Das Heil aus den Anden

Sebastian Castaneda/Reuters
Die gläubigen Israelitas bringen einmal im Monat, hier im März 2020 außerhalb von Lima, Gott zwei Schafe zum Opfer – so wie es das Alte Testament vorschreibt. 
Israeliten
Angelehnt an Lehren des Alten Testaments hat der Bauer Ezequiel Ataucusi 1968 die „Mission der Israeliten des Neuen Bundes“ gegründet. Sie hat eine politische Partei hervorgebracht, die erste Erfolge errungen hat. 

Jeden letzten Samstag im Monat treffen sich Hunderte von Menschen in Cieneguilla in den Bergen vor Lima zu einem Ritual, das direkt aus einer Verfilmung des Alten Testaments stammen könnte: Vor einem meterhohen Scheiterhaufen mitten in der Wüste beten und singen Männer mit langen Haaren und Bärten, gewandet in bunte lange Tunikas, sowie Frauen mit bunten Schleiern und langen Gewändern. Aus den aufgetürmten Holzscheiten steigt schwarzer Rauch. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Die Gläubigen der „Israelitischen Mission des Neuen Bundes“, kurz Israelitas (Israeliten) genannt, bringen ihrem Gott zwei Schafe zum Opfer – ganz so, wie es alttestamentarische Gebote vorschreiben. Sie singen dazu stundenlang mantraähnliche Lobpreisungen ihres Gottes. Die Einhaltung des Sabbats, des Samstags, ist eines der Hauptgebote der peruanischen Glaubensgemeinschaft. 

Auch Denisse Palomino zog einmal im Monat ihre blaue Tunika an, befestigte ihren weißen Schleier auf dem langen schwarzen Haar und machte sich auf den Weg nach Cieneguilla. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 wurden die öffentlichen Opferfeiern in Cieneguilla und die lokalen Gottesdienste aber eingestellt. „Ich verbringe den Samstag dann mit Gebet und Bibelstudium zu Hause und klinke mich per Facebook in den Gottesdienst und die Lobpreisungen ein“, erzählt die 25-jährige studierte Kommunikationsfachfrau. „Es ist wie bei einem normalen Gottesdienst, nur zu Hause.“ 

Denisse Palomino ist durch ihre Mutter in die israelitische Glaubensgemeinschaft hineingewachsen. Mit 16 Jahren hat sie aus eigenem Antrieb den Schleier angelegt – das äußere Zeichen, dass man zu den Israelitas gehört.  Die Frauen sind an ihrem Schleier und die Männer an ihren langen Haaren und Bärten sofort als Israelitas erkennbar. 

Während der Feldarbeit hatte Ataucusi ein Erweckungserlebnis

Die „Israelitische Mission des Neuen Bundes“ ist eine im Land entstandene christliche Kirche, zu der ungefähr 200.000 Menschen in ganz Peru gehören. Gegründet wurde sie 1968 von Ezequiel Ataucusi, einem Quechua sprechenden Bauern und Schuhmacher aus den Anden. Ataucusi war zuerst katholisch, danach Adventist und hatte 1956 sein Erweckungserlebnis: Während der Feldarbeit erschien ihm Gott und übergab ihm die Zehn Gebote, die er in aller Welt bekannt machen solle. Wenige Monate später hatte er eine weitere Erscheinung, die ihm gebot, seine Haare wachsen zu lassen. 

Ataucusi verließ die Adventisten, gründete seine eigene Kirche und begann eine rege Missionstätigkeit im ganzen Land. Besonders in der Hauptstadt Lima fand er viele Anhänger unter den Andenbewohnern, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Hauptstadt abgewandert waren und nun an den Rändern der Stadt ein kärgliches Leben fristeten. Die Kirche bot Identität und war eine praktische Solidargemeinschaft: Bis heute bringen die Gläubigen am Samstag Lebensmittel zum Gottesdienst mit, die danach billig weiterverkauft werden. 

Ezequiel Ataucusi (Mitte) zieht mit Anhängern 1995 durch die Stadt Ica, der Fisch ist das Zeichen seiner Partei. Die kann dann erst nach seinem Tod politische Erfolge feiern.

Die Lehre des Ezequiel Ataucusi nimmt Versatzstücke aus der Bibel – vor allem die Riten entsprechen dem Wortlaut des Alten Testaments – sowie aus der Lehre der Adventisten, etwa die Einhaltung des Samstags als heiligen Tag sowie einige Speisegebote. Ataucusi interpretiert Verse aus dem Buch des Propheten Isaias dahingehend, dass Peru das neue Israel des Okzidents sei und Gott hier seinen neuen Pakt geschlossen habe. Die Inka seien sogar einer der verlorenen Stämme Israels gewesen. Bis heute weht die Regenbogenfahne, die für das alte Inkareich Tawantinsuyo steht, über der Hauptkirche der Israeliten in Cieneguilla. 

Der Ethnologe Juan Ossio sieht die Israelitas in einer Linie mit der Tradition des Messianismus in den Anden. Verschiedene indigene Befreiungsbewegungen im Peru des 18. Jahrhunderts bezogen sich auf den Inkarri-Mythos, die Sage von der Wiederkehr des Inca. 

Nähe zur Politik

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Was aber die Lehre des Ezequiel Ataucusi so besonders macht, ist die Nähe zur Politik. 1984 gründete Ataucusi die Partei „Frente Popular Agrícola del Perú“, die „Landwirtschaftliche Volksfront Perus“, kurz FREPAP genannt.  Ihr Anliegen ist in erster Linie, die kleinbäuerliche Produktion zu steigern. Die Israelitas glauben, dass das Weltende nahe ist und sich mit Chaos und Misswirtschaft ankündigt. Da erscheint es fundamental, für genügend Lebensmittel zu sorgen, wenn sonst bald nichts mehr von der Zivilisation übrig ist. Das Parteizeichen war rasch gefunden: Ein blauer Fisch mit den Initialen FREPAP prangte seit den 1990er Jahren an den Häuserwänden so mancher Armenviertel Perus. 

Ataucusi trat 1990, 1995 und 2000 als Präsidentschaftskandidat an und erreichte nie mehr als ein paar wenige Prozent an Stimmen. Zweimal konnte die FREPAP einen bis zwei Abgeordnete stellen, aber meist wurde Ataucusi auf der nationalen politischen Bühne als erfolglose folkloristische Randfigur wahrgenommen. Ein anderes Bild bot sich in einigen Dörfern am Amazonas. Seit Gründung der Glaubensgemeinschaft hatte Ataucusi zur landwirtschaftlichen Besiedelung des Amazonasgebietes aufgerufen. Tausende seiner Anhänger folgten Ataucusis Ruf, abgelegene und dünn besiedelte Amazonasgebiete landwirtschaftlich ertragreich zu machen. In manchen Dörfern dort stellten sie bald die Mehrheit der Bevölkerung und konnten bei Bürgermeisterwahlen und Wahlen für den Gemeinderat Mehrheiten erringen. Bis heute sind Israelitas aus dem Straßenbild der Amazonas-Städtchen und -Dörfer nicht wegzudenken und wichtige Lieferanten für die lokalen Lebensmittelmärkte. 

Am 21. Juni 2000 war die Gemeinde der Israeliten in tiefster Trauer. Ihr Gründer, Prophet und Inkarnation des Heiligen Geistes Ezequiel Ataucusi war im Alter von 82 Jahren gestorben. Tagelang harrten die Israelitas vor seinem aufgebahrten Leichnam aus, viele warteten darauf, dass er von den Toten auferstünde. Doch Ezequiel blieb tot; sein Leichnam wurde einbalsamiert und in Cieneguilla aufgebahrt. 

Überraschender Wahlerfolg 

Vor seinem Tod hatte Ataucusi einen seiner jüngeren Söhne, Jonas Ataucusi, als Nachfolger eingesetzt. Doch der eher schweigsame Jonas ließ sich kaum vor seiner Gemeinde blicken; andere Brüder und ehemalige Mitstreiter bildeten daraufhin eigene Kirchen. Auch wenn man die Israelitas weiterhin auf den Straßen und Märkten vor allem der Armenviertel oder im Amazonasgebiet sah – aus dem öffentlichen Leben waren die FREPAP und die Israelitas in den nächsten Jahrzehnten so gut wie verschwunden. Es wäre nicht die erste Glaubensgemeinschaft, die den Tod einer charismatischen Gründerfigur nicht überlebt.

Doch die Israelitas und ihre Partei FREPAP sind heute alles andere als tot. Am 26. Januar 2020 wählten die Peruaner ein neues Parlament, nachdem der damalige Präsident Vizcarra nach jahrelanger Blockadepolitik das Parlament aufgelöst und Ersatzwahlen ausgerufen hatte. Die neuen Parlamentarier wurden nur für den Rest der Legislaturperiode gewählt, die am 28. Juli 2021 endete. Bei diesen Wahlen erhielt die FREPAP die drittmeisten Stimmen und konnte aus dem Stand 15 Abgeordnete ins Parlament schicken. 

„Wir waren sehr gut organisiert und haben gute Kampagnen an der Basis gemacht“, erklärt Denisse Palomino diesen überraschenden Wahlerfolg. „Die Leute kennen uns seit Jahren.“ Den Israelitas mit ihrem religiös begründeten Ethos trauten viele Peruaner offenbar einen sauberen Neustart im Parlament zu, das sich durch Korruptionsskandale und Vetternwirtschaft diskreditiert hatte. 

Abgeordnete mit Schleier und langen Haaren

Bald gewöhnten sich die Peruaner an die neuen Abgeordneten mit Schleier und den langen Haaren. Denisse Palomino wurde Pressereferentin eines der Abgeordneten und bekam einen guten Einblick in die Parlamentsarbeit, bis das Übergangsparlament nach eineinhalb Jahren schon Ende Juli 2021 zu Ende ging. „Wir haben keine persönlichen Motive, sondern wollen einfach die Lebensumstände der Menschen verbessern“, erklärt Palomino. 

Dass die Israelitas und ihre Partei sich trotz der Abwesenheit eines Führers erfolgreich halten konnten, führt Carlos Ráez auf das Ansehen des charismatischen Ezequiel Ataucusi zurück. Ráez hat in seiner ethnologischen Diplomarbeit das Leben der Israelitas in den Jahren 2011 bis 2014 untersucht und viele Innenansichten der ansonsten eher verschlossenen Glaubensgemeinschaft gewinnen können. „Viele Anhänger finden, dass die von Ataucusi hinterlassenen Reden und Schriften genügend Grundlage bilden und die Anwesenheit eines Nachfolgers nicht nötig ist“, meint Ráez. 

Gildomero Gomez, ein Mitglied der Israelitas, vollzieht eine Heilungszeremonie an einem an Covid-19 erkrankten Mann.

Im Gegensatz zur ersten Generation der Israelitas, die wie ihr Gründer höchstens ein paar Jahre Volksschulbildung hatten, ist die zweite Generation besser ausgebildet und hat, wie Denisse, ein Universitätsstudium absolviert. Auch der 30-jährige Erik Merino gehört zu dieser neuen Generation. Der Umweltingenieur hat beim peruanischen meteorologischen Dienst gearbeitet und war selbst mehrmals Kandidat seiner Partei für lokale Ämter in seinem Distrikt in Lima – bisher erfolglos. „Wir sind weder links noch rechts, sondern stehen in der Mitte“, meint Erik über die FREPAP. „Ein echter Politiker ist auch ein echter Gläubiger.“ Ihm sind die ökologische Landwirtschaft und die Abfallwirtschaft ein Anliegen, er gibt darüber politische Bildungsseminare in seinem Stadtteil. 

Der größte Frauenanteil von allen im Parlament vertretenen Parteien

Die FREPAP bezeichnet sich als theokratische Partei, weil sie sich auf die 10 Gebotes Gottes beruft. Denisse Palomino vergleicht den theokratischen Anspruch der FREPAP mit der konstitutionellen Monarchie: „Die Kirche ist wie der Monarch, aber der politische Körper ist demokratisch.“ Tatsächlich entziehen sich die Kirche der Israeliten und ihr politischer Arm FREPAP simplen Zuschreibungen: Zwar sind sie gegen die „Gender-Ideologie“, machen aber keine gemeinsame Sache mit den evangelikalen Fundamentalisten. Dafür stellte die Fraktion der FREPAP im Parlament den größten Frauenanteil von allen im Parlament vertretenen Parteien. Ihre politische Bilanz ist durchwachsen, das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten war oft erratisch und für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Nicht fundamentalistisch, weder links noch rechts, für sich alleinstehend. 

Bei den regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im April 2021 verpasste die FREPAP dann den Wiedereinzug in Parlament. „Das lag daran, dass wir keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten hatten“, meint Denisse Palomino. Denn Jonas Ataucusi, der vom Gründer auserkorene Führer, sei noch nicht bereit zur Kandidatur. Und ein anderer Kandidat kommt in einer theokratischen Partei nicht infrage. 

Aber die religiös motivierten Israelitas haben den in der Politik nötigen langen Atem. Die politischen Erfolge hätten der Partei mehr junge Menschen zugeführt, sagen Denisse Palomino und Erik Merino. Die beiden gehören zu einem jungen, dialogfähigen Flügel der FREPAP und sind hochmotiviert für die weitere politische wie auch religiöse Arbeit. Und da für sie letztlich alles an Gottes Willen hängt, können sie die nächsten irdischen Wahlen mit gebotener Gelassenheit angehen. 

 

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erschienen in Ausgabe 10 / 2021: Pfingstler auf dem Vormarsch
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