Sozialismus als Etikettenschwindel

Martin Silva/AFP via Getty Images
Boliviens Präsident Luis Arce (links) unterhält sich in La Paz während einer Demonstration im November 2021 mit seinem Vorgänger Evo Morales.
Bolivien
In Bolivien regiert wieder die Partei von Evo Morales. Doch sie bringt dem Andenland nicht Sozialismus, sondern Korruption, Klientelwirtschaft und Fraktionskämpfe.

Bolivien wird seit Ende 2020 erneut von der „Bewegung zum Sozialismus“ (Movimiento al Socialismo, MAS) regiert. Die Partei von Evo Morales, der von 2006 bis 2019 Staatspräsident war, hat einige Erfolge bei der Bekämpfung der Armut im Land vorzuweisen. Aber sie hat dabei Sozialleistungen, staatliche Arbeitsplätze und Projekte als Mittel der Machtsicherung eingesetzt und tut das bis heute. Das Ergebnis sind eine Günstlingswirtschaft, die das Land wirtschaftlich und politisch lähmt, verbreitete Korruption und Konflikte auch innerhalb der Regierungspartei, die sie durch politisch motivierte Prozesse und Polarisierung gegenüber der Opposition zu überdecken sucht.

Wie gespalten das Land politisch ist, zeigte sich 2019: Nach den wegen Wahlbetrugs umstrittenen Präsidentschaftswahlen Ende 2019 hatte es in Bolivien wochenlang heftige Proteste in den großen Städten gegeben. Präsident Morales floh schließlich ins Exil. Weitere Rücktritte in den Reihen der MAS führten zu einem Machtvakuum an der Staatsspitze. Nach Verhandlungen unter Vermittlung der Vereinten Nationen, der EU und der Bolivianischen Bischofskonferenz übernahm nach Tagen des Chaos, nach Plünderungen, Zerstörung von Polizeistationen oder Privathäusern und Übergriffen auf politische Gegner die konservative Jeanine Áñez das Amt der Übergangspräsidentin in einer juristischen Grauzone.

Ihre kurze Regierungszeit war geprägt von Konflikten mit dem Parlament, Korruption, Improvisation sowie von der Covid-Pandemie und der damit verbundenen Wirtschaftskrise. Massenproteste, Straßenblockaden und Anschläge von radikalen Teilen der MAS-Anhängerschaft auf Wirtschaftsbetriebe verschärften die Wirtschaftsprobleme. Eine Untersuchungskommission des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes hat zwei Großeinsätze von Militär und Polizei gegen solche Aktionen wegen der hohen Zahl der Todesopfer als Massaker eingestuft und Justiz und Polizei gravierende rechtsstaatliche Mängel attestiert – auch schon für die Zeit der Regierung Morales.

Wählerwunsch nach Ruhe auf den Straßen

Die Neuwahlen Ende 2020 gewann dann Luis Arce Catacora, der Kandidat von Evo Morales und Wirtschaftsminister der früheren MAS-Regierung. Die Wählerinnen und Wähler hofften, mit ihm werde auf den Straßen Ruhe einkehren. Arce hatte zudem versprochen, den autoritären Führungsstil und die Günstlingswirtschaft der letzten Regierungsjahre von Evo Morales zu korrigieren und Bolivien wieder auf einen soliden Wachstumspfad zu bringen.

Keine dieser Erwartungen hat sich bislang im versprochenen Umfang erfüllt. Schon als Wirtschaftsminister hatte Arce ab 2015, nach dem Ende des Booms der Rohstoffpreise, den kontinuierlichen Rückgang der Wachstumsrate nur auf Kosten einer erhöhten Staatsverschuldung abmildern können. Das konnte aber kein selbsttragendes Wachstum anstoßen. Laut einem vom katholischen Hilfswerk Misereor geförderten Bericht der Stiftung Jubileo ist das Haushaltsdefizit von 2014 bis 2020 von 3,4 Prozent auf 12 Prozent gestiegen; im Jahr 2021 lag es trotz Aufhebung der meisten Covid-Restriktionen noch bei fast 10 Prozent des Staatsbudgets. Die Auslandsschulden Boliviens haben sich im selben Zeitraum von rund sechs Milliarden auf gut zwölf Milliarden US-Dollar verdoppelt.

Seit Beginn ihrer Regierungszeit war es eine gezielte Strategie der MAS, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu stärken – auch um ihre Vorherrschaft zu sichern. So ließ sie eine Zementfabrik bauen, um dem Unternehmer Doria Medina von der oppositionellen Partei Unidad Democrática die Einnahmequellen zu beschneiden. Doch wo politische Motive vorherrschen, verwundert nicht, dass etliche der neu geschaffenen Staatsunternehmen bis heute rote Zahlen schreiben.

Mehr als vier Fünftel informell Beschäftigte im Privatsektor

Gleichwohl kann dort die Anhängerschaft beschäftigt werden. Die Zahl der Jobs im Staatssektor ist in den vergangenen 16 Jahren jährlich im Schnitt um 10 Prozent gewachsen. Im vergangenen Jahr gab es laut Nationalem Statistikinstitut rund 576.00 Stellen beim Staat. Dort wird laut einer dänischen Studie im Schnitt 40 Prozent mehr Gehalt als im Privatsektor gezahlt. Gleichzeitig ist der Anteil versicherungspflichtiger Stellen gesunken. Der Anteil der informell Beschäftigen an der Gesamtbeschäftigtenzahl lag 2005 bei gut 60 Prozent, heute liegt er deutlich über 80 Prozent; auch zwei Fünftel der beim Staat Beschäftigten sind nicht sozialversichert.

Autor

Peter Strack

ist Soziologe und schreibt regelmäßig für den latin@rama-Blog der taz sowie die Zeitschrift ila.
Als die MAS 2007 staatlich festgesetzte jährliche Lohnerhöhungen und 2013 ein bei einem Wirtschaftswachstum ab 4,5 Prozent zu zahlendes 15. Monatsgehalt einführte, brachte ihr das die Anerkennung der Gewerkschaften. Doch vor allem Kleinbetriebe mussten wegen der gestiegenen Kosten Personal entlassen und auf die informelle Mitarbeit von Familienangehörigen zurückgreifen. Die MAS hat zudem 2008 substanziell die staatliche allgemeine Mindestrente erhöht und 2018 einen kostenlosen Gesundheitsdienst für alle informell Beschäftigten eingeführt.

Bezahlt werden müssen solche Leistungen von den sinkenden Erdgaseinnahmen oder von den Steuern und Abgaben derjenigen, die im formellen Sektor beschäftigt sind. Als Folge ist dieser im Vergleich zum informellen Sektor und mehr noch der illegalen Wirtschaftsbereiche wie Schmuggel und Drogenhandel wenig konkurrenzfähig. So haben die Transferzahlungen zwar das Ansehen der Regierung erhöht und die Armutsrate in Bolivien sinken lassen. Aber zugleich haben sie den produktiven Sektor und die Sozialversicherungssysteme geschwächt.

Paradigmatisch für die politische Korruption in Bolivien ist der staatliche Fonds für indigene und Kleinbauerngemeinden FONDIOC. Dessen Geld ging vorzugsweise an Gemeinden oder ihre Vertreterinnen und Vertreter, die bereit waren, die MAS politisch zu unterstützen. Wo es Widerspruch gab, landete ein Teil der Gelder auf Privatkonten der MAS-Unterstützer, um die kritischen Gemeinden oder Basisorganisationen zu spalten, etwa den Dachverband der indigenen Tieflandvölker. Diese Korruption hat Antonio Aramayo kurz nach seinem Amtsantritt als FONDIOC-Geschäftsführer 2015 aufgedeckt. Danach wurde dieser – nicht etwa der heutige Präsident Luis Arce, der damals als Wirtschaftsminister für diese Überweisungen die Verantwortung trug – von der politisch abhängigen Justiz ins Gefängnis gebracht. Nach sieben Jahren Misshandlungen in der Haft ist Antonio Aramayo im April im städtischen Krankenhaus von La Paz gestorben.

Eine Stelle im Staatsapparat als Lebenszweck

„Viele Instanzen wurden politisch instrumentalisiert“, kritisiert Federico Chipana, der im rebellischsten und größten Distrikt der Millionenstadt El Alto Sozial- und Umweltprojekte organisiert. „Die lokalen Organisationen wurden gespalten. Es gibt mancherorts drei Nachbarschaftsorganisationen und drei Gewerkschaftsverbände. Auch Elternbeiräte in den Schulen sind häufig nach parteipolitischer Zugehörigkeit aufgeteilt. Bei Konflikten oder Wahlen wird das von den Parteien ausgenutzt. Dabei ist es egal, ob links oder rechts, ob MAS, Dissidenten oder Opposition. Es geht vielen lokalen Anführern einfach darum, einen Arbeitsplatz zu ergattern.“ Für sie sei eine Stelle im Staatsapparat inzwischen zum Lebenszweck geworden. Dafür würden sie bei Bedarf auch die Partei wechseln.

Bei den Kommunalwahlen 2020 gingen die wichtigsten Städte und Gemeinden sowie einige sicher geglaubte Regionalregierungen an Oppositionsparteien oder an Abweichler in der MAS. Das erschwert es Parteichef Morales und Regierungschef Arce, den Begehrlichkeiten der Basis nachzukommen. Die MAS in La Paz präsentierte der Regierung nach den Wahlen eine Liste mit 1500 Namen, die Anspruch auf staatliche Jobs hätten. Sozialorganisationen aus El Alto argumentierten, sie hätten die Übergangsregierung von Jeanine Añez in die Knie gezwungen und deshalb ein Anrecht auf drei Ministerien. Und Evo Morales ließ im Parteistatut die verfassungswidrige Regel verankern, dass nur noch Parteimitglieder staatliche Posten wahrnehmen dürften. Das dient auch dazu, die Parteikasse durch zusätzliche Mitgliedsbeiträge zu füllen.

Jobs für Familienmitglieder und Verwandte

Da die wirtschaftliche Wiederbelebung nur langsam vorankommt, verstärken sich die innerparteilichen Konflikte um Posten. So musste eine Mitarbeiterin und treues Mitglied der MAS ihren Posten in der Sozialbehörde der Stadt Sacaba räumen, weil andere Parteimitglieder einfach behaupteten, sie habe sich an den Protesten gegen Morales beteiligt.

Fraglich ist auch, ob es dem MAS-Abgeordneten Rolando Cuéllar in Santa Cruz wirklich um die Erneuerung der Partei geht oder bloß darum, Stellen mit eigenen Anhängern zu besetzen. Cuéllar hat seinen Parteifreund und Gewerkschaftsfunktionär Rolando Borda wegen Korruption angezeigt, weil der drei Verwandten in der staatlichen Erdgas- und Erdölgesellschaft YPFB einen Job verschafft hatte. Zudem habe er 146 Mitarbeitende angeblich für die Gewerkschaftsarbeit freistellen lassen, wofür früher gerade mal zwei Dutzend Beschäftigte in Frage kamen. 

Auch Präsident Arce verschaffte seinen beiden Söhnen Arbeit in dem Staatsbetrieb. Seit die Journalistin Amalia Pando den Fall aufgedeckt hat, sind sie zwar nicht mehr fest angestellt, sondern nur noch als Berater bei YPFB tätig, allerdings weiterhin in leitenden Funktionen. Pando hat auch Mitschnitte veröffentlicht von Verhandlungen des Arce-Sohns Marcelo mit Nicolás Maduro, dem Präsidenten Venezuelas, über die Übergabe einer defizitären bolivianischen Düngemittelfabrik in Staatsbesitz an einen venezolanischen Staatskonzern.

Basisorganisationen als Hoffnungsträger

Keine Arbeitsplätze, dafür aber Land fordern die sogenannten Interculturales, das heißt Siedler, die in von anderen Ethnien bewohnte Territorien migrieren. Allen voran die Kokabauernfamilien, zu denen auch Evo Morales gehört. Ein Teil dieser Siedler aus dem Hochland benötigt tatsächlich Ersatz für erodierte Böden oder zusätzliches Land, damit auch ihre Kinder Landwirtschaft betreiben können. Bei der Mehrzahl handelt es sich jedoch um Bodenspekulanten. Sie dringen teilweise sogar mit Genehmigung der Behörden und mit Waffengewalt in Naturschutzgebiete oder in Territorien der indigenen Gemeinden des Tieflands ein, roden Wälder oder brennen sie einfach ab, um das Land später gewinnbringend an die Agroindustrie oder zur Ausbeutung der Bodenschätze weiterzuverkaufen. Das ist Teil der Strategie der Regierungspartei: Sie will einerseits die Wirtschaft durch Erschließung der subtropischen Gebiete und der Waldregionen am Amazonas ankurbeln, anderseits die eigene Gefolgschaft zufriedenstellen und durch die Besiedlung auch im Tiefland – einer Hochburg der Opposition – bei Wahlen besser abschneiden. Die inzwischen von den Interculturales kontrollierte Agrarreformbehörde sowie Polizei und Gerichte verschaffen den Rechten der indigenen Gemeinden keine Geltung.

Soziale Projekte sind Hoffnungszeichen: In einer Frauenkooperative wird während der Corona-Pandemie Schutzkleidung genäht.

Und so scheinen weder einzelne Fraktionen der MAS noch die geschwächten Oppositionsparteien derzeit Hoffnung in Bolivien zu machen. Das tun vielmehr sich neu artikulierende Basisorganisationen, etwa die traditionellen Sprecher der Chiquitano von San José. Auf einer Vollversammlung forderten sie jüngst das Prinzip der Agrarreform von 1953 ein, dass das Land denjenigen gehören soll, die es bearbeiten. Und sie nehmen die Regierung und deren Rhetorik vom Guten Leben in Harmonie mit der Natur beim Wort: Sie fordern keine Hilfe, sondern die Erfüllung der unter der MAS-Regierung selbst erlassenen Verfassung und der Agrargesetze.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2022: Afrika schaut auf Europa
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