Die Armen müssen sich selbst schützen

Raull Santiago

Eure Gesundheit ist wichtig: Eine Initiative ruft die Bewohner des Armenviertels Alemão in Rio de Janeiro dazu auf, zu Hause zu bleiben.

Coronavirus in Brasilien
In Brasiliens Favelas können sich die Menschen kaum vor der Corona-Epidemie schützen und verlieren zudem ihr Einkommen. Die Regierung hilft ihnen bisher kaum, doch viele organisieren Aufklärung und Notmaßnahmen selbst.

Als am 26. Februar in Brasilien der erste Fall einer Corona-Infektion registriert wurde, fiel dortigen Fachleuten für öffentliche Gesundheit etwas Neues auf. Es war nicht das Verhalten des Virus im heißen Klima des Landes – es waren die Slumsiedlungen (Favelas). Hunderttausende leben da in Behausungen mit nur einem Raum und ohne vernünftige Wasserversorgung; im ganzen Land sind es laut der nichtstaatlichen Organisation Central Única de Favelas insgesamt 13,6 Millionen Menschen. Sie können ohne Hilfe vom Staat nicht selbst in Quarantäne gehen, weil sie an einem Tag, an dem sie kein Geld verdienen, abends auch kein Essen kaufen können. Das sind beste Voraussetzungen für den Ausbruch der Seuche.

„Wenn in meiner Familie jemand mit Covid-19 infiziert ist, wie soll ich die Person isolieren? Mein Haus hat nur ein Zimmer“, sagt der Straßenhändler Alex Carlo. Im Haus in der Favela Monte Azul in São Paulo lebt er zusammen mit seiner Frau, neun Kindern und einer Enkelin. „Die Reichen haben alles zu Hause: Gesichtsmasken, Desinfektionsgel, Nahrungsmittel“, sagt er während einer Pressekonferenz der Agência  Mural de Jornalismo des Periferias, einer Agentur für Berichte vom Rand der Gesellschaft. „Wenn ich nicht jeden Tag rausgehe und meine Süßigkeiten verkaufe, haben meine Kinder nichts zu essen. Ich habe keine Reserven, nicht einmal für eine Woche.“

Der erste Fall von Covid-19 in einer Favela wurde am 22. März in Ciudade de Deus registriert, einem der größten Slums von Rio de Janeiro, und laut der kommunalen Gesundheitsbehörde dort bestand ein Verdacht auf weitere 61 Fälle. Vier andere Infektionen sind seitdem aus den Favelas Manguinhos, Parada de Lucas und Vigidal gemeldet worden. Die Gesundheitsbehörden in anderen Teilen des Landes haben die Zahl der Fälle in Slums noch nicht veröffentlicht.

Tests nur bei schweren Fällen

Am 30. März gab es in Brasilien 4362 bestätigte Fälle von Covid-19 mit 141 Toten. Aber nur bei einem von zehn Menschen in Brasilien, die infiziert sind und Symptome haben, wird die Krankheit auch diagnostiziert, heißt es in einer am 22. März publizierten Studie der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Es wird nur sehr begrenzt getestet, nur in schweren Fällen.

Autorin

Sarah Fernandes

ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.
„Wir fürchten, viele in den Slums werden sterben“, sagt der populäre Journalist Gisele Alexandre. Er lebt in Capão Redondo, einem der ärmsten Viertel von São Paulo, wo am 24. März Quarantäne verordnet worden ist. „Wer einen Arbeitsvertrag hat, bekommt weiter das Gehalt, aber die meisten aus den Favelas arbeiten informell. Die Armut wird zunehmen. Und es ist schwierig, Ansteckungen zu vermeiden. Uns fehlt schon das Wasser. Wie können wir das Virus aufhalten, wenn wir uns nicht einmal die Hände waschen können?“

Besonders gefährdet sind Leute wie die Verkäuferin Georgina Nascimento aus dem Slum Recanto dos Humildes in São Paulo. Sie ist 62 Jahre alt, hat kein festes Einkommen und betrieb in ihrer Wohnung einen Gebrauchtkleiderhandel, der nun geschlossen ist. „Daraus stammte das einzige Einkommen für meinen Mann und mich. Wir haben seit unserer Kindheit gearbeitet, aber ohne Registrierung, deshalb können wir nicht aufhören und in Rente gehen.“

Falschinformationen richtigstellen

Während vom Staat nur sehr langsam Hilfe kommt, organisieren sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas selbst, um die Folgen der Epidemie abzumildern. Eine der wichtigsten Strategien dafür ist Kommunikation. 43 Kollektive von Bürgerjournalistinnen und journalisten aus den Vorstädten von elf brasilianischen Bundesstaaten haben sich zusammengetan, um Informationen über die Pandemie dahin zu bringen, wo sie vielfach nicht hinkommen.

Neben Berichten, die sie in Textform auf den Websites der Organisationen und in sozialen Medien verbreiten, produzieren die Journalisten auch drei tägliche Podcasts über das Corona-Virus. Sie stellen Falschinformationen richtig und leiten an, wie man der Infektion vorbeugt. „Das ist das beste Format, denn es erreicht die Bevölkerung sehr einfach über WhatsApp“, sagt Gisele Alexandre, ein Mitglied des Journalisten-Netzwerks. Eine Gruppe von Grafikerinnen hat zudem freiwillig Flyer produziert, die für kleine Firmen in den Favelas werben, damit die nicht Pleite gehen.

„Viele Menschen in den Slums haben nur schlecht Zugang zu Internet oder Fernsehen, Nachrichten erreichen sie nur spät. Deshalb haben wir an den Zugangsstraßen der Favelas Banner aufgehängt mit Sätzen wie ‚Wenn Du zu Hause Wasseranschluss hast, teile ihn mit Deinen Nachbarn‘“, erklärt der Menschenrechtsaktivist Raull Santiago. Er wohnt im Alemão-Komplex, einer der größten Ansammlungen von Slums in Rio de Janeiro mit über 150.000 Einwohnern. „Wir haben an Apotheken und den Ständen von Motorradtaxis Poster aufgehängt und lassen ein Auto mit Lautsprechern den ganzen Tag herumfahren und Informationen verbreiten.“

Örtliche Quarantänevorschriften abgeschwächt

Eine andere Sorge gilt der Versorgung mit Essen. Mehrere nichtstaatliche Organisationen haben Spenden von Grundnahrungsmitteln gesammelt und in den Favelas verteilt, ebenso wie Wasser, Seife und Desinfektionsgel.

Die meisten Bundesstaaten Brasiliens haben eine Quarantäne verhängt, um den Anstieg der Zahl der Infizierten zu verlangsamen. Aber Präsident Jair Bolsonaro hat am 24. März in einer Erklärung die Auswirkungen des Virus heruntergespielt und die Menschen aufgefordert, ihre normale Beschäftigung wieder aufzunehmen, damit die Wirtschaft nicht leidet. Seitdem sind örtliche Quarantänevorschriften abgeschwächt worden.

Die Regierung hat noch keine Maßnahmen ergriffen, um den Bewohnern der Favelas in der Epidemie zu helfen. Im Parlament ist ein Notprojekt auf dem Weg, das allen informell Beschäftigten drei Monate lang umgerechnet 107 Euro pro Monat auszahlen soll, das entspricht 60 Prozent des Mindestlohns. Die Verwaltungen von Bundesstaaten und Kommunen prüfen Vorschläge, Bewohner der am stärksten gefährdeten Slums in Hotels oder auf Schiffen der Kriegsmarine zu isolieren.

Derweil sagen 70 Prozent der Familien in den Favelas, dass ihr Einkommen sich wegen der Pandemie bereits verringert hat – so ein Ergebnis einer Umfrage unter 1142 Bewohnern von 262 Favelas aller Landesteile im März. Fast zwei Drittel der Befragten erklärten, ihre Ernährung werde sich verschlechtern, wenn sie in Quarantäne gehen müssten. Fast die Hälfte der Befragten arbeitete informell, zum Beispiel als Hausmeister, Straßenverkäuferin oder Abfallsammler.

 „Wir machen Druck, damit das Parlament einem Grundeinkommens-Projekt für die Menschen in den Favelas zustimmt“, sagt Santiago. „Und wir wollen, dass für die Dauer der Epidemie niemandem Wasser oder Strom abgestellt werden, weil es nicht bezahlt wird. Das Virus macht unübersehbar deutlich, wie schwerwiegend die soziale Ungleichheit in Brasilien ist und wie viele Menschen hier noch extrem arm sind. Sie sind der Pandemie schutzlos ausgesetzt. Wenn das Virus die Favelas erreicht und es keine Vorkehrungen für Quarantäne gibt, bekommen wir eine extrem ernste Gesundheitskrise.“

Aus dem Englischen von Bernd Ludermann.

Mehr Berichte zu den Auswirkungen der Pandemie in verschiedenen Ländern finden Sie in unserem Corona-Dossier

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