„Wer schon mal Stürme auf See erlebt hat, der hat ein ganz enges Verhältnis zum Glauben“

Vier Seeleute in verschiedenfarbigen Sweatshirts, frontal zu sehen, stützen sich im Seemansclub mit den Händen auf den Rand eines blauen Billardtisches. Der Raum hat eine niedrige Holzdecke, die mit orange-roten Rettungsringen geschmückt ist.
picture alliance/dpa
Kurze Auszeit: Diese ukrainischen Seeleute verbringen ihre Pause im Hamburg-Harburger Seemannsclub „Duckdalben“.
Arbeit auf Containerschiffen
Monate auf hoher See, eine gefährliche Arbeit und keinen Kontakt zur Familie: Die Arbeits- und Lebensbedingungen für Seeleute auf Containerschiffen sind hart. Im Hafen können sie Kraft tanken. Bischöfin Kirsten Fehrs, die „Stimme der Seeleute“ der Deutschen Seemannsmission, erläutert, was sie dafür brauchen und warum Schokolade, Billard und SIM-Karten besonders wichtig sind.

Kirsten Fehrs ist Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche. Seit November ist sie amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Bischöfin Fehrs, Sie sind seit 2019 ehrenamtlich „Stimme der Seeleute“ der Deutschen Seemannsmission und kommen auch in Predigten immer wieder auf das harte Leben von Seeleuten insbesondere auf Containerschiffen zu sprechen. Wo liegen die Wurzeln für Ihr Engagement?
Ich bin ein Küstenmensch, an der Waterkant aufgewachsen und als Bischöfin mit zwei Hansestädten seit Jahren fest verbunden. An dem Thema Seefahrt komme ich eigentlich gar nicht vorbei. Ich war schon immer eng verbunden mit der Deutschen Seemannsmission, speziell in St. Pauli, und dem Seemannsclub Duckdalben. Deren sozialdiakonische Arbeit in Häfen finde ich sehr wichtig, und als ich gefragt wurde, ob ich „Stimme der Seeleute“ werden wolle, habe ich nicht lange überlegt. Das ist eine sehr schöne Aufgabe, die mir gezeigt hat, wie wenig die Menschen über Seefahrt und über die Arbeitsbedingungen der Seeleute wissen. Über die Zusammenarbeit mit der Seemannsmission habe ich erfahren, was für ein hartes Leben die Seefahrt mit sich bringt. Mich beeindruckt es immer wieder zu sehen, wie segensreich Kirche hier wirken kann, auch ökumenisch. Die Mitarbeitenden der Seemannsmission habe ich als kernige, herzliche Christenmenschen kennengelernt, die ihren Glauben in praktischer Nächstenliebe leben.

Sie waren mit der Seemannsmission auf Containerschiffen im Hamburger Hafen. Welche Eindrücke haben Sie von diesen Besuchen mitgenommen?
Zunächst musste ich feststellen, dass es für einen etwas höhenängstlichen Menschen wie mich gar nicht so einfach ist, die Himmelsleiter an der Bordwand hochzuklettern. Oben angekommen ist mir sofort aufgefallen, wie freudig die Mitarbeitenden der Seemannsmission empfangen werden, weil sie Ruhe, Zeit und – auch ganz wichtig – SIM-Karten fürs Handy mitbringen, mit denen die Seeleute häufig nach Monaten das erste Mal wieder ihre Familien anrufen können. Wenn man dann später mit ihnen in der Messe sitzt, spürt man eindringlich, dass die meisten unter Fatigue leiden, also unter chronischer Erschöpfung. Auf See kriegen sie einfach keine Ruhe, die ganze Zeit wummert der Dieselmotor, manchmal müssen nur 20 Seeleute ein mehrere Hundert Meter langes Containerschiff am Laufen halten. Bis sie nach ihren Arbeitsschichten das Öl mühevoll von ihren Händen gekratzt, etwas gegessen und ausgeruht haben, steht schon die nächste Schicht bevor. Die Arbeitsbelastung ist extrem hoch. Eine Folge können schlimme Unfälle sein, von denen uns die Seeleute erzählt haben. Ihnen den Raum zu geben, über ihr Leben an Bord und die harten Arbeitsbedingungen, besonders aber über ihr Heimweh und ihre Sehnsucht nach ihren Familien zu sprechen, ist ganz wichtig. Auch dafür ist die Seemannsmission da.

Dürfen die Seeleute in den Häfen von Bord gehen?
Ja, internationale Vereinbarungen räumen Seeleuten ein Recht auf Landgang ein. Wie wichtig das ist, wurde mir während der Corona-Pandemie klar, als sie auf einmal nicht mehr von Bord durften. Da waren sie dann teilweise länger als ein Jahr ununterbrochen auf ihren Schiffen. Das ist extrem belastend und verstößt gegen Menschenrechte. Leider ist selbst ohne Pandemie der Landgang nicht immer garantiert. Entweder sind die Liegezeiten von den Reedereien so knapp bemessen, dass im Grunde keine Zeit für einen Landgang bleibt, oder die Häfen selbst versuchen, den Landgang von Seeleuten zu unterbinden. Der Hamburger Hafen zählt glücklicherweise nicht dazu. Seeleute können etwa zum Duckdalben oder zur Seemannsmission St. Pauli gehen. Auch hier spielt der Zugang zum Internet eine große Rolle. Für die Seeleute ist es das A und O, dass sie ihre Familien zu Hause kontaktieren können. Bis heute haben etliche Reedereien auf ihren Schiffen kein WLAN – das ist für mich nicht nachvollziehbar, weil es technisch machbar und heutzutage auch nicht mehr teuer ist.

Wie halten die Seeleute die monatelange Belastung an Bord aus?
Es ist beeindruckend, wie friedlich Seeleute unterschiedlichster Herkunft unter extrem schwierigen Bedingungen zusammenleben. Russen, Ukrainer, Filipinos – Menschen aus aller Herren Länder buchstäblich in einem Boot. Davon könnten wir alle etwas lernen. Jede Art von Streit oder gar Gewalt ist auf hoher See potenziell tödlich. Das sorgt für einen starken Zusammenhalt. Und auch der Glaube ist wichtig: Wer so engen Kontakt hat zum Element Wasser, wer schon mal schwere Stürme oder gar eine Havarie erlebt hat, der hat ein ganz enges Verhältnis zum Glauben, zu Gott und zur Möglichkeit, sich ihm übers Gebet anzuvertrauen. Es gibt Christen, Muslime, Hindus, alle friedlich beisammen – die Religiosität ist sehr stark.

Außer Zeit für Gespräche und Kontakt zu ihren Familien: Was brauchen die Seeleute noch im Hafen?
Medizinische Versorgung etwa, und da geht es gar nicht immer um große Verletzungen, sondern auch mal um Zahnschmerzen oder Infekte. Schokolade ist zudem sehr gefragt, die wird im Duckdalben tonnenweise verkauft – gut für die Nerven. Und ganz wichtig: Billard. Denn beim Billardspiel spüren Seeleute, dass sie an Land sind und nicht auf See, dass sie auf festem, unverrückbarem Boden stehen. Dieses Gefühl ist elementar. Einmal traf ich einen Seemann in St. Pauli, der stand mit geschlossenen Augen barfuß auf einem kleinen Stück grünem Rasen. Das war sein persönlicher Weg, um an Land anzukommen.

Das gesellschaftliche Bewusstsein für die harten Arbeitsbedingungen etwa von Näherinnen in Asien oder von Kakaopflückern in Westafrika wächst, der faire Handel ist relativ bekannt. Über die Zustände im Seetransport weiß hingegen kaum jemand etwas. Wie erklären Sie sich das?
Die Seefahrt hat einfach keine politische Lobby. Es gibt nur ganz wenige Politikerinnen und Politiker, die sich für die Belange der Seeleute zuständig fühlen. Es gibt zwar einen Koordinator für Maritime Wirtschaft und Tourismus in der Bundesregierung, aber es bräuchte mehr politisches Engagement. Jemand hat das mal als „Seeblindheit“ bezeichnet. 90 Prozent der Waren in unseren Supermärkten sind von insgesamt 1,9 Millionen Seeleuten weltweit über See transportiert worden – dafür gibt es in unserer Gesellschaft kaum ein Bewusstsein.

Was müsste sich ändern?
Wichtig ist, dass internationale Abkommen zum Arbeitsrecht, etwa der Internationalen Arbeitsorganisation, durchgesetzt werden. Da müsste sich die Bundesregierung deutlich positionieren. Und das Thema muss auch gesellschaftlich sichtbarer werden, nicht bloß in der Nische, sondern in seiner gesamten wirtschaftlichen Bedeutung. Denn wir alle hängen von der Arbeit der Seeleute ab. Ja, Fair­trade ist schon relativ bekannt, eher wenig hingegen das Bündnis „Fair übers Meer“. Selbst in einer Stadt wie Hamburg bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig die Menschen über Seefahrt wissen. Um das zu ändern, braucht es nicht zuletzt Zeitschriften wie Ihre.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2024: Von Fahrrad bis Containerschiff
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