Bahn frei für die Gen-Schere?

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picture alliance / NurPhoto | Mauro Ujetto
Reisernte in der Region Vercelli in Italien. Immer häufiger werden Kulturen ausgesät, die widerstandsfähiger gegen Wasserknappheit sind. Im Frühjahr 2023 will die EU-Kommission Regeln zur Genehmigung von Lebensmitteln vorschlagen, die mithilfe der sogenannten Gen-Schere hergestellt wurden und zum Beispiel resistenter gegen Trockenheit sind.
EU-Landwirtschaft
Die EU-Kommission will im Frühjahr 2023 über die Regulierung neuer gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft entscheiden. Europäische Umweltorganisationen, Ökobauern sowie Verbraucherschützer kritisieren das Verfahren.


Eine Koalition aus Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen sowie Vertretern der ökologischen Landwirtschaft kritisiert scharf die öffentliche Konsultation der EU-Kommission zur Frage, wie mithilfe neuer gentechnischer Verfahren gezüchtete Pflanzen in der Europäischen Union künftig reguliert werden sollen. In einem offenen Brief von Anfang Oktober an die federführende EU-Kommissarin für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Stella Kyriakides, monieren sie, der Ton der Konsultation, die Fragen, die darin gestellt würden, sowie die vorgestellten Optionen seien einseitig. Das Verfahren „enthüllt das offenbar bereits beschlossene Ziel, neue gentechnische Verfahren zu deregulieren“, heißt es in dem Brief.

Im Frühjahr 2023 will die Kommission Regeln zur Genehmigung von Lebensmitteln vorschlagen, die mithilfe neuer gentechnischer Verfahren wie der sogenannten Gen-Schere hergestellt wurden. Sie hält das für nötig, weil die zurzeit gültige Richtlinie aus dem Jahr 1999 nicht mehr der Technik entspreche. Wer derzeit in der Europäische Union gentechnisch veränderte Lebensmittel anbauen und vermarkten will, muss das Produkt aufwendig auf mögliche Risiken für Mensch und Umwelt testen lassen, bevor es genehmigt werden kann. Die gut zwanzig Jahre alte Richtlinie stammt aus einer Zeit, in der Agrarkonzerne wie Monsanto Produkte wie pestizidtoleranten Mais oder herbizidtolerantes Soja auf den Markt brachten. In diese Pflanzen wird fremdes Genmaterial eingebaut, um die gewünschte Eigenschaft zu erreichen – für viele Umweltschützer und Landwirte ein inakzeptabler Eingriff.

Seitdem hat sich die Technik weiterentwickelt: Mit der Gen-Schere etwa lässt sich das Erbgut einer Pflanze gezielt manipulieren, um ein bestimmtes Merkmal wie Resistenz gegen Trockenheit zu verstärken, ohne fremde DNA einzubauen. 2018 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, auch nach diesen neuen Verfahren geänderte Pflanzen müssten das Genehmigungsverfahren aus dem Jahr 1999 durchlaufen. In der Saatgutindustrie, bei vielen Wissenschaftlern und bei Bauernverbänden sorgte das Urteil für Kopfschütteln: Ihrer Ansicht nach wird mit den neuen gentechnischen Verfahren im Unterschied zur alten Gentechnik lediglich gezielt herbeigeführt, was auch bei einer natürlichen Mutation geschieht.

Auch einige EU-Staaten hatten Fragen nach dem EuGH-Urteil und beauftragten die Kommission, sich der Sache anzunehmen. In einer im April 2021 vorgelegten Studie kommt sie im Unterschied zum EuGH zum Schluss, dass für die neuen gentechnischen Verfahren eine neue Richtlinie erforderlich sei. In den vergangenen Monaten hat die Kommission deshalb eine Art öffentliche Online-Anhörung durchgeführt, an der sich jede und jeder beteiligen konnte. Zusätzlich hat sie gezielt Interessenvertreter befragt, etwa von Unternehmen, der Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Laut der Zusammenfassung der öffentlichen Anhörung haben sich rund 2300 Personen und Institutionen daran beteiligt, zwei Drittel davon einzelne Bürgerinnen und Bürger. Vier von fünf Teilnehmer waren demnach der Ansicht, dass die bestehende Gentechnik-Richtlinie angesichts der technischen Fortschritte geändert werden muss, einer von fünf war sogar der Ansicht, mithilfe der Gen-Schere hergestellte Pflanzen sollten gar nicht mehr auf potenzielle Risiken geprüft werden müssen. Zugleich war eine Mehrheit der Ansicht, dass aus solchen Pflanzen hergestellte Lebensmittel entsprechend gekennzeichnet werden sollten.

In ihrem offenen Brief kritisieren die unterzeichnenden Organisationen die Aussagekraft der öffentlichen Anhörung als fragwürdig, weil die Kommission nichts dazu sage, welche Folgen für die Landwirtschaft und die Lebensmittelsicherheit unterschiedliche Entscheidungen möglicherwiese haben. Zudem frage die Kommission in einem Atemzug nach der Risikoeinschätzung der neuen Gentechniken und nach ihren möglichen Vorteilen für eine nachhaltige Landwirtschaft. Beides müsse aber getrennt voneinander beurteilt werden: Erst wenn die Risiken geklärt seien, könne über mögliche nützliche Anwendungen gesprochen werden.

Aus der Politik wächst unterdessen der Druck, die neuen gentechnischen Verfahren von der strengen Regulierung nach der Richtlinie von 1999 zu befreien. Der alte Rechtsrahmen müsse geändert werden, erklärte der tschechische Landwirtschaftsminister Zdenek Nekula Mitte September nach einem Treffen mit seinen EU-Kollegen in Prag. In Zeiten des Klimawandels, gestörter Lieferketten etwa für Dünger sowie steigender Energiepreise müssten die europäischen Bauern landwirtschaftliche Innovationen nutzen dürfen – eine Einschätzung, die etliche andere EU-Mitglieder teilen, darunter Schweden, Litauen, die Niederlande, Italien und Irland. Bundesagrarminister Cem Özdemir erklärte hingegen laut einem Bericht des Onlinedienstes „EurActiv“ nach dem Treffen, die neue Gentechnik habe zwar Potenzial, könne aber nicht alle Bedenken ausräumen.

Für die Unterzeichner des offenen Briefes an die Kommission ist hingegen klar, dass das EuGH-Urteil weiter Bestand haben muss. Eine Deregulierung der Gen-Schere würde die Umwelt und die Lebensmittelsicherheit gefährden sowie Verbrauchern und der ökologischen Landwirtschaft schaden, schreiben sie.
 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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