„Eine eher pragmatische Politik“

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Bolivien
Die Politikwissenschaftlerin Aline-Sophia Hirseland erklärt, was den neuen Präsidenten Boliviens Luis Arce von seinem Vorgänger unterscheidet und welche Wirtschaftspolitik er verfolgt.

Aline-Sophia Hirseland ist Politikwissenschaftlerin und hat am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien zum Wahlverhalten ethnischer und religiöser Minderheiten in Lateinamerika geforscht.

Vor zwei Wochen haben die Bolivianer mit unerwartet klarer Mehrheit den Linken Luis Arce zum Präsidenten gewählt. Arce war Wirtschaftsminister unter Evo Morales gewesen; Morales wurde vor einem Jahr nach einer umstrittenen Wahl abgesetzt, es folgte eine Übergangsregierung. Bedeutet die Wahl von Arce die Rückkehr zu stabilen politischen Verhältnissen?
Das Land ist ja nicht erst seit einem Jahr politisch gespalten, sondern war es auch schon vor und während der Morales-Regierung. Natürlich hat Arce versprochen, der Präsident aller Bolivianer und Bolivianerinnen zu sein und alle Interessen zu berücksichtigen – aber so etwas sagen ja viele Präsidenten nach ihrer Wahl. Es könnte aber tatsächlich sein, dass er weniger polarisiert und eine breitere Identifikationsfläche bietet, weil er anders als Morales kein Indigener, sondern gemischter Abstammung ist. Er gehört der urbanen Mittelschicht an und hat vielleicht einen anderen Zugang zu den Wählern.

Was unterscheidet ihn sonst von seinem Vorgänger?
Er ist nicht auf dem Land aufgewachsen wie Morales. Er ist formal hoch gebildet, hat in Großbritannien studiert. Und er ist nicht so stark in den sozialen Bewegungen verwurzelt. Seine Politik ist eher pragmatisch, was er zuvor schon als Wirtschaftsminister bewiesen hat.

Wie viel Einfluss hat Morales auf Arce? Immerhin hat er dessen Kandidatur unterstützt.
Politisch steht Arce hinter dem Kurs von Morales. Aber er hat wiederholt betont, dass Morales nicht Teil der Regierung sein wird, auch wenn die Gerichte nun den Haftbefehl gegen Morales fallengelassen haben und damit den Weg für dessen Einreise aus dem Exil freigemacht haben. Ich glaube, die Abgrenzung von Morales war ein wichtiges Zeichen, weil sich viele Bolivianer einen echten demokratischen Wandel gewünscht haben.

Was bedeutet es für die Partei Movimiento al Socialismo (MAS), dass sie nicht mehr von einem Indigenen angeführt wird?
Die MAS war in der Vergangenheit so erfolgreich, weil sie es geschafft hat, viele Bevölkerungsgruppen einzubinden, nicht nur die verschiedenen indigenen Gruppen. Für die war Morales eine wichtige Identifikationsfigur, gerade weil die Politik in Bolivien sehr personalisiert ist. Zugleich hat sich die MAS unter Morales oft über die Interessen von Indigenen hinweggesetzt und Klientelpolitik betrieben. Deshalb gab es zuletzt auch viel Kritik indigener Vertreter an der MAS.

Trotzdem hat die MAS bei dieser Wahl mit gut 55 Prozent der Stimmen ein besseres Ergebnis erzielt als vor einem Jahr unter Morales.
Eine Rolle spielt sicher die Enttäuschung gegenüber der Übergangsregierung, die von den rechten Parteien gestützt wurde. Sie war nicht mit einer Wahl demokratisch legitimiert und hat viele Fehler gemacht. Es gab zum Beispiel einen Korruptionsskandal im Gesundheitsministerium – und das mitten in der Corona-Pandemie. Auch dass die Übergangsregierung Ärzte aus Kuba aus ideologischen Gründen des Landes verwiesen hat, kam nicht gut an. Die Mehrheit lehnt die alte konservative Elite Boliviens ab, die ganz offen ihre eigenen Interessen verfolgt. Die MAS hat eine neue Elite hervorgebracht, der offenbar eher zugetraut wird, die Interessen verschiedener sozialer Gruppen zu befriedigen. Arce hat als Wirtschaftsminister ja einiges erreicht: Er hat mit den Erlösen aus dem Export von Rohstoffen Sozialprogramme aufgelegt und viele kleine Projekte auf dem Land angestoßen, zum Beispiel den Bau von Straßen oder Wasserleitungen. Und er hat es geschafft, dass die extreme Armut von rund 40 Prozent auf knapp unter 20 Prozent halbiert wurde.

Zuletzt ist die Wirtschaft in Bolivien eingebrochen, auch aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie. Welche Ideen hat Arce als Präsident, um wieder für Aufschwung zu sorgen?  
An der jetzigen Situation wird er nicht viel ausrichten können. Sie hat strukturelle Ursachen, etwa den hohen Anteil informell Beschäftigter, die ihre Arbeit verloren haben. Grundsätzlich hat Arce angekündigt, weniger Rohstoffe exportieren zu wollen, auch um sich unabhängiger von den Weltmarktpreisen zu machen. Stattdessen will er die Industrialisierung vorantreiben. Das ist eine gute Idee, aber braucht natürlich viel Zeit.

Ein Beispiel dafür wäre ja das Vorhaben, die Lithium-Vorkommen direkt vor Ort in Bolivien zu verarbeiten. Dazu gab es bereits ein Abkommen mit einer deutschen Firma, das derzeit auf Eis liegt. Könnte das nun wieder aufgenommen werden?
Das ist gut möglich. Die deutsche Firma, die daran beteiligt ist, scheint zumindest optimistisch zu sein. Ein Problem war wohl die lange Laufzeit des Abkommens von über 70 Jahren sowie Proteste von Umweltaktivisten. Die Bolivianer sind sehr vorsichtig geworden, was die Abkommen mit großen ausländischen Unternehmen angeht, weil sie damit in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vermutlich wird da nochmal nachverhandelt.  

Was bedeutet der wirtschaftliche Kurs für den Umweltschutz?
Mein Eindruck ist, dass die MAS gerne von der „Mutter Erde“ und Umweltschutz spricht, um damit indigene Gruppen auf dem Land zu bedienen. Aber das war bislang vor allem Rhetorik. Arce hat nun auch wieder mehr Umweltschutz versprochen. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig, weil es vor allem nach den vielen Waldbränden in den vergangenen beiden Jahren große Proteste gegeben hat. Bisher habe ich aber nicht den Eindruck, dass die MAS ein durchdachtes Konzept für Umwelt- und Klimaschutz hat.

Das Gespräch führte Sebastian Drescher.

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