Leben aus eigener Kraft

Khalid Al-Banna
Dheya Al-Deen Ghaleb näht Ledertaschen – und die Nachfrage danach ist gestiegen, weil Importe aus China stocken.
Jemen
Durch den Krieg ist im Jemen die Zahl der Menschen mit Behinderungen enorm gestiegen. Umso wichtiger ist es, ihnen ein selbstständiges Leben zu ermöglichen.

Dheya Al-Deen Ghaleb arbeitete als Elektriker, bevor in seinem Heimatland Jemen der Krieg ausbrach. Mit seinem Job konnte der 41-Jährige sich, seine Frau und seine vier Kinder ernähren. Im März 2015, als der Krieg begann, floh er dann aus seinem Wohnort und zog zu seinen Eltern und Geschwistern in das Haus, in dem er aufgewachsen war, denn es lag in einer bis dahin sicheren Region. 

„Eines Tages im August, als ich auf dem Weg zum Markt war, tötete ein Granatenangriff ganz in meiner Nähe drei Menschen“, berichtet er gegenüber „welt-sichten“. Er selbst wurde, ebenso wie einige andere Menschen, verletzt und von Helfern ins Krankenhaus von Taiz gebracht. „Dort waren schon etliche Verletzte, denn in diesen Tagen wurde die Stadt häufig bombardiert.“ Als Ghaleb in den Operationsraum kam, blutete sein rechtes Bein sehr stark. Die Ärzte konnten die Wunde nicht behandeln und beschlossen, das Bein zu amputieren, um seinen übrigen Körper zu schützen. Seitdem kann Ghaleb nicht mehr als Elektriker arbeiten. Und doch braucht er dringend Arbeit, um für seine Familie zu sorgen. Einen passenden Arbeitsplatz zu finden, war für ihn eine enorme Herausforderung. 

Die Idee für Ghalebs Unternehmen stammt von seiner Frau

Vor dem Krieg hatte seine Frau ihm vorgeschlagen, lederne Tragetaschen zu schneidern. Damals war er aber glücklich mit seiner Arbeit als Elektriker. Nachdem er aber wegen seiner Behinderung zwei Jahre lang nicht arbeiten konnte, schlug sie ihm dieselbe Idee noch einmal vor, und diesmal war er einverstanden: „Es schien mir ein passender Job für einen behinderten Mann wie mich zu sein.“ Also verkaufte Ghalebs Frau ihren Schmuck, damit er das Geld für eine Nähmaschine und Leder zusammenbekam und das Gewerbe von einem Experten lernen konnte. 2017 eröffnete er zusammen mit seiner Frau einen eigenen Laden, in dem heute beide arbeiten. „Ich nähe die Taschen und sie kümmert sich um Accessoires wie Knöpfe und Dekorationen.“ 

Heute, vier Jahre später, ist Ghaleb ein Profi im Taschennähen. In der kriegsgebeutelten Stadt Taiz finden jeden Tag neue Kunden den Weg zu ihm. Er kannte keine Organisation und keine großzügigen Spender, die ihm auf seinem Weg halfen. Seine einzige Unterstützerin ist seine Frau, die ihn immer wieder neu dabei ermutigt, über seine Behinderung hinauszuwachsen. „Wir hatten Erfolg, ich beschäftige in meinem Shop bis zu fünf Arbeiter, die mir beim Nähen und beim Vertrieb helfen.“ Obwohl der Zusammenbruch der Währung Jemen-Rial sein Geschäft erschwert, reichen Ghalebs Einkünfte, um Arbeiter und Ladenmiete zu bezahlen sowie seine Familie zu ernähren. Er verkauft seine Taschen an die Läden der Innenstadt, hat aber auch Einzelkunden. Glücklich, dass sein Projekt so gut angelaufen ist, möchte er das Ganze in Zukunft gerne noch ausweiten. „Die Pläne dazu habe ich schon in der Schublade“, erzählt er. 

Vor dem Krieg lebten im Jemen zwei Millionen Menschen mit Behinderungen, im Jahr 2020 waren es mindestens 4,5 Millionen. Ghalebs Botschaft an sie lautet: „Verzweifelt nicht! Ihr könnt mit eurem Willen und eurer Entschlossenheit Verzweiflung und Frust bezwingen.“

Autorin

Amal Mamoon

ist Journalistin im Jemen.
Murtadha Al-Lateefi, der in seinem Geschäft in der Innenstadt von Taiz Schuhe und Taschen verkauft, hat über Kollegen von Ghalebs Taschenbetrieb gehört. „Normalerweise beziehe ich meine Taschen aus China“, berichtet der 32-Jährige. „Aber im Vorfeld des islamischen Opferfestes war die Nachfrage so groß, dass ich die angeforderten Schnitte und Farben an Ghaleb schickte – und er produzierte die gewünschten Taschen schnell und unkompliziert.“ Zudem sei es angesichts von Covid-19-Schutzmaßnahmen wie Flughafen- und Hafenschließungen momentan nicht einfach, Waren aus China einzuführen. Das dauere manchmal Monate. „Von örtlichen Herstellern dagegen bekommen wir ganz ähnliche Taschen innerhalb weniger Wochen.“

Noch schlimmer verletzt wurde Dalilah Abdu Ahmed. Sie lebte vor dem Krieg in einem kleinen Dorf im Regierungsbezirk Taiz. Ihre Familie lebte von Landwirtschaft, Viehzucht, Gemüseanbau und einem Laden für Propanzylinder. Die heute 30-Jährige kümmerte sich um den Verkauf von Gemüse und Gaszylindern. Als ihr Dorf 2015 immer wieder zum Schauplatz von Gefechten wurde, floh sie mit ihrer Familie und ließ all ihren Besitz hinter sich. 

Meist gibt es Nahrungsspenden statt Hilfe für eigene Projekte

Drei Jahre später, als es in der Region wieder ruhiger zuging, kehrten sie in ihr Dorf zurück. Dann hatte Ahmed ihr schlimmstes Kriegserlebnis. Als sie eines Morgens mit ihren Freundinnen loslief, um Wasser zu holen, trat sie auf eine Mine und verletzte sich ihre Beine schwer. Ahmeds Vater brachte sie ins Krankenhaus von Taiz – während der fünfstündigen Fahrt blutete sie unentwegt. Die Ärzte amputierten Ahmeds Beine, um ihren Rumpf zu retten. Seitdem kann sie sich nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen. 

Ahmed war es gewohnt, anderen zu helfen, sie selbst hatte noch nie jemanden um Hilfe bitten müssen. Sie wollte von niemandem abhängig sein und arbeitete verzweifelt daran, ein eigenes Projekt ins Leben zu rufen. „Eine örtliche Stiftung hat mir einen Container zur Verfügung gestellt und ich begann, von dort aus Waren wie Konservendosen, Wasserflaschen und Plastikspielzeug zu verkaufen“, sagt sie. Ein Jahr später half ihr eine andere Stiftung dabei, weitere Waren in ihr Angebot aufzunehmen. „Heute kann ich mit meinem Laden für mich und meinen Vater sorgen.“ 

Dalilah Abdu Ahmed kann sich nicht mehr ohne Hilfe fortbewegen – aber sie kann mit ihrem Verkaufsstand ihren Lebensunterhalt verdienen.

Es gibt mehrere örtliche und internationale Organisationen, die Menschen mit Behinderungen ab und an mit Essenskörben versorgen, berichtet Ahmed. Doch nur wenige von ihnen unterstützten Menschen mit Behinderungen bei ihren eigenen Projekten. „Ich wünsche mir, dass alle Menschen mit Behinderungen ihre Projekte aufziehen und unabhängig werden können. Sie sollen nicht darauf warten müssen, dass andere ihnen helfen.“

Nun wird sichtbar, welche ­Fähigkeiten Behinderte haben

Die humanitäre Krise im Jemen ist nach wie vor die schlimmste auf der Welt. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) schätzt, dass 80 Prozent der Bevölkerung des Jemen – 24 Millionen Menschen – auf humanitäre Unterstützung angewiesen sind, darunter 14,3 Millionen, die in akuter Not leben. Zwei Millionen Kinder sind akut mangel­ernährt. 

Die Zahl der Menschen mit Behinderungen im Jemen ist enorm gestiegen, vor allem in Konfliktregionen wie der um Taiz. Der Psychologe Mamoon Mohammed sieht aber auch Zeichen der Hoffnung: „Wenn ich durch die Innenstadt von Taiz gehe, sehe ich Menschen mit Behinderungen, die an verschiedensten Projekten arbeiten. Diese Entwicklung könnte eine neue Botschaft verbreiten: Behinderte sind nicht zwangsläufig abhängig. Sie können für sich und ihre Familien sorgen.“ Mohammed berichtet, dass einige dieser Menschen durch ihre Unternehmungen sogar andere in Lohn und Brot bringen und damit neue Einkommensquellen für Familien schaffen. 

Betrieben wie der Taschenschneiderei von Dheya Al-Deen Ghaleb wünscht er, „dass sie viel Unterstützung erfahren und die örtlichen Märkte so gut versorgen können, dass Jemen nicht mehr so viel aus dem Ausland importieren muss“.  Er selbst unterstützt Menschen mit Behinderungen, indem er so viel wie möglich bei ihnen kauft und sie in ihrem Tun ermutigt. „Und ich wünsche mir, dass Organisationen, die dem Jemen helfen, vorrangig Menschen mit Behinderungen unterstützen – so lange, bis sie sich und ihre Familien aus eigener Kraft ernähren können.“ 

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2021: Entwicklung wohin?
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