Palästinensische Christen äußern sich zu Antisemitismus

AFP via Getty Images/MAHMUD HAMS
Palästinensische Christen beim Gottesdienst in Gaza-Stadt.
Befreiungstheologie
Über Antisemitismus wird in Palästina genauso ungern geredet wie über den Holocaust. Die befreiungstheologische Laienbewegung Sabeel tut es trotzdem. In einem kürzlich herausgegebenen Buch ruft sie dazu auf, sich dem Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft zu stellen.

An palästinensischen Schulen ist der Holocaust an den Juden in der Regel kein Thema. Kinder und Jugendliche wissen oft gar nicht, dass die Nazis sechs Millionen Juden und Jüdinnen ermordet haben. Doch auch unter Erwachsenen wird entweder über den Holocaust geschwiegen, oder die Opferzahlen werden in Zweifel gezogen. Sie seien maßlos übertrieben, um weltweit Empathie für die jüdische Sache zu erzeugen, heißt es. Außerdem: Warum sollte man sich mit dem Holocaust beschäftigen, wo sich die Welt doch auch nicht darum schert, dass 1948 bei der Staatsgründung Israels 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser enteignet und vertrieben wurden?

Diesem gängigen Argumentationsmuster widerspricht jetzt das befreiungstheologische Zentrum Sabeel in Jerusalem. Gegründet hat das Zentrum 1989 der anglikanische Theologe Naim Ateek, heute ist es eine konfessionsübergreifende Laiengruppe mit zahlreichen Unterstützern im westlichen Ausland. Nach eigenen Angaben will Sabeel „ein genaueres internationales Bewusstsein für die Identität, die Präsenz und das Zeugnis der palästinensischen Christen sowie für ihre aktuellen Anliegen fördern“. Man müsse dringend über Antisemitismus in den eigenen Reihen reden, wenn man irgendwann einmal Frieden und Gerechtigkeit in Palästina haben wolle. Und dazu gehöre, das Leid der anderen anzuerkennen. Nach vierjähriger Arbeit hat Sabeel im April 2023 das Buch „This is Where We Stand – A Sabeel Reflection on Antisemitism“ vorgestellt. Es solle helfen, „zu erkennen, wo wir in Vorurteile oder Diskriminierung verwickelt sind“, heißt es im Vorwort. Rassismus, Hass und Diskriminierung fänden offene Türen, wenn man sich nur mit der eigenen Gruppe identifiziere und das Leiden anderer vernachlässige. Dann versage man darin, ganz Mensch zu sein. 

Israelkritik ja, Antisemitismus nein

„Wir sehen dies an der Realität vor Ort in Palästina/Israel“, heißt es weiter. „Für israelische Juden ist es schwierig, sich gegen die Gruppensolidarität in ihren Gemeinden zu stellen und die ungerechten Maßnahmen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser zu kritisieren.“ Genauso sei es für Palästinenser schwierig zu erkennen und anzuprangern, wo die eigene Gemeinschaft schädlich handle und Politiker sich falsch verhielten. „Wir fordern die Palästinenser auf, klar zwischen den Handlungen des Staates Israel und den Handlungen der Juden zu unterscheiden“, heißt es in dem Buch, das bisher nur auf Englisch vorliegt, demnächst aber auch ins Arabische übersetzt werden soll. 

Wichtig ist Sabeel, dass die Palästinenser sich nicht losgelöst von der Situation in Palästina mit Antisemitismus auseinandersetzen sollten. Man dürfe „die Herausforderungen, mit denen die Palästinenser täglich konfrontiert sind“, nicht ignorieren. Sabeel sieht im Kampf gegen Antisemitismus und im Einsatz für Gerechtigkeit in Palästina zwei Seiten derselben Medaille. „Der Kampf gegen Judenhass und der Kampf gegen die Unterdrückung der Palästinenser sind untrennbare Teile des größeren Kampfes, zu dem wir aufgerufen sind – als Christen, als Palästinenser oder einfach als Menschen: der universelle Kampf für Menschenwürde und Menschenrechte, wann immer diese irgendjemandem irgendwo verweigert werden“, heißt es am Ende des Buches. 

Als „wichtig, mutig und kreativ“ bezeichnete der israelische Jesuit David Neuhaus die Schrift bei deren Vorstellung. Wichtig sei sie, weil sie Antisemitismus und das Leid der Palästinenser in Zusammenhang bringe. Mutig sei sie, weil dieser Diskurs in der palästinensischen Gesellschaft keinesfalls gewollt sei, weil es als Schwäche gesehen werde, wenn man das Leid und die Angst der anderen an sich heranlasse und so den eigentlichen Feind als Menschen wahrnehme. Kreativ sei der Ansatz deswegen, „weil darin das Bild einer Zukunft entworfen wird, in der es keinen Antisemitismus, keinen Rassismus, keine Islamophobie, aber auch keine Besatzung, keine Diskriminierung und keine Gewalt gibt“, sagte Neuhaus.  

Die Initiative bekommt Applaus

Auch bei denen, die sich schon lange im interreligiösen Dialog engagieren, stößt Sabeel mit seinem Buch auf Interesse. Hana Bendcowsky, die Direktorin des Jerusalemer Zentrums für Jüdisch-Christliche Beziehungen, forderte dazu auf, sich mit den Ängsten und dem Leid des Gegenübers auseinanderzusetzen und ihm mit Empathie zuzuhören. Dann erst sei ein ehrlicher Austausch möglich. Natürlich rechtfertigten das Leid und die Angst der Israelis nicht die schrecklichen Dinge, die den Palästinenserinnen und Palästinensern angetan würden. „Vielmehr sollte es uns darin bestärken, nach Lösungen für Palästina zu suchen, damit die Besatzung endet.“ 

Auch aus dem orthodoxen Judentum bekommt Sabeel Applaus für das Buch. „Ich bin dankbar dafür, dass Sabeel dieses Thema anpackt und in Antisemitismus ein Problem sieht, mit dem die palästinensische Gesellschaft umgehen muss“, sagte Guy Alaluf, orthodoxer Rabbiner und Dozent für Bibel und Talmud. Er habe den Text drei Mal gelesen und habe nichts finden können, was er nicht genauso selbst sagen könne. Wie Antisemitismus beschrieben werde, genauso fühle es sich für ihn als Juden an. Auch der Begriff des Zionismus, nämlich die Idee von einer Heimstätte für das jüdische Volk, werde in dem Buch präzise in den Blick genommen: als ein koloniales Projekt auf Kosten anderer. „Wir müssen zu einer neuen Definition von Zionismus kommen“, sagte Alaluf. Es müsse darum gehen, „dass Gott uns alle hier in diesem Land haben will mit gleichen Rechten, Juden, Christen, Muslime, Israelis und Palästinenser“. Dann könnten Israelis und Palästinenser gemeinsam ein neues Israel aufbauen. „Das Buch gibt mir die Hoffnung, dass es möglich ist“, sagte der Rabbi. 

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