Das größte Problem ist die Armut

Emran Feroz
Ein Taliban-Kämpfer bewacht die Reste der Buddha-Statuen von ­Bamiyan. Die Standbilder haben die Extremisten 2001 zerstört, heute sollen sie wieder Touristen anlocken.
Afghanistan
Die afghanische Provinz Bamiyan mit ihrer schiitischen Minderheit hat während des Krieges besonders unter
den Taliban gelitten. Doch auch von deren Gegnern fühlen die Menschen dort sich im Stich gelassen.

„Bamiyan hat die besten Kartoffeln!“, sagt Hassan Fasihi voller Stolz, während er Shorwa, afghanischen Eintopf, serviert. Das Gericht gehört zu den bekanntesten der afghanischen Küche und besteht aus Hammelfleisch, mehreren Gemüsesorten und einer gehörigen Portion Brot, die in die Brühe getunkt wird. Tatsächlich sind hier in Bamiyan die Kartoffeln nicht nur größer als anderswo in Afghanistan, sie schmecken auch besser. Sie werden in der ganzen Provinz angebaut und Fasihi hofft, dass sie eines Tages ins Ausland exportiert werden. 

Sein Optimismus vergeht allerdings, sobald es um die neuen Machthaber geht. Wie das ganze Land wird auch diese Region seit dem letzten Sommer von den militant-islamistischen Taliban regiert. Hier in Bamiyan haben die Extremisten der Zivilbevölkerung besonders viel Leid zugefügt. Denn bis heute wird die Provinz mehrheitlich von Angehörigen der Hazara-Minderheit bewohnt. Im Gegensatz zu den sunnitischen Taliban sind die meisten Hazara Anhänger des schiitischen Islam. Viele von ihnen gehörten einst Fraktionen an, die die Taliban bekämpften, etwa der im August gestürzten republikanischen Armee oder Hazara-Milizen. 

Statue wurde durch aus Stein gemeißelten Koran ersetzt

Die wohl bekannteste Miliz wurde in den 1980er und 1990er-Jahren von Abdul Ali Mazari geführt, für dessen Tod im Jahr 1995 die Taliban verantwortlich gemacht werden. Aufgrund des schiitischen Glaubens der Hazara pflegte diese Miliz besonders enge Kontakte zum Iran. Wie die meisten anderen Fraktionen waren auch die Milizen von Mazari während des Bürgerkrieges in den 1990er-Jahren für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Vielen Hazara gilt er dennoch nicht nur als Kriegsherr, sondern auch als Held, der für ihre politische Repräsentation gekämpft hat. 

Deshalb stand auf dem Hauptplatz von Bamiyan-Stadt bis zur Rückkehr der Taliban eine Statue Mazaris. Dann verschwand sie praktisch über Nacht und wurde von den Taliban durch einen aus Stein gemeißelten Koran ersetzt. „Wir sind Muslime. Niemand von uns kann etwas gegen den Koran sagen. Das wissen die Taliban auch. Aber natürlich gefällt es den Menschen hier nicht, wenn mit Mazari so umgegangen wird“, erklärt Fasihi. 

Auch Hazara unter den Taliban

Im August 2021 zogen die NATO-Truppen unter der Führung der USA aus Afghanistan ab. Bereits in den Wochen davor hatte sich der Vormarsch der Taliban, die immer mehr Distrikte eroberten, abgezeichnet. Nach dem Abzug der westlichen Soldaten und dem Zerfall der afghanischen Armee und Polizei nahmen die Taliban auch Bamiyan ein. Die Taliban, die mehrheitlich zur Volksgruppe der Paschtunen gehören, setzten in dieser Region auch auf örtliche Verbündete. 

Deshalb lassen sich in Bamiyan unter anderem auch Hazara unter den Taliban finden. Die nutzen das propagandistisch, um sich als inklusiv darzustellen. Der afghanische Politologe Niamatullah Ibrahimi erläutert indes die Strategie, die er dahinter beobachtet: „Die Taliban suchen sich meist örtliche Verbündete, die von weiten Teilen der Bevölkerung verachtet und als eine Art Aussätzige behandelt werden. Diese Konflikte werden dann von den Taliban instrumentalisiert.“ 

Taliban-Kämpfer ruhen sich in ihrer engen Unterkunft vom Dienst an den Checkpoints der Stadt Bamiyan aus.

Hazara-Gebiete systematisch benachteiligt

Ibrahimi beschäftigt sich seit Jahren mit der Situation der Hazara in Afghanistan und lehrt gegenwärtig an der Trope University in Australien. Wie er berichtet, sind weite Teile der Hazara nach wie vor von Gräueltaten der Taliban in den 1990er und frühen 2000er-Jahren traumatisiert. Zum Beispiel ermordeten die Taliban im Massaker von Yakawlang im Januar 2001 Hunderte Zivilisten. Die Überreste des Marktes von Yakawlang, den sie dabei niederbrannten, sind bis heute sichtbar. Angst und Skepsis gegenüber den Taliban seien deshalb weiterhin verbreitet. „Jetzt sind sie hier und wir können daran nichts ändern“, sagt Fasihi dazu nur knapp. Die Einwohner Bamiyans seien gezwungen, mit den neuen Tatsachen zu leben; immerhin gebe es weniger Probleme als anfangs gedacht.  

Zudem sei das größte Problem im Alltag die Armut. „Die Menschen hier waren schon immer arm. Nun sind sie noch ärmer. Hazara-Gebiete wurden in den letzten Jahren systematisch benachteiligt. Daran hat sich bis heute nichts geändert“, erzählt er. Internationale Gelder und Hilfsgüter würden die Region schon lange nicht mehr erreichen. Seit Jahren ist Hassan Fasihi für eine internationale NGO tätig, deren Namen er allerdings nicht öffentlich nennen möchte, um nicht identifizierbar zu sein. Sie gehört zu den wenigen, die weiterhin in Bamiyan tätig sind. 

„Ich sehe hier keine Zukunft. Bald bin ich weg“

Autor

Emran Feroz

ist freier Journalist und Autor des Buches „Der längste Krieg“ über den „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan.
„Ich werde mit meiner Familie hierbleiben und schauen, wie sich die Situation entwickelt“, resümiert Fasihi. Doch viele seiner Arbeitskollegen sind bereits geflüchtet oder haben zumindest vor, sich in naher Zukunft mit Hilfe ausländischer Kontakte ins Ausland abzusetzen. „Ich sehe hier keine Zukunft. Bald bin ich weg“, sagt etwa Munawar Karimi, ein Freund und Kollege Fasihis. Gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern will er in den Iran reisen. Seine Söhne seien bereits in Europa. 

Karimi stammt ursprünglich aus Kabul, doch in den letzten Jahren war er für seinen Arbeitgeber, ebenfalls eine NGO, in ganz Afghanistan unterwegs, vor allem in Bamiyan sowie im entlegenen Wakhan-Korridor im Norden des Landes. „Ich habe bereits in den 1990er-Jahren Musikkassetten vernichtet und mich vor den Taliban versteckt. Diese Typen sind immer noch die gleichen und das mache ich nicht nochmal mit“, sagt Karimi. Er sei mit seinen 50 Jahren ein alter Mann, doch seine Kinder hätten eine bessere Zukunft verdient. 

Schulen sind für Mädchen weiterhin geschlossen

Vor allem für seine Töchter sieht Karimi schwarz. Fast in ganz Afghanistan ist Mädchen der Besuch einer weiterführenden Schule, über die sechste Klasse hinaus, weiterhin verboten. Das Versprechen, alle Schulen zu öffnen, haben die Taliban im März gebrochen. Bildungseinrichtungen, die noch geöffnet sind, werden zunehmend von einer strikten Geschlechtertrennung und den Lehrplänen des neuen Regimes dominiert. „Viele Menschen fliehen, weil sie ihren Töchtern Bildung ermöglichen wollen“, sagt Karimi. Dann zeigt er auf die Überreste der legendären Buddhas von Bamiyan. Wenige Monate vor dem Fall ihres Regimes im Jahr 2001 haben die Taliban diese berühmten Statuen im Bamiyan-Tal zerstört. Von dem Weltkulturerbe sind heute nur Überreste übrig. „Denken Sie wirklich, dass man mit denen eine Zukunft hat?“, fragt er ins Nichts. 

Nach dem Fall der Taliban 2001 haben verschiedene Regierungen und auch NGOs mehrere Versuche unternommen, die Buddhas zu restaurieren. Gleichzeitig besuchten nicht nur zahlreiche Archäologen und Historiker Bamiyan, sondern auch inländische und ausländische Touristen. Zwischen 2001 und 2020 schossen Hotels und Gaststätten aus dem Boden. Zu den bekanntesten Attraktionen zählten die Überreste der Buddhas, deren Höhlenräume weiterhin zugänglich waren, und auch die legendären Band-e-Amir-Seen, die rund drei Stunden entfernt von Bamiyan-Stadt liegen. 

Mohammad Hossain besucht mit seiner Familie einen Schrein nahe dem See von Band-e Amir. Taliban, sagt er, sieht er in seinem Dorf sehr selten.

Die Buddha-Statuen werden von ihren einstigen Zerstörern bewacht

Heute finden sich hier kaum noch Touristen. Die Buddha-Statuen werden mittlerweile von ihren einstigen Zerstörern bewacht, die von den wenigen Besuchern Eintritt verlangen – dazu stehen zwei gelangweilt wirkende Taliban-Kämpfer vor einem verlassenen Souvenirladen. „Wir machen nur, was uns aufgetragen wurde“, sagt einer von ihnen. Er trägt eine Pelzmütze und eine Kalaschnikow. Sein Kamerad ist mit dem Hören von Taranas beschäftigt, religiösen Gesängen, die bei den Taliban beliebt sind. Wie Munawar Karimi erzählt, hat früher eine junge Hazara-Frau das Souvenirgeschäft betrieben. Sie verkaufte Schmuck und andere Andenken. Auch sie wurde von den Taliban verdrängt. 

Besonders wütend macht die Bewohner der Region, dass sie von den damaligen Machthabern im vergangenen Sommer derart im Stich gelassen wurden. Führende Warlords und Hazara-Persönlichkeiten wie Mohammad Mohaqiq und Ex-Vizepräsident Karim Khalili haben frühzeitig das Land verlassen, ähnlich wie der damalige Präsident Ashraf Ghani. Der ist am 15. August 2021 mitsamt seines Mitarbeiterstabes aus Kabul geflüchtet und hat sich ins benachbarte Tadschikistan abgesetzt, bevor die Taliban in die Hauptstadt einfielen. 

Fast jedes Militärgerät befindet sich in den Händen der Taliban

„Zur Hölle mit ihnen. Ihre Masken sind gefallen und sie sind weg. Das ist gut!“, sagt Mohammad Hossain. Gemeinsam mit seiner Familie hat er einen Schrein nahe den Seen von Band-e-Amir besucht. Der Legende zufolge hat das Schwert von Ali, des Vetters und Schwiegersohns des Propheten Mohammad, einen Felsbruch ausgelöst, der die Stauseen entstehen ließ. Mit den Taliban hat Hossain keine Probleme, wie er sagt. Er bekommt sie kaum zu Gesicht. Bisher haben die neuen Machthaber sein abgelegenes Dorf erst einmal aufgesucht. „Das ist sogar für sie zu weit“, sagt Hossain lächelnd. 

Während er spricht, fliegt ein Hubschrauber über die Stauseen. Fast jedes Militärgerät in Afghanistan befindet sich mittlerweile in den Händen der Taliban. Im Laufe des Abzugs wurde ihnen vieles praktisch überlassen. Später wurde bekannt, dass das US-Militär schweres Militärgerät nicht mitnehmen konnte und es deshalb zerstörte oder unbrauchbar machte. Doch die Humvees und Fluggeräte der afghanischen Armee sind noch weitgehend funktionsfähig und werden nun von den neuen Machthabern benutzt. 

Wahrscheinlich wollten sie einen Blick auf den See werfen. Viele Taliban-Kämpfer waren noch nie in Bamiyan“, erklärt Munawar Karimi. Eine hochrangige Taliban-Delegation soll vor Kurzem in die Provinz gekommen sein. „Wir haben jeden von ihnen mitsamt ihrer Fahrzeuge gefilzt“, sagt Khalilullah, ein Taliban-Kämpfer, der vor den Toren Bamiyans patrouilliert. Wer die Stadt betreten will, muss am Checkpoint vorbei. Vor Kurzem seien ihnen bewaffnete Milizen in die Arme geraten, so Khalilullah. Er beharrt darauf, dass die „Ära der Korruption“ vorbei sei und deshalb mit jedem gleich umgegangen werde, auch mit Taliban-Delegationen aus anderen Provinzen. 

Er selbst sei nicht aus Bamiyan, sondern aus der nördlichen Provinz Baghlan. Vor rund 20 Tagen sei er gemeinsam mit seinen Kameraden hierher verlegt worden. Die Buddhas oder die blauen Seen von Band-e Amir habe er noch nicht bestaunen können. „Ich möchte demnächst einen Ausflug machen, falls es mir erlaubt wird. In all den Jahren des Krieges habe ich nichts Schönes von meiner Heimat gesehen“, sagt er, bevor er sich verabschiedet und den nächsten Wagen kontrolliert.  

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erschienen in Ausgabe 7 / 2022: Das Zeug für den grünen Aufbruch
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