank zufolge sank die Armutsrate von 82 Prozent im Jahr 1972 auf 18,5 Prozent im Jahr 2010. Im Jahr 2016 waren es noch 13,8 Prozent, 2018 weniger als neun Prozent der Menschen, die nach gängiger internationaler Definition in extremer Armut lebten.

###autor###In Bangladesch gibt es 4500 Fabriken wie jene in Doguri. Die Umgestaltung der Textilindustrie verändert den Lebensstandard und das Schicksal der insgesamt mehr als 4,5 Millionen dort Beschäftigten. Nach dem Zusammensturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza im April 2013, bei dem 1134 Menschen – die meisten von ihnen Frauen – starben, haben fast alle Fabriken strenge Richtlinien zum Schutz der Belegschaft erlassen.

„Der Vorfall öffnete den Geschäftsführern die Augen und in Kombination mit dem Druck, der von den Käufern ausging, änderten sich die Verhältnisse“, sagt der stellvertretende Geschäftsführer der MG Niche Stitch Ltd., M. Masum Billah. „Die allermeisten Fabriken erließen Schutzmaßnahmen und viele halten sich nun an die Richtlinien.“ Bei Brandgefahr schreibe das Gesetz Hydranten vor, es mache Vollzeit-Krankenschwestern und Ärzte zur Pflicht, zudem müsse es in jeder Fabrik ein für die Sicherheit zuständiges Gremium, sowie eine Gewerkschaft geben.

Fabrikverlagerungen in die Peripherie Dhakas

Die Fabriken verlagern sich gegenwärtig in ruhige und etwas abgelegene Dörfer in der Peripherie Dhakas. „Arbeiter kommen aus weit entfernten Gegenden wie Jamalpur, Maimansingh oder der Innenstadt Dhakas und mieten Häuser in der Nähe der Fabrik“, erklärt Billah. „Die Verlagrung der Favriken in die Dörfer hat die Infrastruktur verbessert, es wurden Straßen gebaut und die Elektrizität hat dort Einzug gehalten.“ Die Mieten für die Häuser seien gestiegen und neue Geschäfte hätten eröffnet. Auch eine Schule sei gebaut worden. „Eine Fabrik gibt auch vielen anderen Geschäften und Dienstleistungen ringsum Auftrieb“, sagt Billah.

Auch andere Industrien profitieren vom Wachstum der Textilbranche. Einem der Sekretäre der Assoziation bangladeschischer Kleidungshersteller und -Exporteure (BGMEA), Nur Mohammad Amin Rasel, zufolge macht sich das vor allem bei den Zulieferern bemerkbar: bei Garn- und Stoffherstellern, bei Anbietern von Knöpfen, Reißverschlüssen, Etiketten, Plastiktüten und Pappschachteln, die alle als Materialien zur Fertigstellung von Konfektionskleidung benötigt werden. „Seit es in Bangladesch Fabriken gibt, die alle benötigten Teile und Accessoires in guter Qualität herstellen, ist die Industrie komplett autark“, berichtet er. „Wir importieren überhaupt nichts.“ Außer ein Kunde stelle spezielle Anforderungen oder gebe eine termingebundene Bestellung auf, werde alles vor Ort hergestellt.

Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat einen Anteil von mehr als 84 Prozent an den Exporteinnahmen des Landes. Sie beliefen sich zuletzt auf 34,13 Milliarden US-Dollar und verzeichneten ein Wachstum von 11,49 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Den 4,5 Millionen Industriearbeitern wurden Löhne in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar im Jahr gezahlt.

Nach dem Rana Plaza-Vorfall habe man sich um zweierlei gekümmert, sagt der BGMEA-Sekretär Rasel: um die Sicherheit am Arbeitsplatz und um die Jobsicherheit, wie es die Menschenrechte und die Abkommen der UN-Arbeitsorganisation ILO fordern. „Wir haben jedes einzelne Fabrikgebäude gründlich überprüft mit Blick auf Gebäudestruktur, Brandgefahr und Elektrosicherheit.“ Schwachstellen müssten die Unternehmen beheben. „Zu enge Treppenhäuser wurden verbreitert, stark belastete Pfeiler verstärkt, auf jeder Etage wurden Feuerschutztüren eingebaut und die Stärke der Elektrokabel wurde besser auf die Ladung abgestimmt“, sagt Rasel.

Die Passagen zu den Sicherheitsvorkehrungen im Arbeitsrecht wurden in Bangladesch zweimal überarbeitet, im Juli 2013 und im Oktober 2018. Jetzt können Arbeiter sich in ihren Fabriken beschweren und die gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsgremien bilden. Zudem gibt es ein Komitee zur Mitbestimmung, in dem sich die Arbeitnehmer organisieren. Ungelernte Arbeiter verdienen nun umgerechnet mindestens 83 Euro monatlich, zuvor waren es rund 32 Euro.

BGMEA-Präsidentin Rubana Huq sagt: „Vor allem für Frauen ohne Ausbildung und ohne Beruf bietet die Bekleidungsindustrie einen Ausweg aus der Armut.“ Sie ermögliche Frauen, anständig zu leben und gewähre ihnen soziales Ansehen. „Wir müssen aber auf Kritik reagieren –  und zwar nicht indem wir uns verteidigen, sondern indem wir Korrekturen vornehmen“, sagt Huq. Im Westen herrsche noch immer ein negatives Bild der Bekleidungsindustrie vor. Tatsächlich zähle Bangladesch zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt und auch die Arbeiterinnen seien arm. Ausländische Firmen verlagerten ihre Produktion aufgrund der niedrigen Arbeitskosten in ihr Land. „Aber in diesem Sektor werden Menschen eingestellt und er wirkt sich auf das Bruttoinlandsprodukt aus“, erklärt Hug.

„Made in Bangladesh“ sollte für die Stärkung der Frauen stehen

Nazma Akter ist Gründerin und Generalsekretärin der Awaj-Stiftung und kämpft seit mehr als 32 Jahren für verbesserte Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie Bangladeschs – vor allem für die der Frauen. Auch sie erkennt an, dass überwiegend ungelernte, arme Arbeiterinnen hier Arbeit finden. Das Rana Plaza-Unglück habe den Weg für umfassende Verbesserungen und Erneuerungen innerhalb dieses hoch produktiven Sektors geebnet, sagt sie. Schlechte Arbeitsbedingungen und Verletzungen von Arbeits- und Menschenrechten gibt es in Fabriken nach wie vor, wie sie berichtet – aber in deutlich geringerem Ausmaß. Gleichzeitig stünden Themen rund um Sicherheit ganz oben auf der Agenda. Auch das Recht, sich kollektiv zu beschweren, sei gewährleistet. Doch trotz der erreichten Fortschritte, müsse sich noch mehr tun, sagt Akter.

Akter ist auch Präsidentin des Verbands Sommilito Garments Sramik, einem der größten Gewerkschaftsbünde Bangladeschs. Sie ist der Meinung, dass das Label „Made in Bangladesh“ zu einer Marke werden sollte, die für die Stärkung der Frauen steht. Wenn die Zusammenarbeit von Geschäftsführern und Arbeiterinnen auf Transparenz, Fairness, Verantwortung, Respekt und Wertschätzung basiere, ermögliche dies den Fortschritt, erklärt Akter. Dafür müssten Arbeiter ihre Rechte und Zuständigkeiten kennen, zur Produktivität des Unternehmens beitragen und friedfertig in einem auf Rentabilität ausgerichteten Unternehmen arbeiten. Im Gegenzug verdienten die Unternehmen. Dabei aber müssten sie für faire Preise kämpfen, um ihre Arbeiter angemessen zu bezahlen. Die Käufer, vor allem Bekleidungsfirmen industrialisierter Staaten, hätten noch immer die Haltung von Kolonisatoren.

Der zunehmende globale Wettbewerb habe zu einem Wettlauf um die günstigste Produktion geführt, für die Kompromisse bei den Rechten der Arbeiterschaft in Kauf genommen wurden, sagt Akter. Anständige Arbeitsbedingungen erforderten nicht nur Infrastruktur – etwa in Form von Straßen und Elektrizität –, sondern auch das Wohlergehen der Belegschaft. Das Einkommen müsse deren Existenz absichern, fordert Nazma.

Gewerkschaftsführer, Fabrikbesitzer und alle Beteiligten sind sich sicher, dass sich die Verhältnisse weiter verbessern, wenn das Arbeitsaufkommen steigt. Während die Käufer begonnen haben, sich nach Äthiopien, Indien und Myanmar zu orientieren, sei die Qualität der Arbeit, also die fertigen Produkte, aber auch die Arbeiterschaft aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung in Bangladesch deutlich besser als in den anderen Ländern. Wenn eine Fabrik Aufträge erhält, werden arme Menschen eingestellt und es geht wirtschaftlich bergauf.

Aus dem Englischen von Julia Lauer.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2019: Armut: Es fehlt nicht nur am Geld
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