„Der Solidaritätsgedanke hat mich begeistert“

„Krankheit kann uns alle treffen“: Mit diesem Argument hat die gelernte Krankenschwester und Entwicklungsexpertin die vormals verfeindeten Parteien von ihrer Idee überzeugt. Für einen Jahresbeitrag von zehn US-Dollar übernimmt die Versicherung MUSACA (Mutuelle de Santé Canaan) die Kosten für eine ambulante Behandlung, Laboruntersuchungen, Entbindung und bis zu fünf Tage Aufenthalt in drei kirchlichen Vertrags-Krankenhäusern.

Wann sind Sie auf die Idee gekommen, eine Krankenversicherung im Kongo aufzubauen?
Während meines Studienaufenthaltes in Frankreich war ich selbst in einer französischen Krankenkasse versichert und mein Mann, der zeitgleich in Belgien studierte, war Mitglied in einer christlichen Krankenversicherung. Mich hat der Solidaritätsgedanke von Anfang an begeistert. Das wollte ich auch für mein Land. Der Bürgerkrieg im Ostkongo war 2007 zu Ende gegangen und die Gräben zwischen den Ethnien waren sehr tief. Wir brauchten ein Projekt, in dem wir alle aufeinander angewiesen sind. Krankheit kann uns alle treffen. Außerdem hatte sich die Gesundheitssituation nach dem Bürgerkrieg sehr verschlechtert. Internationale  Gesundheitsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder die Weltgesundheitsorganisation hatten nach dem Ende des Konflikts die Region verlassen.



Wie haben Sie selbst den Bürgerkrieg erlebt?
Wir haben in der direkten Verwandtschaft zum Glück keine Toten zu beklagen. Am Anfang des Bürgerkriegs haben wir in Nyankunde gelebt. Mein Mann war 2001 für ein Studium nach Belgien gegangen. Aus Sicherheitsgründen hatten wir vor seiner Abreise unsere drei Töchter zu seinem Bruder nach Beni in Nord-Kivu gebracht. Ich lebte in unserem Haus mit meiner Cousine und einem Neffen. Als es am 5. September 2002 in Nyankunde zu den großen Massakern kam, war ich Gott sei Dank nicht in der Stadt. Ich war ein paar Tage vorher zu meinen Kindern nach Beni gefahren. Meine Cousine und meine Neffen konnten sich retten. Unser Gärtner wurde aber von den Banden ermordet. Unser Haus haben sie verwüstet.

Wann sind Sie wieder zurück nach Nyankunde?
Erst nach sieben Jahren. Nach den Massakern war klar, dass ich so schnell nicht wieder nach Nyankunde gehen würde. In Beni habe ich mit Traumatisierten aus den Bürgerkriegsregionen zusammengearbeitet. Irgendwann war ich selbst traumatisiert von all den Geschichten, die ich gehört habe. Es ist unfassbar, was die Milizionäre Mädchen und Frauen angetan haben. Viele können nicht mehr reden, sitzen stumm auf dem Boden und weigern sich, sich anzuziehen oder zu waschen. Besonders wenn ich mit Mädchen im Alter meiner Töchter zu tun hatte, hat mich das fertig gemacht. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Das Studium in Lyon war für mich eine Möglichkeit, wieder Luft zu holen.

Die Menschen, die Sie für die MUSACA gewinnen wollen, sind zum Großteil auch traumatisiert. Wie reagieren sie, wenn Sie Ihnen von der Idee einer Krankenversicherung erzählen?
Es war anfangs sehr schwer, die Menschen in Bunia davon zu überzeugen, dass sie mit Angehörigen von ehemals verfeindeten Ethnien gemeinsam eine Krankenkasse aufbauen. ‚Glauben Sie, dass es einfach ist zu vergeben?‘, bin ich immer wieder gefragt worden. Ich weiß, wie schwer Vergebung ist, und trotzdem ist es der einzige Weg, auf dem wir wieder zusammenkommen können. Die MUSACA ist eine Möglichkeit, dass wir wieder Solidarität untereinander lernen. In Bunia gibt es 20 verschiedene Ethnien. Heute sind davon 17 in der MUSACA vertreten, die insgesamt 2000 Mitglieder hat.

Wie überzeugen Sie die Menschen davon, dass es sinnvoll ist, in eine Krankenversicherung einzuzahlen?
Wir arbeiten mit ehrenamtlichen Multiplikatoren zusammen. Sie erklären den Menschen in ihren Vierteln das Prinzip. Auch im Radio machen wir immer wieder Werbung für die MUSACA. Mittlerweile funktioniert die Mund-zu-Mund-Propaganda sehr gut. Die ersten Mitglieder können schon berichten, dass sie kostenlos und sehr zuvorkommend im Krankenhaus behandelt wurden. MUSACA ist aber nicht nur eine Versicherung, die im Krankheitsfall für die Kosten aufkommt. Die Nachbarschaftshilfe unter den Mitgliedern spielt eine große Rolle. Immer zwölf Haushalte in einem Viertel bilden eine Einheit. Sobald jemand krank wird oder ein anderes Problem hat, spricht sich das schnell herum und jeder schaut, wie er helfen kann. Man fühlt sich füreinander verantwortlich. In meiner Einheit leben zum Beispiel Menschen aus sieben verschiedenen Ethnien. Solche Strukturen sind die Grundvoraussetzung für Versöhnung.     

Für manche Familien sind zehn Dollar viel Geld. Gibt es auch Fälle, dass jemand nicht Mitglied wird, weil er den Jahresbeitrag nicht zahlen kann?
Wir erwarten nicht, dass die Leute ihren Beitrag auf einmal bezahlen. Sie können auch in Raten zahlen. Als vorteilhaft hat sich herausgestellt, dass die Multiplikatoren aus dem gleichen sozialen Milieu kommen wie die Menschen, die wir mit der MUSACA erreichen wollen. Sie können erklären,  wie sie selbst die zehn Dollar übers Jahr aufbringen.

Können Sie mit den Mitgliederbeiträgen alle medizinischen Leistungen abdecken?
Die Kosten für Notoperationen oder längere Krankenhausaufenthalte können wir leider nicht übernehmen. Das würde unsere Mittel übersteigen. Seit dem vergangenen Jahr haben wir aber eine Zusatzversicherung eingeführt. Für 20 Dollar im Jahr sind dann auch solche Fälle abgedeckt. Wir hoffen, dass alle irgendwann einmal den erweiterten Tarif zahlen können.

Wie haben die Verantwortlichen im Centre Médical Evangélique (CME), zu dem die MUSACA gehört, auf Ihre Idee reagiert?
Am Anfang waren einige sehr zögerlich. Bereits vor dem Krieg hatte es Versuche gegeben, in Bunia eine Krankenversicherung aufzubauen. Die waren aber alle gescheitert. Nach dem Krieg war die Ausgangslage noch schlechter. Das Misstrauen unter den Ethnien war und ist sehr groß. Entsprechend verhalten reagierten die Verantwortlichen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ein auf Solidarität aufbauendes Projekt funktionieren würde. Ich bin immer wieder gefragt worden, warum ich glaube, dass ausgerechnet ich das schaffen würde. Wenn man aber etwas bewirken will, darf man die Hände nicht in den Schoß legen. Der christliche Glaube hat mir da sehr geholfen.

Wann hatten Sie den Eindruck, dass der Durchbruch geschafft ist?
Der schönste Moment war für mich die erste Mitgliederversammlung im Januar 2009. Ich hatte mit 20 Leuten gerechnet. Es kamen aber mehr als 100 aus ganz verschiedenen Stämmen. Sie haben diskutiert und neue Ideen entwickelt, in welche Richtung die Krankenversicherung gehen soll. Sie haben von „unserer MUSACA“ gesprochen. Das hat mir Hoffnung gemacht.

Gibt es Nachahmer-Modelle?
Das CME plant mittlerweile Krankenversicherungen für Nyankunde und Beni. Auch hat der EED mich eingeladen, MUSACA an der Université Protestante au Congo (UPC) in Kinshasa vorzustellen.

Das Gespräch führte Katja Dorothea Buck.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2012: Auf der Flucht
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