Die Welt der Lieferketten

Wertschöpfung
Was steckt hinter Lieferketten, welche Chancen entstehen dadurch für Entwicklungsländer und wo werden besonders viele Arbeitsplätze geschaffen? Um diese und weitere Fragen geht es in diesem Text.

Als Apple vor gut 35 Jahren seine ersten Macintosh-Heimcomputer auf den Markt brachte, kamen die Geräte noch vom Fließband aus dem Silicon Valley. Apple-Chef Steve Jobs hatte für die Produktion extra eine hochmoderne Fabrik in Fremont, Kalifornien, bauen lassen, direkt gegenüber dem Firmensitz von Apple. Das ist Geschichte. Die Einzelteile des iPhone, Apples Kassenschlager von heute, werden in mehreren Ländern, vor allem in Asien, gefertigt und dann in einer gigantischen Fabrik in China mit 350.000 Arbeiterinnen und Arbeitern zum fertigen Gerät zusammengesetzt. Die Firma Apple kümmert sich vor allem um das Aussehen der Geräte, die Vermarktung und die Software. „Designed by Apple in California. Assembled in China“ steht heute auf den iPhone-Packungen: Willkommen in der Welt globalisierter Lieferketten.

Was Steve Jobs ursprünglich im Sinn hatte, nennen Fachleute „vertikale Integration“: Die Herstellung eines Produkts findet in diesem Fall mehr oder weniger vollständig in einem Land oder einer Firma statt. Das iPhone hingegen wird heute in „vertikaler Spezialisierung“ gebaut: Das Gerät wird von vielen Unternehmen, die jeweils spezielle Produktionsschritte übernehmen, in verschiedenen Ländern hergestellt und am Ende dieser Lieferkette von Apple verkauft. Diese Form der internationalen Arbeitsteilung hat insbesondere seit Ende der 1980er Jahre in vielen Branchen enorm zugenommen, außer in der Elektronik- und Textilindustrie zum Beispiel auch in der Automobilproduktion.

Der Anteil des Handels innerhalb von Lieferketten am gesamten Welthandel lag im Jahr 2007 bei mehr als 50 Prozent; im Jahr 1980 waren es erst knapp 40 Prozent. Ausgelöst wurde das Wachstum vor allem von Fortschritten in den Informations- und Kommunikationstechnologien, die etwa den Handel mit Dienstleistungen erleichtert haben, von sinkenden Transportkosten und vom Abbau von Handelshemmnissen. Nach der Finanzkrise 2008 ist der Anteil des Lieferkettenhandels leicht gesunken und stagniert seitdem.

Heute ist fast jedes Land in die internationale Arbeitsteilung integriert, wenn auch auf unterschiedliche Weise (Grafik 1). Die Weltbank unterscheidet in ihrem Weltentwicklungsbericht 2020 grob zwischen drei Stufen der Integration in Lieferketten: Länder auf der ersten Stufe exportieren vor allem Rohstoffe, die dann anderswo weiterverarbeitet werden. Für das iPhone sind das zum Beispiel Kupfer aus dem Kongo und Gold aus Sambia. Länder auf der zweiten Stufe stellen Vorprodukte her oder verarbeiten sie weiter. Für das iPhone findet das vor allem in China statt, andere Länder auf dieser Stufe sind etwa Brasilien oder Südafrika (Automobilindustrie) sowie Bangladesch und Vietnam (Textilien). Länder auf der dritten Stufe am Ende der Lieferkette sind auf Dienstleistungen wie Forschung und Entwicklung sowie Software und Marketing spezialisiert.

Man spricht von globalen Lieferketten, tatsächlich aber ist die internationale Arbeitsteilung stark auf drei Regionen fokussiert: Ostasien, Europa sowie Nordamerika. 65 Prozent der Vorprodukte, die in einem Land Europas weiterverarbeitet und exportiert werden, kommen aus einem anderen europäischen Land, in Ostasien liegt der Anteil bei 55 Prozent, in Nordamerika bei 39 Prozent (Grafik 2). Das heißt, die Lieferketten, in die Länder dieser Regionen inte­griert sind, sind zu einem guten Teil auch auf diese Regionen beschränkt. Die chinesische Elektronikindustrie etwa importiert fast 90 Prozent ihrer Vorprodukte aus anderen Ländern Ost- und Südostasiens (Grafik 3). Anders sieht es in Südasien aus: Hier kommen nur drei Prozent der Vorprodukte aller Branchen aus der Region, aber 39 Prozent aus Ostasien und 36 Prozent aus Europa.

Die Weltbank betont, dass es sich beim Handel innerhalb von Lieferketten um mehr handelt als den bloßen Austausch von Vorprodukten, die dann auf der jeweils nächsten Stufe weiterverarbeitet werden. Diese Form der Arbeitsteilung führe gleichzeitig zum Austausch von Wissen und Technologien, die auch bei der Vorproduktion erforderlich sind, damit das Endprodukt wie ein Automobil oder ein Smartphone den angestrebten Standards entspricht.

Und natürlich führt die Arbeitsteilung zur Verlagerung von Arbeitsplätzen. In der Elektronikindus­trie sind vor allem in der Dekade von 2000 bis 2010, in der internationale Lieferketten besonders schnell gewachsen sind, Hunderttausende Jobs aus alten Industrieländern wie den USA, Großbritannien, Deutschland und Japan vor allem nach Ostasien und hier insbesondere nach China verlagert worden (Grafik 4). Das betraf vor allem die Fertigung von Elektronikgeräten wie Computer oder Handys, besser bezahlte Jobs, etwa von Ingenieuren, waren und sind weniger stark betroffen. Beispiel iPod: Zwei Drittel der Arbeitsplätze zur Herstellung des vor zehn Jahren sehr populären MP3-Players von Apple lagen laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation in China und den Philippinen. Aber auf diese Jobs entfiel nur ein Drittel der in der iPod-Produktion insgesamt ausbezahlten Lohnsumme. Zwei Drittel der Summe blieben in den USA für besser dotierte Jobs wie Entwicklung und Marketing.

Welches Land wie stark von der Einbindung in Lieferketten profitiert, lässt sich also nicht nur an der Zahl der Arbeitsplätze oder am Exportvolumen messen. Mit jedem Produktionsschritt wird ein Computer, ein Handy oder ein Auto „wertvoller“, und entscheidend ist, welchen Anteil ein Land an dieser Wertschöpfung über die gesamte Lieferkette hat. In der Computer- und Elektronikindustrie hat China hier deutlich aufgeholt, während etwa Japan deutlich weniger an der Wertschöpfung teilhat als noch vor 15 Jahren. Die USA und Westeuropa hingegen mögen zwar viele Arbeitsplätze verloren haben, ein großer Teil der Wertschöpfung in der Elektronikindustrie findet trotzdem weiter bei ihnen statt (Grafik 5).

Die Weltbank ist ganz euphorisch, wenn es um die Chancen geht, die Entwicklungsländer aus der Einbindung in Lieferketten ziehen können. In der für sie typischen hoch abstrakten Art rechnet sie vor, dass Wertschöpfungsketten armen Ländern viel mehr bringen als der Handel mit Fertiggütern: mehr und bessere Jobs, mehr Technologietransfer, schnelleres Wirtschaftswachstum. Laut Weltbank findet der größte Entwicklungssprung – gemessen am Pro-Kopf-Einkommen – dann statt, wenn ein Land vom Rohstoffexport (erste Stufe) in die Herstellung einfacher Vorprodukte (zweite Stufe) einsteigt. Dann wachse in den ersten fünf Jahren das Pro-Kopf-Einkommen im Durchschnitt um insgesamt gut ein Viertel, heißt es im Weltentwicklungsbericht 2020. Mit jedem weiteren Aufstieg in der Wertschöpfungskette wächst demnach das Pro-Kopf-Einkommen weiter, aber langsamer (Grafik 6).

Die Weltbank benennt aber auch deutlich Risiken einer Entwicklungsstrategie, die auf Lieferketten setzt. Die kann nämlich in einer Sackgasse enden, wenn ein Land die zweite Stufe erklommen hat und einfache Vorprodukte herstellt, von dort aber nicht weiterkommt. Kambodscha ist ein Beispiel dafür: Das Land ist seit zwei Jahrzehnten auf niedriger Stufe in Wertschöpfungsketten der internationalen Textilindustrie eingebunden und schafft es nicht, weiter nach oben zu klettern. In einem solchen Fall besteht laut Weltbank die Gefahr, dass das Bildungssystem ebenfalls in eine Sackgasse gerät: Aus- und Fortbildung für höher qualifizierte Jobs werden vernachlässigt oder nicht mehr nachgefragt, weil im Land damit ohnehin kein Einkommen erzielt werden kann. Das Bildungssystem „spezialisiert“ sich auf niedrig qualifizierte Tätigkeiten, was wiederum die Chancen verschlechtert, dass das Land in der Lieferkette nach oben steigt – ein Teufelskreis.

Dass es nicht so kommen muss, hat Taiwan vorgemacht: Das Land hat sich mit einer klugen Industrie-, Forschungs- und Bildungspolitik in der Wertschöpfungskette der Elektronikindustrie ganz nach oben gearbeitet. Aus einigen Zulieferbetrieben, die Computer und Mobiltelefone für Unternehmen aus dem Westen hergestellt haben, sind mittlerweile eigene Markenfirmen wie Acer oder HTC hervorgegangen.

Je höher ein Unternehmen in der Wertschöpfungskette steht, desto größere Gewinne zieht es daraus, zeigt die Weltbank im Weltentwicklungsbericht 2020 am Beispiel der Textilindustrie. Unterm Strich begünstige die globalisierte Arbeitsteilung deshalb die Entstehung von „Superstarfirmen, die Superstarprofite erzielen und den Markt dominieren“, wie es in dem Bericht heißt. Und die Staaten geraten unter Druck, diesen Firmen günstige Bedingungen zu bieten, nicht zuletzt in Gestalt niedriger Unternehmenssteuern (Grafik 7).

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erschienen in Ausgabe 3 / 2020: Schuften für den Weltmarkt
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