Die Wächter des Waldes

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Bachchan Kumar/Hindustan Times  Via Getty Images 
Adivasi zelebrieren 2019 in Neu-Mumbai den Tag der indigenen Völker. Wälder sind für viele von ihnen Lebensraum, Nahrungsquelle und Apotheke. 
Adivasi in Indien
In Indien leben die indigenen Adivasi vorwiegend in Waldgebieten. Illegale Abholzungen und Zwangsumsiedlungen nehmen ihnen Lebensraum und laufen dem Klima- und Artenschutz zuwider. 

Wer an Indien denkt, denkt meist nicht unbedingt an „Wälder“. Doch mit seinen Zehntausenden Tier- und Pflanzenarten zählt das größte Land Südasiens zu den 17 „megadiversen“ Staaten der Welt. Wälder sind über Jahrhunderte hinweg ein bedeutender Teil der Geografie und Geschichte Indiens gewesen und dienen den Indigenen, den Adivasi, als wichtiger Lebensraum. Doch da Indien nach wie vor auf schnelles Wirtschaftswachstum setzt, sind die dichten Wälder des Landes und die Menschen, die von ihnen abhängen, zunehmend bedroht.

Zwischen den gewaltigen Bergen des Himalayas und dem trockeneren Süden ist nahezu ein Viertel der Landesfläche von Wald bedeckt; darunter finden sich tropische Wälder ebenso wie Bergwälder. Sie spielen eine zentrale Rolle für die Artenvielfalt. Vor der Corona-Pandemie wuchs der Tourismus in den Wildparks jedes Jahr um 15 Prozent, weil Besucher hofften, Tiere wie den gefährdeten bengalischen Tiger, den asiatischen Löwen oder den Lippenbär zu sehen. In diesen Wäldern finden auch die Adivasi – der Begriff bedeutet „ursprüngliche Einwohner“ – Lebensräume, Nahrung und Medizin. Es gibt mehr als 700 verschiedene Stammesgruppen, die zusammen mindestens acht Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Mit Pflanzen gegen Bronchitis und Diabetes

Die meisten Adivasi leben in den Wäldern. Ihre Häuser bauen sie häufig aus Lehm, womöglich verwenden sie auch Bambus und Holz. Diese tragen dazu bei, die Behausungen in den warmen und feuchten Sommern kühl zu halten. Waldbewohner gehen fischen und nutzen Bäche für die Wasserversorgung, sie jagen zahlreiche Tiere, von wilden Hasen bis hin zu Schweinen. Außerdem sammeln sie im Wald Früchte und Nüsse, Gemüse und Kräuter. 

Vasavi Kiro ist Mitglied einer Adivasi-Gemeinschaft namens Oraon im östlichen Bundesstaat Jharkhand, was „Land der Wälder“ bedeutet. Sie ist eine der Gründerinnen der Organisation „Torang Trust“, die versucht, althergebrachtes Wissen und traditionelle Lebensformen der Adivasi-Gemeinschaften zu erhalten und zu fördern. Sie beschreibt sich selbst als Autorin, Kämpferin und überzeugte Verfechterin einer „Ethnomedizin“, die aus Pflanzen gewonnen wird, welche die Adivasi für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden nutzen. In Indien werden mit diesen Pflanzen so vielfältige Leiden wie Ruhr, Bronchitis, Geschwüre, Ekzeme und Diabetes kuriert.

Kiro interessiert sich vor allem für den gesundheitlichen Effekt zweier Blüten: Mahua und Dhawai. Mahua ist eine süße Blüte, die in Stammesregionen üblicherweise zu Alkohol destilliert wird. Darüber hinaus ist diese Pflanze laut Kiro „unglaublich bei der Behandlung von Blutarmut“. Dhawai wiederum sei ein „Wunder für Menschen, sie gibt uns Kraft.“ 

Religiöse Verehrung von Naturgeistern

Der Respekt für die Natur leitet sich oft von einer religiösen Verehrung von Naturgeistern ab. Viele Adivasi betrachten sich nicht als Vertreter des Hinduismus, der Mehrheitsreligion in Indien. Stammesgruppen aus Jharkhand haben sich sogar dafür eingesetzt, „Sarna“ oder die Naturreligion im indischen Zensus im Jahr 2021 als eigenständige Kategorie einzuführen. Debjeet Sarangi ist einer der Leiter der gemeinnützigen Organisation „Living Farms“ im Bundesstaat Odisha und arbeitet eng mit der Stammesgemeinschaft der Kondh zusammen. Er verbringt viel Zeit mit ihnen in den Wäldern. Mit ihren Riten und Festen riefen sie die Geister des Meeres und des Landes an, sagt Sarangi. Und ergänzt: „Sie kommunizieren mit dem Wald, als sprächen sie mit dir oder mit mir.“ Aufgrund dieser Beziehung achte die Gemeinschaft darauf, den Wald nur so weit zu nutzen wie nötig. 

In Anbetracht ihres großen Wissens und der Verantwortung, die sie für den Wald übernehmen, sollten Adivasi-Gemeinschaften und Umweltschützer natürliche Verbündete sein. Doch leider haben Umweltschützer dieses Potenzial in der Vergangenheit nicht immer erkannt. Jahrzehntelang setzten sie sich für einen stärkeren Schutz gefährdeter Tierarten ein und unterstützten das „Projekt Tiger“ der Regierung, welches die Tigerpopulation vergrößern soll. Viele Naturschützer sehen es nicht gern, wenn Adivasi in den gleichen Bereichen wie Tiger leben, und haben schon versucht, Stammesgemeinschaften aus diesen Gebieten zu verbannen – und dies, obwohl laut einer Studie die Zahl der Tiger in einem Schutzgebiet zunahm, in dem auch Adivasi leben. 

Autorin

Namrata Kolachalam

ist Autorin und lebt in Mumbai, Indien.
Eine noch größere Bedrohung für die Adivasi und ihre traditionelle Lebensweise geht jedoch von kommerziellen Interessen aus. Vor allem kommerzielles und illegales Fällen von Bäumen hat laut der Monitoring-Plattform „Global Forest Watch“ dazu geführt, dass die Wälder in mehreren indischen Bundesstaaten geschwunden sind. In Nagaland zum Beispiel, wo sehr viele Adivasi leben, ging der Waldbestand zwischen 2001 und 2018 um 200.000 Hektar zurück. Das entspricht einem Verlust des Waldes um 15 Prozent seit dem Jahr 2000. Der Bergbau stellt ein weiteres ernsthaftes Problem dar: Mehr als 65 Prozent seines Stroms gewinnt Indien mithilfe von Kohle, die überall im Land gefördert wird. Schätzungsweise 70 Prozent der indischen Kohlereserven liegen in drei Bundesstaaten, in denen mehr als 26 Millionen Adivasi leben. Darum werden Adivasi-Gemeinschaften in der Nähe von Kohleminen immer wieder Opfer von Zwangsräumungen.

Auch der Bau von Staudämmen und der Tourismus tragen dazu bei, dass Adivasi Wald verlieren. Der Adivasi-Mann Dombo, der in der kleinen Stadt Araku im südöstlichen Bundesstaat Andhra Pradesh wohnt, lebte noch vor 15 Jahren mit seiner Familie in den Wäldern. Dort jagten sie wilde Hühner und kochten im hohlen Inneren von Bambusrohr. „Damals war diese Gegend noch nicht so entwickelt“, sagt er. In den vergangenen Jahren aber ist er mit seiner Familie in die Stadt beziehungsweise an den Waldrand gezogen. Das liegt an den Baufirmen, die Araku gegenwärtig in ein Touristenziel verwandeln.

Adivasi werden überall in Indien übergangen

Laut dem aktuellen Waldzustandsbericht des Landes hat sich die Waldfläche durch verbesserte Schutzmaßnahmen, Aufforstungsbemühungen und Agroforstwirtschaft seit 2017 um mehr als 5000 Quadratkilometer vergrößert. Der Langzeittrend ist jedoch weniger ermutigend. „Global Forest Watch“ stellt fest, „dass Indien seit 1980 15.000 Quadratkilometer forstwirtschaftliche Fläche in Entwicklungsfläche umgewidmet hat und dass der Großteil davon seit dem Jahr 2000 verloren gegangen ist“. 

Laut einem Bericht von „Amnesty International“ zum Kohleabbau aus dem Jahr 2016 werden Adivasi überall in Indien vielfach übergangen, wenn es um die Nutzung von Waldflächen geht. Wurde die Zwangsräumung einmal durchgesetzt, erhalten sie kaum Entschädigungen, und es kann Jahre dauern, bis eine Umsiedlung stattfindet. Der Bericht stellt fest, dass Adivasi „unverhältnismäßig unter entwicklungsbedingter Vertreibung und Umweltzerstörung leiden“.

Während Adivasi zu Millionen aus ihren Lebensräumen vertrieben wurden, gibt es auch beeindruckende Beispiele von Gemeinschaften, die sich widersetzt und gemeinsam für den Erhalt ihrer Waldflächen eingesetzt haben. Einer der erfolgreicheren Proteste der jüngeren Vergangenheit fand in Mumbai statt, und er steht modellhaft dafür, wie sich Adivasi und Umweltschützer für gemeinsame Ziele zusammentun können. Der nordöstliche Zipfel der Stadt heißt Aarey Colony, es ist ein lebendiger städtischer Wald und einer der letzten grünen Flecken in Mumbai. Die Adivasi-Gemeinschaft der Warli lebte über Generationen hinweg in diesen Wäldern, den „grünen Lungen“ Mumbais. Hier wurde nach 130 Jahren der erste bodenbewohnende Gecko entdeckt, und auch einige Leoparden, die unter Schutz stehen, leben in diesem Gebiet. Die Warli-Gemeinschaft wurde routinemäßig umgesiedelt, ihr Bereich wurde immer kleiner. Denn Mumbai baute hier einen Teil seines Filmstudio-Komplexes, in dem viele Bollywood-Filme produziert werden. In den vergangenen Jahren hat die Regierung des Bundesstaates angekündigt, 2500 Bäume fällen zu wollen: zugunsten eines Fahrzeugdepots für die Metro der Stadt, die gerade gebaut wird.

Erfolgreicher Protest: Adivasi und andere Gruppen demonstrieren 2019 gegen den Bau eines Fahrzeugdepots für die Metro in Mumbai. Das Projekt wurde seitdem fallen gelassen.

Tausende Menschen protestierten gegen die Entscheidung der Regierung, ungefähr 3500 Adivasi-Familien zu vertreiben und diesen grünen Lebensraum zu zerstören. Der bekannte indische Umweltschützer Stalin Dayanand kämpfte jahrelang für den Erhalt dieses Gebiets. „Es war eine Volksbewegung im wahrsten Sinne des Wortes“, erzählt er. „Als die Bäume gefällt werden sollten, waren die Adivasi die Ersten, die kamen und den Einschlag stoppten. Sie führten den Protest an, und wir, die keinem Stamm angehören, standen mit ihnen zusammen.“ Die Adivasi hätten die anderen Protestierenden zu sich nach Hause eingeladen. „Wir konnten somit allen zeigen, dass es indigene Gemeinschaften gibt, deren Existenz von der städtischen Lebensweise in Mumbai nicht berührt wird – und dass sie für sich im Wald bleiben wollen.“ Als 2019 eine neue Regierung des Bundesstaats gewählt wurde, gaben die Verantwortlichen die Idee, Aarey Colony zu entwickeln, offiziell auf. Für die Adivasi-Gemeinschaft war das ein großer Sieg.

Vereinzelte Erfolge, enttäuschte Hoffnungen

Solche vereinzelten Erfolge werden zwar als sehr bedeutsam empfunden, aber sie bleiben hinter vielen Hoffnungen zurück. Diese wurden geschürt, als Indien 2006 ein beispielloses Gesetz zum Schutz von Stammesgesellschaften verabschiedete. Mit dem Waldgesetz sollte die „historische Ungerechtigkeit“, der Adivasi-Gemeinschaften ausgesetzt waren, korrigiert werden. Das Gesetz erkannte das Recht indigener Gemeinschaften auf Ressourcen des Waldes sowie auf Land an. Dem Sozialaktivisten C. R. Bijoy zufolge, der mit Adivasi arbeitet, ist es in mancherlei Hinsicht die „fortschrittlichste Gesetzgebung der Welt“, weil sie darauf abziele, mehr als 104 Millionen Menschen besserzustellen. 

Das Gesetz befähigt Adivasi individuell und kollektiv dazu, Anspruch auf Besitz und Nutzung von Land zu erheben. Obwohl Adivasi-Gemeinschaften seither solche Ansprüche erhoben haben, konnten tatsächlich nur sehr wenige von dem Recht Gebrauch machen, das ihnen in Aussicht gestellt worden war. Ein paar Staaten haben sich Zeit gelassen, das Waldgesetz anzuerkennen. So etwa Himachal Pradesh, wo 2018 – zwölf Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes – nur 136 von 2223 Ansprüchen geregelt waren. Insgesamt wurden nur drei bis fünf Prozent der Anträge auf Land anerkannt.

Die Hauptursache hierfür liegt Bijoy zufolge in Konflikten zwischen dem Umweltministerium und dem Ministerium für Stammesangelegenheiten. Das Waldgesetz verleiht Stammesgesellschaften einige Macht, aber die einflussreichen, staatlichen Waldbehörden haben ein ausgeprägtes Interesse daran, die Kontrolle über das Land in ihrem Besitz zu behalten – statt es den Adivasi zu überlassen. Bei der Prüfung von Ansprüchen auf Land gab es beträchtliche Fehler in der Bürokratie – genauso wie Regierungsbeamte, die nach Dokumenten verlangten, die das Waldgesetz gar nicht erfordert. 2019 urteilte der Oberste Gerichtshof, dass mehr als eine Million Adivasi aus ihren Behausungen zwangsgeräumt werden sollten, weil ihre Ansprüche durch das Waldgesetz nicht gedeckt seien. Adivasi kämpfen weiterhin für ihr Recht, dort leben zu können. Dabei sehen sie sich aber dem Druck der Regierung ausgesetzt, von ihren Forderungen Abstand zu nehmen und sich an einem anderen Ort niederzulassen.

Die Bräuche der Adivasi kommen dem Wald eher zugute, als dass sie ihn beanspruchen, und letztlich schützen sie sogar die Artenvielfalt. Die Wälder, für die sich die Adivasi einsetzen, spielen eine bedeutende Rolle für die Wirtschaft des Landes, und sie bieten einen Schutz gegen den Klimawandel. Global Forest Watch ermittelte, dass der Verlust von Bäumen in Indien dieselbe Menge an Emissionen freisetzt wie der Verbrauch von fünfzehn Millionen Kubikmetern Kraftstoff. Vasavi Kiro ist angesichts der Zerstörung des Waldes besorgt. Wälder seien wichtig, um Menschen vor Krankheiten zu schützen, zudem böten sie Nahrung und einen Lebensraum. „Ohne die Wälder nehmen viele Probleme ihren Lauf“, sagt sie. 

Aus dem Englischen von Christine Lauer.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2021: Abholzen, abbrennen, absperren
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