Winzige Insel, große Gemeinschaft 

Ein Drohnenbild der Insel von oben. Rund herum liegen Fischerboote.
Mauricio Bustamante
Vor rund 330 Jahren kamen die ersten Fischer vom Festland aufs Riff, auf dem inzwischen die Insel Santa Cruz del Islote entstanden ist. Sie schliefen unter freiem Himmel, geschützt vor Mücken, und lebten vom Fischfang. Mit der Zeit entstanden erste Unterstände, dann blieben sie länger bis schließlich ein ganzes Dorf mitten im Meer wuchs.
Kolumbien
Auf der Insel Santa Cruz del Islote vor der kolumbianischen Karibikküste leben fast 1000 Menschen auf engstem Raum – ohne Privatsphäre, mit wenig Infrastruktur, aber in einer starken Gemeinschaft. Touristen bringen ihnen wichtige Einnahmen, einige Bewohner suchen ihr Glück aber auch auf dem Festland.

Wer Doña Elida Castillo Bonilla fragt, was sich in ihrem Leben am meisten verändert hat, erntet zunächst ein Schweigen. Sie blickt hinaus auf das ruhige, scheinbar endlose Karibische Meer, deutet auf den Flecken Sandboden, auf dem sie steht, und sagt: „Früher war hier Wasser.“ Heute steht hier ein Haus, ihr Haus. Auch die eng aneinanderstehenden Nachbarhäuser gab es damals nicht. Die älteste Bewohnerin von Santa Cruz del Islote hat einige davon selbst mitgebaut: „Wir haben das Land dem Meer abgerungen“, sagt Elida. 

Die Insel war einmal viel kleiner, nur ein Fels zwischen Korallenriffen. Die wenigen Fischer, die damals hier rasteten, weit entfernt vom Festland, bauten vor rund 330 Jahren einige Hütten aus Holz und mit Palmdächern, um auch über Nacht zu bleiben. Mit Muscheln, Steinen und Sand wurde die Insel langsam erweitert, später mit Schutt vom Festland. Heute wird auch mal eine Betonplattform über den Schutt angelegt. Wo heute eins der vier kleinen Geschäfte steht, lagen einst Fischerboote. Wo heute Kinder unterrichtet werden, war früher Wasser. „Es war eine andere Zeit. Langsamer. Vielleicht ärmer. Aber zugleich reicher“, sagt Elida. Ein Leben, das heute kaum mehr vorstellbar ist.

Elida erinnert sich noch sehr gut: Als sie 1930 auf der Insel geboren wurde, lebten hier 32 Familien in kleinen Holzhütten. Damals gab es 13 Häuser, heute sind es rund 100. Es gab keine Motoren an den Booten, nur Segel und Paddel. Die Reise bis nach Rincón auf dem Festland dauerte vier Stunden. Heute brauchen die Tagestouristen im Schnellboot nur eine halbe Stunde. „Früher war alles ein Geschenk“, erzählt sie. „Der Fischfang des Tages, Obst, Gemüse oder Mais – von einem vorbeifahrenden Lastenboot ergattert –, alles wurde unter den Familien aufgeteilt. Je nachdem, wie viele Münder zu füttern waren.“ Es gab wenig, aber es hat doch immer gereicht. Früher lebten die Menschen vom Fischfang, heute ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle. Die Menschen sind kreativ, einige verkaufen Kunsthandwerk, bemalte Riesenmuscheln und andere Andenken an Touristen. Aber davon können nicht alle leben, also arbeiten einige auf dem Festland, auf großen Kreuzfahrtschiffen oder sogar im Ausland.

Dona Elida Castillo Bonilla posiert für ein Foto am Ufer der Insel Santa Cruz del Islote vor ihrem Haus. Sie wurde 1930 auf der Insel geboren und hat miterlebt, wie sehr sich das Leben auf der Insel mit der Zeit verändert hat.

Tagsüber gibt es keinen Strom

Elida hat acht Kinder großgezogen, sie hat viele Enkel, Urenkel und sogar Ururenkel. Früher lebte ihre Familie noch mit Schweinen und Hühnern hier. Heute ist das anders – es gibt mehr Plastik, elektrische Geräte, Handys, weniger Tiere. Auf der Fläche eines Fußballfeldes wohnen knapp 1000 Menschen. Der einzige öffentliche Raum ist ein Dorfplatz, der gleichzeitig Pausenhof, Spielplatz, Disco und Treffpunkt aller Generationen ist. Hier klappt ein kleiner Eckladen morgens und nachmittags seine Läden hoch und bietet Süßkram und kalte Getränke an, ebenso wie Reis, Öl, Zucker und andere Grundnahrungsmittel. Hier steht das Kreuz aus Beton, das der Insel ihren Namen gibt. Im Laufe der Zeit ist aus dem einstigen Holzkreuz der Fischer eine feste Installation geworden.

Bis heute ist das Leben auf Santa Cruz prekär, es gibt keine Brunnen oder Quellen und tagsüber keinen Strom. Das Trinkwasser kommt entweder in einem Tank mit einem Boot aus Cartagena oder die Inselbewohner holen mit Kanistern Wasser von einer anderen Insel. Wenn es genug regnet, wird das in einem Tank aufgefangene Wasser aufgeteilt. Aber es regnet nicht oft. Ein anderes Boot holt den Müll ab und bringt Diesel für den Generator. Der wird gemeinschaftlich betrieben, so dass es in jedem Haushalt zumindest von 18 Uhr bis in die Morgenstunden Strom gibt. Die Menschen laden dann ihre Handys auf und schalten den Ventilator ein, denn auch nachts sinken die Temperaturen selten unter 30 Grad.

Manche wollen weg von der Insel

Elida bedauert, dass viele ihrer Kinder nicht mehr auf der Insel wohnen. Sie suchen anderswo Arbeit, denn das Leben auf der Insel ist hart. Ihr Enkel Luis Fernando ist 32 Jahre alt. „Es gibt nicht viel zu tun“, sagt er. Wenn mehr Touristen auf die Insel kommen würden, hätten sie mehr Arbeit. Wenn er nachts sein Handy aufgeladen hat, hört er Musik. Er wünscht sich eine Konsole, um selbst elektronische Musik zu produzieren. „Es ist gut hier, aber ich würde gerne die Welt kennenlernen, reisen, Musik machen“, erzählt er. Ein paar Jahre hat er sich auf dem Festland durchgeschlagen, seinen Traum verfolgt, Musiker zu werden. Doch vor einigen Monaten kehrte er zurück, weil er keine Arbeit mehr gefunden hat. Er kennt die Vorteile der Insel, sie ist ein sicherer Hafen. Aber es zieht ihn weg. Hier sind zu viele Menschen, er ist gerne allein. 

Nicht weit von Elidas Haus wohnt Susana. Sie ist die einzige Lehrerin, die auf der Insel geboren wurde und auch hier lebt; alle anderen kommen vom Festland. In der Schulwoche wohnen sie auf der Insel, am Wochenende bei ihren Familien auf dem Festland. Susana lebt mit ihrem Mann Felipe und ihren Kindern in einem Haus mit Terrasse und Meerblick. Sie hat eine achtjährige Tochter mit dem poetischen Namen „Meeresbrise“, vor einigen Monaten wurde ihr Sohn Juan Felipe geboren. 

Fast 400 Kinder werden in einer Schule unterrichtet

Die Schule auf Santa Cruz del Islote ist die einzige des Archipels mit zehn Inseln, von denen drei bewohnt sind. Einige Kinder kommen von dort mit dem Boot zur Schule. Es ist ein einfaches Gebäude am Dorfplatz, das allerdings einsturzgefährdet ist. Daher findet der Unterricht für die fast 400 Kinder zurzeit in den Nachbarhäusern statt. Im Erdgeschoss drängen sie sich nach Altersstufen verteilt in kleinen Räumen. Die Kinder bekommen vormittags Wasser, Milch, einen Keks und etwas Obst. Die Schule ist staatlich, es wird kein Schulgeld erhoben, weil die Eltern ihre Kinder sonst nicht in die Schule schicken würden. Als ein Lehrer vom Festland darauf bestand, Kinder ohne Turnschuhe vom Sportunterricht auszuschließen, wehrten sich die Eltern dagegen. Schuhe sind ein Luxus, den nicht alle haben. Jetzt findet der Unterricht trotzdem statt – barfuß, in Badelatschen oder Turnschuhen. Insgesamt unterrichten sechs Lehrer und Lehrerinnen bis zur achten Klasse. Die älteren Kinder müssen auf dem Festland in die weiterführende Schule und leben dann unter der Woche bei Verwandten oder Bekannten. Einige gehen nach der achten Klasse nicht weiter zur Schule, sondern bleiben auf der Insel und versuchen, die Familie zu unterstützen, helfen im Laden aus, fischen oder hängen einfach nur herum. 

Das blaue Gebäude ist die Schule der Insel. In vier Klassenräumen lernen hier 380 Schüler. Weil die nicht alle gleichzeitig Platz finden, haben einige Schüler vormittags Schule, andere nachmittags.

Es ist immer laut. In der Pause toben die Schüler auf dem Dorfplatz oder laufen zum Steg neben der Schule und springen ins Wasser. Jugendliche setzen ihre Taucherbrillen auf und umrunden die Insel, um ein paar Fische zu fangen. Und vielleicht ist das Wasser auch ihr einziger Ort der Stille. Susana sagt: „Das Beste hier ist: Die Kinder sind frei.“ Sie laufen in Gruppen durch die Gassen und über die Stege, können spätestens im Alter von drei Jahren schwimmen, spielen Fangen und Verstecken. „Die Insel ist wie ein Dorf auf dem Meer“, sagt Susana. „Meine Tochter kann einfach loslaufen. Alle passen auf.“ Man muss sich keine Sorgen machen. 

Touristen kommen, um Haie zu sehen

Der Rhythmus der Insel wird wie vor Hunderten von Jahren vom Meer bestimmt. Wenn es ruhig ist, wimmelt es von kleinen Booten, Fischer fahren aus oder kommen mit ihrem Tagesfang zurück. Vom Festland oder den Nachbarinseln kommen Händler, das Schulboot legt an, das Busboot kommt gegen Mittag aus Rincón. Wenn die Wellen zu hoch für die kleinen Langboote sind, steht das Leben still. Es wird viel gewartet auf der Insel. Auf Boote. Auf Gäste. Auf Regen. 

Seit knapp 13 Jahren kommen auch Touristen. Die Touristenboote halten allerdings nur kurz auf dem Weg zu den umliegenden Inseln und deren Stränden. An Wochenenden oder Feiertagen kommen bis zu 1000 Besucher pro Tag, unter der Woche sind es weniger. Sie kommen für rund eine halbe Stunde und zahlen 10.000 Pesos (circa 2 Euro) für eine Tour über die Insel und den Eintritt ins Aquarium, ein abgegrenztes Becken im Meer, das Susanas Vater im Jahr 2012  eingerichtet hat, um Touristen anzuziehen. Susanas Mann Felipe arbeitet dort. Jeden Tag taucht er mit den Haien, zeigt den Besuchern die Hauptattraktion der Insel. Viele Touristen kommen nur, weil sie einen Hai aus der Nähe sehen wollen. Susana begleitet manchmal Schulgruppen durch das Gelände. Ohne Einnahmen aus dem Tourismus wäre das Leben auf der Insel nicht mehr möglich; viele Jugendliche wollen heute nicht mehr fischen. Das Meer lässt die Menschen schneller altern, sagen Susana und Elida. Sie wollen lieber mit den Touristen arbeiten oder weg. So wie Luis Fernando, Elidas Enkel.  

Santa Cruz del Islote ist das logistische Zentrum des Archipels. Seit knapp 13 Jahren kommen auch Touristen, vor allem um in dem Aquarium Haie aus nächster Nähe zu sehen. Der Tourismus ist inzwischen die wichtigste Einnahmequelle für die Bewohner der Insel.

Ein Inselrat verteilt die wenigen Ressourcen

Warum bleiben die meisten Bewohner auf Santa Cruz del Islote, obwohl es derart eng ist? Elida zuckt mit den Schultern. „Weil hier Arbeit ist. Weil hier Sicherheit ist. Weil wir uns kennen. Und weil viele Angst haben, woanders zu sein – Angst vor der Fremde.“ Zwei Krankenschwestern, ein Arzt und eine Zahnärztin kümmern sich in einer kleinen Gesundheitsstation um die Menschen. Natürlich gibt es auch Probleme, den steigenden Alkohol- und Drogenkonsum etwa. Aber das sei nichts, was man nicht gemeinsam auffangen könne, sagt Elida.

Autorin

Ani Diesselmann

ist promovierte Linguistin und Philosophin, lebt seit 2013 in Kolumbien und arbeitet dort als Journalistin und Menschenrechtsbeobachterin.
Susana und Elida erklären, dass viele Bereiche des Alltags kollektiv organisiert werden. Der Inselrat ist wie eine kleine Regierung, er entscheidet bei Problemen oder ob ein Projekt bewilligt wird und regelt die Verteilung der wenigen Ressourcen. Der Rat wird alle zwei Jahre neu gewählt und rotiert zwischen den Familien. Dabei wird darauf geachtet, dass bei der Wahl nicht mehrfach nacheinander Mitglieder derselben Familie drankommen. Wer als Guide mit Touristen arbeitet, ist Mitglied einer Vereinigung aller Guides und erhält seinen Anteil der gesamten Tageseinnahmen. Gewalt und Kriminalität? Gibt es kaum. Auch keine Polizei. Konflikte werden im Gespräch gelöst. Die soziale Kontrolle ist hoch, jede und jeder kennt jeden. Das passt nicht allen, manche wollen lieber weg, suchen mehr Freiheit. 

Luis Fernando beobachtet eine Gruppe Touristen und fragt sich, woher die Menschen wohl kommen. Er würde sich gern ein Leben außerhalb der Insel aufbauen. Susana vermisst manchmal Strom und fließendes Wasser. Aber sie würde es nicht eintauschen gegen die Sicherheit, das Gemeinschaftsgefühl und das Wissen, dass ihr Kind frei aufwachsen kann.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Motorrad aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!