„Die meiste Hilfe haben syrische NGOs geleistet"

picture alliance / NurPhoto/Rami Alsayed
Eine kleine Ablenkung vom Leid: Menschen, die von dem Erdbeben betroffen sind, brechen ihr Fasten inmitten der zerstörten Häuser in der Stadt Al-Atarib im Umland von Aleppo, im Nordwesten Syriens. Das Foto entstand am 31. März 2023.
Erdbeben in Syrien
Im Nordwesten Syriens hat das Erdbeben vom Februar Gebiete zerstört, in denen nach zwölf Jahren Krieg schon Not und Elend herrschten. Die Nothilfe wird dort nun von allen Seiten politisch missbraucht und behindert.

Joseph Daher ist Lehrbeauftragter am European University Institute in Florenz, Mitarbeiter des dortigen Forschungsvorhabens „Wartime and Post-Conflict in Syria“, Autor und Blogger. Er stammt aus Syrien.

Das Epizentrum des Erdbebens im Februar lag in der Türkei, nicht weit von der Grenze zum Nordwesten Syriens, und dort gab es auch viele Opfer. Wer hat die Kontrolle über die am schwersten betroffenen Gegenden Syriens? 
Nach den jüngsten Zahlen hat das Beben in Syrien mehr als zehntausend Menschen das Leben gekostet, die meisten davon in Nordwest-Syrien. Der größte Teil dieses Gebietes fällt unter die Syrische Interimsregierung. Die gehört offiziell zur Exilregierung der syrischen Opposition gegen Syriens Staatschef Baschar al-Assad, aber ihr Gebiet wird direkt oder indirekt von der Türkei kontrolliert. Die Institutionen der Interimsregierung sind sehr schwach; die meiste Hilfe nach dem Erdbeben hat nicht sie gleistet, sondern das haben syrische nichtstaatliche Organisationen (NGOs) getan und, mit Verzögerung, UN-Organisationen. Ein anderer Teil des schwer betroffenen Gebietes, die Region Idlib ganz im Nordwesten, wird von Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS) beherrscht. Das ist eine Koalition von Dschihadistengruppen, gewissermaßen ein Kind von al-Qaida; sie unterliegt UN-Sanktionen. Erdbebenschäden gab es auch in Gegenden unter Kontrolle der syrischen Regierung, darunter Aleppo.

Wie kann man internationale Hilfe in Gebiete bringen, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden? 
Über die Regierung in Damaskus wird nur ungefähr ein Prozent der Hilfe nach Nordwest-Syrien gebracht; das nennt sich „cross-line“, über die Frontlinie. Der größte Teil der humanitären Hilfe – auch schon vor dem Erdbeben – muss über die türkische Grenze geliefert werden, das nennt sich „cross-border“. Dafür ist jetzt nur noch ein Grenzübergang offen, Bab al-Hawa. Vor 2020 konnten zeitweise mehrere Übergänge aus Jordanien und dem Libanon, der Türkei und dem Nordirak genutzt werden. Aber Russland und China haben 2019 und 2020 im UN-Sicherheitsrat mit Vetos erreicht, dass über die meisten dieser Grenzübergänge keine Hilfe mehr in Rebellengebiete gebracht werden darf – nur noch über Bab al-Hawa. Seitdem geht der größte Teil der Hilfe für Nordwest-Syrien über den Knotenpunkt Gaziantep in der Türkei. Das ist jetzt stark erschwert, weil bei dieser türkischen Stadt das Epizentrum des Bebens lag und es dort schwere Zerstörungen gebracht hat. Im Ergebnis konnten die UN-Hilfsagenturen erst nach acht oder neun Tagen in Nordsyrien helfen. 

Kann die Türkei nicht Mittel und Wege finden, Hilfe in Gebiete Syriens zu bringen, die sie selbst faktisch kontrolliert? 
Da gibt es ein weiteres Problem: Der Nordwesten Syriens untersteht, obwohl es dort die Interimsregierung gibt, praktisch direkt den Gouverneuren der südtürkischen Provinzen. Und die Hilfe aller NGOs und türkischen Organisationen in Nordwest-Syrien wird koordiniert von der türkischen „Präsidentschaft für Katastrophen- und Notfallmanagement“ (AFAD), die dem Innenministerium untersteht. Auf das Erdbeben in Syrien hat die erst fast gar nicht reagiert. Die meiste Hilfe haben syrische NGOs geleistet, vor allem die Weißhelme. Dann hat die AFAD offenbar bestimmte NGOs, vielfach islamische, gegenüber anderen begünstigt. Zudem hatte Präsident Erdogan sie geschwächt, und das zunehmend autoritäre System bringt Vetternwirtschaft mit sich. So hat der Chef der AFAD nicht etwa Katastrophenhilfe oder etwas Ähnliches studiert, sondern ist Doktor der Religionsstudien. Die AFAD ist für ihre schlechte Handhabung der Erdbebenkatastrophe in der Türkei scharf kritisiert worden und hatte schon auf die Brände im Jahr 2021 nicht wirksam reagiert. Wie soll man da wirksames Handeln in Nordsyrien erwarten? 

Blockiert die Regierung Assad aus politischen Gründen Hilfe für Nordwest-Syrien? 
Der größte Teil der internationalen Hilfe, der über die Regierung in Damaskus läuft, geht in von ihr selbst kontrollierte Gebiete. Nach dem Erdbeben hat Assad allerdings angekündigt, seine Regierung werde den Opfern helfen. Sie hat dann einen oder zwei Laster mit Hilfsgütern geschickt, die sie nicht selbst aufgebracht hatte, es war internationale Hilfe. Aber die Lieferung hat der Chef der HTS zurückgewiesen. Auch die Syrische Interimsregierung hat auf Geheiß türkischer Behörden Hilfe aus Damaskus abgelehnt. 

Benutzt auch HTS die Nothilfe für politische Zwecke? 
Ja. HTS hat in Idlib die „Regierung der Rettung Syriens“ gebildet, die viel disziplinierter und besser organisiert ist als die türkisch kontrollierte Interimsregierung. Nach dem Erdbeben hat sie nicht selbst Hilfe geleistet, aber lokale Gruppen unterstützt, die das taten. Generell – nicht nur nach dem Erdbeben – übt HTS allerdings Druck auf NGOs aus, zum Beispiel in bestimmten Lagern zu helfen, in denen HTS viele Unterstützer hat. Sie wirkt auch auf die Gestaltung der Programme ein und verbietet zum Beispiel die Förderung von Frauenrechten oder der Demokratie. Oder sie drängt humanitäre Organisationen, Familien ihrer Kämpfer auf die Empfängerlisten zu nehmen. Die sind vielleicht ebenfalls arm und haben Anspruch auf Hilfe, aber es geht auch um Begünstigung der eigenen Klientel.

Die Crisis Group hat jüngst westlichen Geberstaaten geraten, mehr Hilfe nach Idlib zu geben und Gesprächskanäle zu HTS zu öffnen. Was halten Sie davon?
Das Gebiet sollte mehr Nothilfe und auch stärker entwicklungsorientierte Hilfe erhalten. Als HTS die Kontrolle in Idlib 2018 übernahm, mussten sich viele NGOs zurückziehen – nicht nur wegen Sicherheitsbedenken, sondern wegen der Sanktionen und Einwänden der Geber; selbst wenn nur unter den Begünstigten Leute waren, die HTS nahestanden, war das schon ein Fall für Sanktionen. Das ist kontraproduktiv. Aber es geht nicht darum, direkt mit HTS zusammenzuarbeiten – ebenso wenig wie mit der Regierung Assad. 

Gibt es Wege, ohne Zusammenarbeit mit HTS zu helfen? 
Das ist sicher schwierig. Aber was genau heißt Zusammenarbeit? Soll man der „Regierung der Rettung Syriens“ direkt Geld geben? Da habe ich Vorbehalte, das würde HTS stärken. Nötig ist mehr Flexibilität, damit NGOs in Idlib helfen können ohne Angst, deshalb mit Sanktionen belegt zu werden. Für andere Teile Nordsyriens gibt es eine solche Ausnahmeregelung, aber nicht für Idlib. Das sollte man ändern. 

Wie gehen internationale NGOs mit diesen politischen Problemen um? 
In Idlib sind meines Wissens zurzeit gar keine internationalen NGOs tätig. Die meisten einheimischen NGOs in Nordwest-Syrien sind heute insofern eine Art internationale NGOs, als sie in anderen Ländern registriert sind. Zum Beispiel ist eine der wenigen NGOs, die sich aus Spenden im Land finanzieren, in der Türkei und wohl auch in Ländern Westeuropas registriert. Die große Mehrheit der NGOs in Nordwest-Syrien hängt von Geld aus westlichen Staaten ab. 

Und wie versuchen die UN-Organisationen, unter diesen Umständen zu helfen?
Das Problem mit den UN-Agenturen ist, dass sie sehr legalistisch vorgehen und Beziehungen zu Regierungen großschreiben. Sie prüfen auch nicht streng, ob sie Aufträge zum Beispiel an Geschäftsleute vergeben, die dem Regime nahestehen. 

Das Hauptproblem der Erdbebenhilfe in Syrien ist nicht Geldmangel, sondern politische Einschränkungen für den Zugang zu den Bedürftigen?
Ja und nein. Es fehlt auch am Geld. Die Zahl der Menschen in Syrien, die humanitäre Hilfe benötigen, ist gestiegen und wird auf 15 Millionen geschätzt, aber die Hilfe ist in den vergangenen Jahren gleich hoch geblieben oder leicht gesunken. Einige Projekte im Nordwesten und anderswo sind gestoppt worden. Der Fokus der EU hat sich auf die Ukraine verlagert. Aber ja, die Hilfe ist politisiert. Dafür ist an erster Stelle das Regime in Syrien verantwortlich, aber nicht nur. In geringerem Maße haben Behörden in Nordwest-Syrien dazu beigetragen. Zum Beispiel hat dort die kurdische Stadt Dschindires westlich von Aleppo, im türkisch kontrollierten Gebiet, am meisten unter dem Erdbeben gelitten. Aber sie erhielt erst spät Hilfe und dann von einer kurdischen Organisation. Und militärische Verbände, die mit der türkischen Regierung verbündet sind, zweigten von dieser Hilfe einen Teil für sich ab.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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