Wo der Tod keinen Abschied bedeutet

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Putu Sayoga
Ruli Ramda bringt seiner Mutter etwas zu essen. Solange sie noch nicht bestattet sind, werden Verstorbene bei den Toraja als Kranke behandelt.
Indonesien
Das Volk der Toraja im Süden der indonesischen Insel Sulawesi ist für seine aufwendigen Totenrituale bekannt. Dazu gehört auch, regelmäßig Leichname von toten Verwandten auszugraben und zu pflegen.

Unter Tränen drückt Odiya Sulu ein Foto ihrer im Vorjahr verstorbenen Mutter an sich und sagt immer wieder, wie sehr sie sie vermisst. Zusammen mit ihren Verwandten zelebriert sie an der Grabstätte der Familie ein Ritual, das sie Ma’Nene nennen und das zu Alo’Tadolo gehört, dem uralten Glauben der Toraja. 

Die Toraja leben im Süden von Sulawesi, einer der größten Inseln Indonesiens. Das indigene Volk ist für seine aufwendigen Totenrituale bekannt, in deren Verlauf die einbalsamierten Angehörigen exhumiert und Tiere geopfert werden. Die Toraja investieren viel Zeit und Geld in die Bestattung ihrer Angehörigen und die Pflege ihres Totenkults.

Beim Ritual Ma’Nene besuchen Verwandte das Familiengrab, Patane genannt, reinigen die Grabstätte, nehmen die einbalsamierten Toten heraus, machen sie zurecht und legen sie für etwa eine Stunde zum Trocknen in die Sonne. Für gewöhnlich wird das Ritual nach der Erntezeit Ende August durchgeführt. Manche Familien veranstalten es jedes Jahr, andere alle zwei oder drei Jahre – zu Ehren der Vorfahren und auch, um für eine gute Ernte im folgenden Jahr zu sorgen.

Beim Ma’Nene-Ritual werden ­Verstorbene alle paar Jahre aus ihren Särgen geholt und neu eingekleidet. Hier posieren Verwandte 
mit Ne’Jenny (links), die seit 2012 tot ist, und mit Ne’Lisu, die 2009 gestorben ist.

Im Jahr 2016 habe ich einige abgelegene Dörfer in den Pangala-Bergen im Distrikt Rindingalo in der Provinz Südsulawesi besucht, um alles mit eigenen Augen zu sehen. Dorthin gelangt man mit dem Motorrad in etwa anderthalb Stunden von Rantepao aus, der Hauptstadt des Distrikts Nord-Toraja. Rantepao ist ein staubiges Städtchen mit 26.000 Einwohnern, in das man von Sulawesis größter Stadt Makassar acht Stunden mit dem Bus über eine kurvenreiche Gebirgsstraße fährt. 

Odiya streichelt das Gesicht ihrer verstorbenen Mutter

Ich quartierte mich in einem Dorf ein und machte mich auf die Suche nach einer Familie, die in diesen Tagen das Ritual Ma’Nene durchführen wollte. Dazu befragte ich Einheimische und folgte ihren Hinweisen von einem Dorf zum anderen. Am vierten Tag traf ich Odiya und ihre Verwandten, die gerade ihr Ma’Nene-Ritual in der Nähe meiner Unterkunft begannen. Sie boten mir freundlich Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen an und erzählten mir von ihrer Familie. Von ihnen erhielt ich auch Informationen über andere Ma’Nene-Zeremonien in Rindingalo.

Odiyas leises Schluchzen geht damals in Wehklagen über, als der Sarg ihrer Mutter nach draußen getragen und von Verwandten geöffnet wird. Der Körper von Elis Sulu, die im Vorjahr im Alter von 65 Jahren gestorben ist, befindet sich dank der Konservierung mit Formaldehyd in bemerkenswert gutem Zustand. Üblicherweise injiziert ein Arzt oder eine Pflegekraft den Toten den Konservierungsstoff. Noch immer weinend, streichelt Odiya das Gesicht ihrer verstorbenen Mutter, während ihr Bruder sie sanft und beruhigend an der Schulter hält. Nach einer Weile ist Odiya gefasst genug, um die Grabstätte mit einem Besen auszukehren, während der Körper ihrer Mutter in der Sonne liegt. Als alles sauber ist, nehmen die männlichen Verwandten die Leiche aus dem Holzsarg, ziehen ihr frische Kleidung an und wickeln sie wieder in ein Leichentuch.

Autor

Putu Sayoga 

ist Fotograf und Politikwissenschaftler. Er lebt auf der indonesischen Insel Bali.
Ein katholischer Priester – Elis Sulu war Katholikin – macht sich am Rand bereit. Er besprengt den Leichnam mit Weihwasser und spricht ein Gebet, bevor sie im Sarg zurück in die Patane gebracht wird. Nach Abschluss der Zeremonie kehrt die Familie zu Odiyas Haus zurück, wo traditionelles Essen bereitsteht, das am Vormittag zubereitet wurde. Das gemeinsame Mahl bildet den Abschluss des Rituals. „Ich sehne mich so sehr nach meiner Mutter“, sagt Odiya Sulu. „Ihren Körper zu sehen, tut meinem Herzen gut, aber danach muss ich zwei Jahre warten, bis ich sie beim nächsten Ma’Nene wiedersehen kann.“ 

Um den Ursprung des Rituals ranken sich Legenden

Niemand weiß genau, wo der Ursprung dieses einzigartigen Rituals liegt, schriftliche Quellen existieren nicht. Die Toraja-Sprache wurde erst im 20. Jahrhundert verschriftlicht, aus der Zeit davor gibt es nur mündliche Überlieferungen. Nach einer Legende geht das Ma’Nene-Ritual auf einen Bauern und Jäger namens Pong Rumasek zurück, der bei der Jagd auf einen Toten im Wald stieß. Aus Mitleid mit dem Verstorbenen säuberte er den Leichnam, zog ihm Kleidung an und bestattete ihn. Das brachte ihm Glück, er fuhr eine reiche Ernte ein und konnte gut für seine Familie sorgen. Die Menschen nahmen sich dies zum Vorbild und ließen fortan ihren toten Familienangehörigen ähnliche Ehren angedeihen. Und so ist es bis heute geblieben. 

In Rantepao lerne ich Endi Alorante kennen, einen ortsansässigen Fotografen, der seit 2006 verschiedene Rituale des Alo’Tadolo-Glaubens im Bild festgehalten hat. Er erklärt, dass das Ma’Nene-Ritual um 2010 durch ein Foto in den sozialen Medien auch außerhalb von Toraja bekannt wurde. Das lockte viele Menschen, auch Journalisten, aus der ganzen Welt an. Anfangs sei es sehr schwierig gewesen, herauszufinden, wann und wo ein solches Ritual durchgeführt wird, weil die Dörfer in den Bergen liegen und es um private Familienangelegenheiten geht. Doch inzwischen ist Ma’Nene zu einer Touristenattraktion geworden, und die örtliche Verwaltung informiert darüber über die sozialen Medien. Touristen können dem Ritual kostenlos beiwohnen. Die Toraja freuen sich im Allgemeinen über Gäste, die an ihren Totenfeiern teilnehmen. Das Erlebnis ihrer Gastfreundschaft veranlasste mich dazu, sie vor Ausbruch der Corona-Pandemie fast jedes Jahr zu besuchen.

Erst nach der Beisetzung beginnt die Seele ihre Reise ins Land der Geister

Für die Toraja ist der Tod ein langwieriger Prozess. Verstorbene Menschen bleiben in der Regel wochen-, monate- oder sogar jahrelang zu Hause in der Obhut ihrer Familie, bis genug Geld für eine Bestattung beisammen ist. In der Vorstellung der Menschen verweilt der Geist der Verstorbenen noch in der Welt, bis diese Zeremonie abgehalten wird. Erst nach der Beisetzung beginnt die Seele ihre Reise nach Puya, dem Land der Geister. Je länger der Verstorbene zu Hause bleibt, desto aufwendiger und teurer fällt die Bestattungszeremonie aus. Vor allem die wohlhabenderen Bewohner wollen mit einer extravaganten Durchführung des Rituals ihren Status und ihren Einfluss demonstrieren. Im Extremfall kann eine solche Bestattung zwölf Tage dauern, während derer Dutzende von Büffeln und Hunderte von Schweinen geopfert werden. Die Kosten können sich auf einige Hunderttausend Dollar belaufen. 

Während des Ma’nene-­Rituals versammeln sich die ­Angehörigen vor den Familien­grabstätten, den Patane.

In einem Café in Rantepao lerne ich eines Nachmittags den Reiseleiter Sobba Paloan kennen. Er weiß viel über die Ahnenrituale und Ma’Nene und erklärt mir, wie die Toraja den Tod sehen: Solange der Leichnam verstorbener Verwandter noch zu Hause ist, werden sie wie Kranke behandelt und erhalten auch kleine Mengen Nahrung. Als ich das höre, frage ich ihn, ob es möglich ist, eine Familie mit einem solchen „kranken“ Verwandten zu besuchen. „Kein Problem“, lautete seine Antwort.

Kaum habe ich meinen Kaffee ausgetrunken, nimmt er mich auf seinem Motorrad mit. Wir fahren in die umliegenden Berge. Bald geht die asphaltierte Straße in eine Betonpiste über, die zu einem Dorf führt, und schließlich erreichten wir unser Ziel. Ein Mann mittleren Alters begrüßt uns und lädt uns ein, in seinem traditionellen Haus, Tongkonan genannt, Platz zu nehmen. Ruli Ramda, so heißt er, ist eine angesehene Persönlichkeit in diesem Dorf.

Rita Pono trägt ihre 1930 verstorbene Großmutter zu einem anderen Friedhof.

„Sind Sie gekommen, um meine Mutter zu sehen?“, fragt er mich, worauf ich antwortete: „Wenn das möglich ist?“ Von Sobba weiß ich bereits, dass Ruli Ramdas Mutter vor etwa einem Monat im Alter von 90 Jahren gestorben ist und noch zu Hause aufgebahrt ist. Die Totenfeier oder Rambu Solo soll erst im folgenden Jahr stattfinden. „Natürlich, Sie können mir Gesellschaft leisten, ich wollte meiner Mutter gerade etwas zu essen bringen“, sagte er. Freundlich fordert er mich auf, ihm zu folgen. 

Es gibt dort zwei Räume, die durch eine Holzwand getrennt sind. Der erste Raum ist für die Familienangehörigen vorgesehen, die zu Besuch kommen und sich um die Toten kümmern. Dann werde ich in den nächsten Raum geführt, dessen Wände mit roten Tüchern ausgeschlagen und mit traditionellen Toraja-Ornamenten verziert sind.

Mit Toten zusammenzuleben macht keine Angst

In der Mitte liegt Lae Tikus Leichnam in einem offenen Sarg; es scheint, als ob sie schläft. Ruli Ramda stellt Speisen neben sie und sagt: „Mutter, ich bringe dir hier etwas zu essen, und dann ist da noch ein Gast aus Bali gekommen, der dich sehen möchte.“ Ich bin überrascht, so etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Ob es ihm denn keine Angst macht, mit Toten zusammenzuleben, frage ich ihn. Er antwortet: „Wir sind daran gewöhnt, es ist unsere Kultur, die uns von Generation zu Generation überliefert wurde.“ Und Sobba fügte hinzu: „Der Tod bedeutet für uns keinen Abschied.“

Einige Tage später informiert mich Endi Alorante über eine Rambu-Solo-Zeremonie, die in einem Dorf in der Nähe von Makale, der Hauptstadt des Bezirks Tana Toraja, stattfinden soll. Morgens um halb sieben verlasse ich Rantepao und mache mich auf den Weg zum Ort der Zeremonie, der nicht schwer zu finden ist, da sie in der Nähe der Hauptstraße stattfindet. Ich muss nur den Leuten folgen, die dorthin strömten. Bald schon höre ich auch Gesang. Es stellt sich heraus, dass dort ein Ma’Badong-Ritual stattfindet, eine Tanz- und Gesangszeremonie zur Begleitung des letzten Wegs des Verstorbenen. Dutzende Männer stehen singend im Kreis und bewegen sich rhythmisch. In der Mitte ist der Sarg aufgebockt, der zum Begräbnisplatz auf dem Gipfel des Hügels getragen werden soll. 

Endi, den ich dort treffe, erklärte mir, dass dies der Tag der Bestattung sei. Nachdem die Ma’Badong-Zeremonie beendet ist, bricht man zum Grab auf. Manche Verwandten weinen. Durch Reisfelder geht es hinauf in die umliegenden Hügel. Der Sarg wird von Verwandten und Dorfbewohnern getragen und schließlich im Patane, dem Totenhaus, abgestellt. Von dort tritt der Geist der verstorbenen Person dem Glauben nach die Reise nach Puya an.

Angehörige und Dorfbewohner ­bringen einen Verstorbenen ins Dorf zum Rambu-Solo-Ritual. Für diese Beerdigungszeremonie müssen viele Familien lange sparen.

Büffel helfen den Toten, ins Geisterreich zu gelangen

Wie ich erfahre, hat das gesamte Ritual sieben Tage gedauert. Ich habe das große Glück, am letzten Tag gekommen zu sein. Sieben Tage lang hat man Tausende von Gästen empfangen, die Büffel, Schweine und Hühner mitgebracht haben. Der Büffel ist bei den Toraja von großer Bedeutung und spielt eine wichtige Rolle bei den Totenfeierlichkeiten. Die Tiere werden zu Ehren der Verstorbenen geopfert und dann von den Gästen verspeist. Büffel helfen den Toten, ins Geisterreich Puya zu gelangen. Daher können besondere Büffel sehr teuer sein, manche kosten bis zu 100.000 Euro. 

Als Balinese finde ich bestimmte Elemente der Toraja-Kultur meiner eigenen sehr ähnlich. Sowohl für die Toraja als auch für die Balinesen bedeutet der Tod nicht Ende oder Abschied. Auch die Balinesen glauben, dass der Geist der Verstorbenen ihre Familien weiterhin beschützt. Die Toten lassen uns nicht allein, und deshalb verehren wir sie. Die meisten Toraja sind heute Christen, aber sie halten an ihren alten Besta­t­tung­­s­­traditionen fest. Dies hilft unseren Völkern, mit Trauer zurechtzukommen. All dies hat tiefe Bedeutung – gerade jetzt, während der Corona-Pandemie. 

Meine ersten 13 Tage in Nord-Toraja schienen mir nicht genug, um diese faszinierende Tradition zu erkunden. So bin ich jedes Jahr wieder dorthin gereist, bis Corona kam. Manche Familien in Nord-Toraja führen trotz der Pandemie Ma’Nene und Rambu Solo durch. Andere warten lieber so lange damit, bis auch Verwandte, die weiter weg wohnen, teilnehmen können.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

 

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Vielen Dank für diesen ausfuhrlichen Beitrag, der für das Verstândnis des Ahnenkultes der Toraya auf eine besondere Weise.beitrâgt.
Ich durfte vor gestern von dieser Zeremonie von einer sehr netten Frau aus Bali erfahren - Vielleicht ursprunglich von der İnsel Suawesi. Vielen Dank fur ihren Beitrag. Ich bin auch sehr dankbar dafur, dass mir diese so nette Frau vertrauensvolĺ von ihren verstorbenen Großeltern erzâhlt hat und Fotos der Zeremonie gezeigt hat.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2022: Tod und Trauer
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