Die Sanktionen treffen die Falschen

Getty Images/Nava Jamshidi
Unterernährte Babys werden im Indira Gandhi Krankenhaus in Kabul behandelt. In Afghanistan herrscht inzwischen eine humanitäre Krise. Auch weil der Westen nach der Machtübernahme der Taliban alle Entwicklungszusammenarbeit gestoppt hat und das Land inzwischen wirtschaftlich isoliert ist.
Afghanistan
Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban leiden fast alle Afghaninnen und Afghanen an Hunger und wirtschaftlicher Not. Obwohl die Taliban die Menschenrechte verletzen, muss der Westen mit ihnen zusammenarbeiten. Nur so lässt sich das Leid der Menschen lindern.

Krieg in der Ukraine, Dürre in Europa, Gasnotstand, Corona: Über all diesen Krisen würde man im Westen Afghanistan wohl gerne vergessen. Nicht nur wegen des chaotischen Truppenabzugs im August 2021, sondern auch weil fast 20 Jahre Militäreinsatz dort am Ende so vieles nicht erreicht haben. Doch gerade weil die Nato und ihre Partner zwei Jahrzehnte in Afghanistan stationiert waren, dürfen sie die Menschen dort jetzt nicht im Stich lassen. 

Wie dramatisch die Lage in Afghanistan ist, zeigen die Zahlen des UN-Welternährungsprogramms (WFP): Mehr als die Hälfte aller Bürger, rund 22 Millionen Menschen, leiden an akutem Hunger, neun von zehn Afghanen bekommen nicht genug zu essen. Dürren haben viele Ernten zerstört, Menschen haben ihre Jobs verloren und können sich Lebensmittel nicht leisten. Verzweifelte Eltern müssen tatenlos zusehen, wie ihre schwächsten Kinder verhungern. Das WFP und all die anderen Hilfsorganisationen, aber auch Afghanen in der Diaspora tun ihr Möglichstes, um den Menschen zu helfen. Allein das WFP hat seit Anfang 2021 nach eigenen Angaben 15 Millionen Afghanen mit Essen versorgt. Doch erstens reicht das nicht und zweitens ist das nur kurzfristige Nothilfe. 

Das abrupte Ende der Entwicklungszusammenarbeit nach der erneuten Machtübernahme der Taliban hat die Lage extrem verschlimmert. Mit der neuen Regierung wollen westliche Geber nicht zusammenarbeiten. Denn Frauen haben unter den Taliban kaum noch Rechte, viele dürfen nicht mehr arbeiten, Mädchen nicht die weiterführende Schule besuchen. Lebensgefährlich ist es auch für Menschen, die vor August 2021 für die westlichen Truppen oder die damalige Regierung gearbeitet haben, weil sie für die Taliban „Verräter“ sind. 

Guthaben der afghanischen Zentralbank ist in den USA eingefroren

Doch es schadet am meisten der Bevölkerung, dass das Land wirtschaftlich isoliert und abgestraft wird. Vor August 2021 wurden drei Viertel aller Staatsausgaben etwa für Schulen und Krankenhäuser von der internationalen Gemeinschaft gedeckt. Ein Fonds der Weltbank, über den die öffentlichen Bediensteten vom Lehrer bis zum Gesundheitspersonal ihre Löhne bekamen, wurde auf Anweisung des größten Gebers, den USA, wurde noch 2021 um zwei Milliarden US-Dollar gekürzt. Das Guthaben der afghanischen Zentralbank – rund sieben Milliarden US-Dollar – ist in den USA eingefroren. Deswegen funktioniert in Afghanistan das Bankwesen nicht und es kann kaum Geld ins Land fließen. Zu all dem kommen noch die Anti-Terror-Sanktionen gegen die islamistischen Taliban. 

Hilfsorganisationen und mehrere US-Ökonomen fordern deshalb zu Recht, diese Isolation zu lockern und das Guthaben der Zentralbank freizugeben. Denn erst wenn der Bankensektor wieder funktioniert und Geld im und ins Land fließt, kann kurzfristig geholfen und langfristig die Wirtschaft so angekurbelt werden, dass sie Menschen wieder in Lohn und Brot bringt. 

Der Westen muss mit den Taliban verhandeln

Dabei wird es unausweichlich sein, auch mit den Taliban zu sprechen. Immerhin, hinter verschlossenen Türen passiert das bereits – die USA tun es, aber auch die Europäer. Ziel sollte sein, dass die afghanische Zentralbank wieder arbeitet. Um zu verhindern, dass die Taliban das Geld vereinnahmen, müssten Schutzmechanismen eingebaut werden – so können Transaktionen von außen überwacht werden. In Palästina zum Beispiel haben die USA Hilfsgelder direkt an nichtstaatliche Organisationen und lokale Partner gegeben und so Hilfe im Gazastreifen ermöglicht, ohne dass die dort herrschende Hamas darauf zugreifen konnte. Aber für Geldtransfers braucht es eben Banken. Natürlich ist das nicht einfach, und es wird Schlupflöcher geben. Aber es ist keine Alternative, die Afghaninnen und Afghanen einfach ihrem Schicksal zu überlassen. 

Vereinbarungen mit den Taliban sollten dazu führen, das Leid der Menschen zu lindern. Deren schwere Menschenrechtsverletzungen als Vorwand zu nehmen, nicht zu verhandeln, ist heuchlerisch. Denn mit anderen Regimen, die Menschenrechte missachten, verhandelt der Westen ja auch – wenn es um die eigenen Interessen geht. 

Gespräche und Vereinbarungen mit den Taliban heißen übrigens nicht, dass man damit deren menschenverachtende Politik akzeptiert oder sie gar als Regierung anerkennt. Natürlich muss man Hilfe an Auflagen knüpfen und die Taliban drängen, dass sie zum Beispiel Frauen arbeiten und Mädchen zur Schule gehen lassen. Und es gibt moderate Taliban, die eher zu Kooperationen bereit sind. Doch selbst wenn nicht, hat die internationale Gemeinschaft nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch eine  völkerrechtliche: Das Überleben der Menschen in Afghanistan sollte gesichert werden. Sanktionen, die das noch schwerer machen, sind nicht gerechtfertigt und gehören zumindest abgemildert. Wer jetzt nicht handelt, wird dabei zusehen können, wie Afghanistan sich zum gescheiterten Staat entwickelt und unschuldige Menschen wegen des Versagens des Westens sterben. 

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In den Mainstream Medien wird nur die süchreckliche Lage der Menschen in Afghanistan thematisiert. Die missliche wirtschaftliche Situation, auch bedingt durch Wegfall der finanziellen Hilfen, durch Sanktionen und Beschlagnahme der sieben Milliarden der afghanischen Zentralbank wird so viel wie nicht thematisiert. Hier ist m.E. ein massierte Aufforderung an viele Pressemedien notwendig.
Gerade eben wurde in einer Sendung in WDR 5 als Ursache für die missliche wirtschaftliche Lage genannt, dass dle Taliban käpfen können, aber nicht am Schreibtisch sitzen.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2022: Fragen, messen, publizieren
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