Der Discjockey regiert das Land zugrunde

RIJASOLO/AFP via Getty Images
Präsident Andry Rajoelina bei der Feier des ­Unabhängigkeitstags Ende Juni. Die Armee ist eine der Säulen seiner Macht.
Madagaskar
In Madagaskar haben Vetternwirtschaft und der planlose Umgang mit der Corona-Pandemie Tausende weiter verarmen lassen. Nun gärt es selbst im eigenen Lager von Präsident Andry Rajoelina.

Madagaskar steckt in einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, die lange vor der Corona-Pandemie begonnen hat. Sie ist eng mit den politischen Zuständen verbunden, das heißt mit dem Fundament der Präsidentschaft von Andry Nirina Rajoelina und mit seiner Regierungsweise. Und die Wirtschaftskrise untergräbt umgekehrt allmählich Rajoelinas Popularität.

Bereits seine Wahl im Jahr 2018 war von Betrug belastet und basierte damit auf einer fragwürdigen Legitimität. Der frühere Discjockey hatte 2009 im Gefolge eines Staatsstreichs gegen Präsident Marc Ravalomanana die Macht übernommen und sie dann praktisch eine ganze Amtszeit lang ausgeübt. Rajoelina konnte aber 2013 nicht bei den Präsidentschaftswahlen antreten. Als Statthalter schickte er Hery Rajaonarimampianina, seinen damaligen Finanzminister, ins Rennen. Als dieser gewählt war, versuchte er jedoch, sich von Rajoelinas Bevormundung freizumachen. Er wollte das Land wieder auf den Weg der verfassungsmäßigen Ordnung bringen und das Vertrauen der internationalen Geldgeber zurückgewinnen, die bis zu drei Viertel des Staatshaushalts finanzieren; das sind hauptsächlich die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und Frankreich.

Erst 2018 konnte dann Andry Rajoelina, inzwischen 44 Jahre alt, zur Präsidentschaftswahl antreten und gewann gegen Marc Ravalomanana. Doch obwohl er mit sehr viel Geld Wahlkampf machte, konnte er nur ein Viertel der registrierten Wählerschaft auf sich vereinen: Bei der Stichwahl im zweiten Wahlgang beteiligten sich weniger als 50 Prozent. Obendrein konnten laut dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unabhängigen Nationalen Wahlkommission einige Hunderttausend Wähler mehr als ein Mal zur Urne gehen, weil über eine Million von ihnen Personalausweise mit identischen Nummern haben. Zudem hatten Rajoelina und seine finanzkräftigen Unterstützer lange vor der Wahl Waffen und Panzerfahrzeuge importiert, was mehrere Kandidaten zum Rückzug bewog.

Andry Rajoelina stützte sich beim Amtsantritt im Parlament auf eine Koalition mit schillernden Konturen. Den Kern stellen Mitglieder seiner ursprünglichen politischen Partei, die sich nach und nach um diverse Opportunisten und Überläufer erweitert hat und heute IRD („Alle für Rajoelina“) heißt. Wie der Name andeutet, steht in ihrem Mittelpunkt weniger ein Programm (abgesehen von der Abneigung gegen Marc Ravalomanana) als vielmehr die Person Andry Rajoelina. Bei der Wahl zur Nationalversammlung, dem Unterhaus des Parlaments, vom Mai 2019 gewann die IRD 86 Sitze gegenüber 16 der TIM („Ich liebe Madagaskar“ von Marc Ravalomanana) und 46 für Unabhängige, das heißt mehr oder minder käufliche Abgeordnete. Seitdem sind einige zur IRD gewechselt.

Risse in den Säulen des Regimes

Die eigentlichen Säulen des Regimes sind die Armee und ein Konglomerat aus Politik und Finanzwelt. Insbesondere die in den aktiven Streitkräften, die sich mit einem Teil der Unteroffiziere am Putsch von 2009 beteiligt hatten, haben natürlich von materiellen Vorteilen und Beförderungen profitiert. Die Streitkräfte sind nun gespalten zwischen denen, die den Putsch unterstützt hatten, und den übrigen; das schwächt ihre Disziplin.

Eine weitere Kehrseite ist: Es wurden derart viele dieser Unteroffiziere so stark befördert, dass nach Angaben der Zeitung „La Croix de Madagascar“ ein General ganze neunzig Soldaten befehligt. Die Armee droht zu implodieren – vor allem, wenn die große Zahl an Unteroffizieren und Offizieren keine Beförderung und die damit verbundenen materiellen Vorteile bekommen. Sie leben frustriert im Wartestand, zumal gewisse treue Generäle im Dienst belassen wurden, obwohl sie bereits im Ruhestand sein müssten.

Die Schwäche der Staatseinnahmen schlägt sich allmählich auch auf die Armee nieder. So war sie gezwungen, das einzige, vor kurzem aus zweiter Hand gekaufte Flugzeug wegen Zahlungsschwierigkeiten zurückzugeben. Sicherheitsprobleme, die die Armee vor allem im Süden bekämpfen sollte, sind nicht annähernd gelöst, sondern greifen eher noch auf andere Gebiete über. Im Mai 2021 haben zum Beispiel organisierte Viehdiebe (dahalo) nachts im Südosten Madagaskars, nur wenige Kilometer von einem kurz zuvor von Rajoelina eingeweihten Militärlager, drei Dörfer brutal überfallen; neunzehn Tote, sechs Verwundete, drei Geiseln, dreihundert niedergebrannte Häuser und fünfhundert gestohlene Zebus (Buckelrinder) waren zu beklagen.

Monopolistisches Verhalten zum Schaden der Erzeuger

Zum politisch-finanziellen Konglomerat, das Rajoelina stützt, gehört die Familie seiner Frau. Es hat als Erstes die Geldgeber von Hery Rajaonarimampianina und aller anderen Konkurrenten ausgeschaltet, um einen Großteil der interessanten Einkommensquellen unter seine Kontrolle zu bringen – etwa den Export von Tropenfrüchten wie Vanille oder Litschis und den illegalen Verkauf von Rosenholz. Der Abgeordnete Roland Ratsikara, der noch den Putsch gegen Ravalomanana unterstützt hatte, prangert die Bildung einer regelrechten Mafia und deren monopolistisches Verhalten zum Schaden der Erzeuger an.   

Autor

Solofo Randrianja

ist Professor für Geschichte an der Universität von Toamasina an der Ostküste Madagaskars.
Jüngste Aktion dieser Art: Der Präsident hat Ende September angekündigt, zwanzig Schiffsladungen von Gütern des Grundbedarfs und von Reis, dem Grundnahrungsmittel der Madegassen, zu undurchsichtigen Konditionen einzuführen. Als Folge wird der Reispreis sinken. Das wird die Einkommen der Reisbauern schmälern, weil ihr Reis von höherer Qualität an Wert verliert; viele werden sich auf reine Selbstversorgung zurückziehen. Angesichts der Hungersnot im Süden der Insel wäre es besser, lokalen Reis für Hilfe aufzukaufen.

Die Corona-Pandemie hat die wirtschaftliche und soziale Lage weiter verschlechtert. Wie die meisten afrikanischen Länder südlich der Sahara, ausgenommen Südafrika, erlebte und erlebt Madagaskar dabei keine so großen Infektionswellen mit den entsprechenden Todeszahlen wie Asien und Amerika. Offiziell gab es weniger als 50.000 bestätigte Infektionen und rund 1000 Todesfälle seit 2020. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Erklärung scheint die geringe Mobilität zwischen den Gemeinden zu sein. Allerdings wurden auch weniger Tests durchgeführt und die Toten weniger zuverlässig registriert als in den Ländern des Nordens.

Der Tee, der die Welt nicht rettete

Beim Management der Pandemie hat sich Rajoelinas Populismus gezeigt: Der Präsident hielt sich allen Ernstes für den Retter der Menschheit und stützte sich auf Prophezeiungen einer Brasilianerin namens Johanna. Die hatte ihn überzeugt, ihr Tee auf der Basis von Artemisia würde die Welt retten. Das war nicht bloß eine Werbestrategie für ein pflanzliches Heilmittel, an dessen Herstellung Mitglieder seines engsten Umfelds finanziell beteiligt sind.  Im März 2021 starb aber Professor Adolphe Randriantsoa, der wissenschaftliche Gewährsmann für das Wundermittel, infolge einer Covid-19-Infektion – das versetzte Rajoelinas Glaubwürdigkeit einen Schlag. Auch seine Auslandsreisen und die seiner Angehörigen wecken Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Mehrere Medien äußerten den Verdacht, er habe sich impfen lassen. Schließlich ist die Einreise in viele Länder ja an ein Impfzertifikat gebunden.

Ein Tee auf Basis von Artemisia, der gegen Covid-19 helfen soll, wird im April 2020 verteilt. Der Präsident hat für das Mittel geworben und sein engster Kreis an der Herstellung mitverdient.

Dass die Pandemie zum Stillstand gekommen ist, hängt mit der kompletten Schließung des Landes über 16 Monate zusammen. Die hat katastrophale wirtschaftliche Folgen. Vor der Pandemie hatte unter Hery Rajaonarimampianina eine vorsichtige wirtschaftliche Erholung eingesetzt. Sie beruhte auf politischer und ökonomischer Stabilität, neuem Vertrauen bei ausländischen Investoren, der zunehmenden Einbindung in wichtige Exportmärkte für Agrarprodukte und Fische sowie auf Strukturreformen.

Rajoelinas Pandemie-Management hat die soziale Lage dramatisch verschlechtert

Dann hat die Regierung Rajoelina beschlossen, von Anfang 2020 an für die Mehrheit der Einwohner das Land hermetisch abzuriegeln. Das hat der Wirtschaft schwer geschadet und die soziale Lage dramatisch verschlechtert. Das Pandemie-Management hat 2020 zu einer Rezession geführt, die mit jener nach der politischen Krise von 2009 vergleichbar ist, und fast zehn Jahre Fortschritte bei der Armutsbekämpfung zunichtegemacht. In Schlüsselsektoren von Industrie und Dienstleistung fielen Arbeitsplätze weg, und in der informellen Wirtschaft verloren Menschen durch den Lockdown in den Städten auf einen Schlag ihr Einkommen. Die Regierung hatte jenseits des Shutdowns und der Verteilung einiger rasch aufgebrauchter Hilfsgüter keine Strategie.

In der Privatwirtschaft sind die Geschäftstätigkeit wie die Einkommen gegenüber 2019 um durchschnittlich 44 Prozent eingebrochen, in der Reise- und Tourismusbranche um bis zu 90 Prozent. Kurzarbeit und Entlassungen ziehen eine verringerte Kaufkraft der Haushalte und zurückgehenden Konsum nach sich; das führt in eine Abwärtsspirale. Die Unternehmen haben auch Schwierigkeiten, die Abgaben an den Staat zu leisten, was wiederum diesen verarmen lässt. Die allermeisten Straßen sind heruntergekommen. Laut Gewerkschafts- und Berufsverbänden haben 60 Prozent der formellen Unternehmen nicht vor, 2021 noch zu investieren. Die Erholung wird lang und schwierig sein.

Das schlechte Management der Gesundheitskrise hat nach Angaben der Weltbank schon 1,4 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut gebracht – sie haben weniger als umgerechnet 1,90 US-Dollar pro Tag. Die Armutsquote ist von 74,3 Prozent unter der Vorgängerregierung auf 77,4 Prozent gestiegen, den höchsten Stand seit 2012. Die Hälfte der rund 27 Millionen Madegassen ist unter 21 Jahre alt.

Die Hungersnot im Süden Madagaskars ist so schlimm, dass Betroffene – so wie diese Frau – Lehm gemischt mit Tamarinde essen. 

Die von der Regierung anfangs geleugnete Hungersnot im Süden Madagaskars ist der augenfälligste Teil der sozialen Krise. Sie wird darauf zurückgeführt, dass das Klimaphänomen El Niño in diesem Teil der Insel zu Dürre und schlechten Ernten führt. Drei Jahre in Folge mit einer schrecklichen Dürre haben die Krise verschärft (siehe Kasten).  Untätigkeit der Politik und die geringe Antizipationsfähigkeit der Regierung haben jedoch ein Übriges getan.

Eine Hungersnot wie sonst nur in Kriegsgebieten

Im Süden Madagaskars herrscht Hunger. Das Welternährungsprogramm (WFP) berichtet von Menschen, die nur Insekten oder Kaktusfrüchte zu essen haben, und von Kindern mit aufgetriebenen Bäuchen, wie man ...

Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, hat sich die Regierung nun zu einer nationalen Impfstrategie entschlossen. Der Premierminister kündigte am 24. Juli 2021 an, die Regierung werde erst ein Impfprogramm für mindestens 800.000 Personen im Jahr 2022 und für 4 Millionen in 2023 umsetzen. Dies sei die Voraussetzung, um das Land wieder zu öffnen. 

Putschversuch aus dem eigenen Lager

Die Gefahr der Instabilität, die mit der Wirtschaftskrise einhergeht, hat Rajoelina gezwungen, seine Unterstützergruppen neu zu mobilisieren. Abgesehen von der relativ schwachen Opposition kommt Widerspruch gegen ihn vor allem aus dem eigenen Lager. An einem Putsch- oder Attentatsversuch im Juli 2021 waren mehrere Offiziere der Streitkräfte (Armee, Polizei, Gendarmerie) beteiligt, darunter fünf Generäle. Die meisten Verhafteten oder Verdächtigten sind Vertraute, die am ersten Putsch 2009 beteiligt waren, so dass die Behörden mit der Festnahme zögern – zum Beispiel im Fall des Erzbischofs von Antananarivo, Odon Razanakolona, der den Putschisten seine Einwilligung gegeben und sie gebeten hatte, Rajoelina nicht zu töten.

Was hat die Anführer des gescheiterten Putschversuchs angetrieben? Einige geben sich schockiert über Vertraute des Präsidenten, die durch Veruntreuung eines Teils der internationalen Hilfsgelder ihren eigenen Reichtum mehren, und allgemein über die Existenz einer Monopolmafia. Das jüngste Beispiel ist der Versuch, einen „Staatsfonds“ zu schaffen, den eine anonyme Gesellschaft für Vorhaben des Präsidenten nutzen soll. Gefüllt würde der Fonds vom Staat. Der Abgeordnete Roland Ratsikara sieht darin eine Methode, Geld aus der Umgebung des Präsidenten oder gar von ihm selbst zu waschen. Andere am gescheiterten Putsch Beteiligte bedauern, dass sich der Präsident mit Menschen umgibt, die nicht seiner Partei angehören. Viele klagen, dass der Präsident nur reagiere, aber sämtliche Entscheidungsbefugnisse an sich ziehe. Dass er ohne Hemmungen Facebook nutzt, verstärkt die zahlreichen Skandale, die seiner Entourage anhaften – trotz eines Fake-Accounts, der seinem Regime ein gutes Image verleihen soll.

Als Reaktion auf die politische Krise hat Rajoelina den Premierminister behalten, aber sein Kabinett umgebildet. Dabei sind aus 22 Mitgliedern nun 32 geworden. Zahlreiche Ministerien wurden aufgeteilt, um neue Minister unterzubringen. Das Umweltministerium wurde zweigeteilt, was die Gefahr von Zwietracht birgt. Ein Teil der neuen Minister war derart umstritten, dass einer – kaum ernannt – schon wieder zurücktreten musste. Mehrere aus der unmittelbaren Umgebung des Präsidenten werden offen attackiert von Zeitungen wie „La Gazette de la Grande Ile“, die Rajoelina von Anfang an unterstützt hat. So hat sie die Machenschaften des Transportministers offengelegt, der den Erlös für ausgemusterte Maschinen der Air Madagascar über sein Bankkonto in einem Golfstaat laufen ließ. Ob eine solche Regierung imstande sein wird, die für einen Wirtschaftsaufschwung notwendigen Reformen durchzuführen und die Wahlen von 2023 vorzubereiten?

Aus dem Französischen von Juliane Gräbener-Müller.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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