Für gute Ärzte muss man umziehen

Ein bärtiger Inder mittleren Alters, den ein Schlauch in seiner Nase als erkrankt anzeigt, liegt auf einem Betonfußboden mit dem Gesicht zum Betrachter. Hinter ihm weitere Inder und Inderinnen, manche mit großen Taschen. Sie alle warten auf Behandlung in einem Krankenhaus.
Majid Alam
Ein Mann mit Kehlkopfkrebs hofft vor dem AIIMS-Krankenhaus in Delhi auf einen Termin.
Gesundheitsmigration in Indien
Nicht nur die Arbeitssuche treibt Inder vom Land in die Stadt: Immer mehr ziehen wegen der medizinischen Versorgung um, die in großen Teilen Nordindiens ­unzureichend ist.

Hamid Sheikhs Vater erlitt im Dezember 2024 in der Kleinstadt Saharsa beim Gottesdienst in einer Moschee einen Kreislaufkollaps. Der Siebzigjährige war wegen seiner Herzprobleme schon seit einem Jahr in einer Privatklinik in Behandlung, nun riet man ihm dort zu einer komplizierten Herzoperation. Von der Diagnose und dem Rat nicht überzeugt, trafen er und seine Familie eine schwierige Entscheidung: Sie zogen aus der nordindischen Provinz Bihar nach Delhi, um bessere Behandlungsmöglichkeiten zu finden. „Wir haben der Klinik nicht vertraut“, sagt Sheikh. „Sie ist ziemlich neu, und die Ärzte schienen uns unsicher.“ Das Safdarjung-Hospital in Delhi habe dann auch erklärt, eine Operation sei erst einmal nicht nötig. Jetzt lebt die Familie dauerhaft in Delhi, um dem Vater eine zuverlässige Versorgung zu ermöglichen.

Das ist kein Einzelfall. In den nördlichen Bundesstaaten, besonders Uttar Pradesh und Bihar, ist das Gesundheitswesen unzureichend, so dass Familien mit Angehörigen, die an chronischen, komplexen oder seltenen Krankheiten leiden, zunehmend in Großstädte ziehen. Binnenmigration war in Indien bisher vor allem von der Suche nach Arbeit und Ausbildungsmöglichkeiten motiviert, aber nun verändert sich die demografische Struktur der Städte auch durch Migration aus Gesundheitsgründen.

Die Mehrzahl der Patienten des All India Institute of Medical Sciences (AIIMS) in Delhi, Indiens größtem staatlichem Krankenhaus, stammt von außerhalb. Die meisten von ihnen ziehen gleich ganz in die Hauptstadt, um sich wiederholte, beschwerliche und teure Hin- und Rückreisen zu ersparen. In den Jahren 2023 und 2024 ergab eine Befragung unter ambulanten Patienten, dass je ein Drittel aus dem Bundesstaat Uttar Pradesh und aus Delhi selbst kam, 12 Prozent stammten aus dem Bundesstaat Bihar. Dieses Verhältnis ist seit Jahren in etwa konstant und zeigt, wie sehr angrenzende Bundesstaaten auf die Gesundheitsinfrastruktur Delhis angewiesen sind.

Eine Frage des Überlebens

Dabei geht es in Indien nicht um Medizintourismus, also um Patienten, die für bestimmte Behandlungen in andere Länder reisen. Hier ist Medizin-­Migration eine Frage des Überlebens. Eine Umfrage von Transform Rural India und der Organisation Sambodhi Research in sechs Gebieten hat 2023 ergeben, dass mehr als 60 Prozent der Landbevölkerung Indiens ernste Krankheiten außerhalb ihres Bundesstaates behandeln lassen. In den nordöstlichen Bundesstaaten gaben 84 Prozent und in den östlichen, darunter Bihar, 66 Prozent an, medizinische Hilfe vorzugsweise nicht im Heimatstaat zu suchen. Dagegen sahen im Süden Indiens mehr als zwei Drittel der Befragten keine Notwendigkeit dafür. 

Autoren

Rishabh Jain

ist freier Journalist und Dokumentar­filmer in Indien und schreibt viel zum Thema Menschenrechte, Klimawandel und Nachhaltigkeit.

Majid Alam

ist Journalist in New Delhi und schreibt über Klima, Gesundheit und Migration in Südostasien.

Dies spiegelt die enormen regionalen Unterschiede in der Gesundheitsinfrastruktur Indiens wider. In Bihar mit seinen 104 Millionen Menschen gibt es laut einer Regierungsstudie von 2024 eine ärztliche Fachkraft für 2158 Personen; 36 Bezirkskrankenhäuser sind für jeweils 2,9 Millionen Einwohner zuständig. In Uttar Pradesh mit einer Bevölkerung von 199 Millionen haben Ärzte und Ärztinnen im Schnitt 1995 Personen zu behandeln, und auf jedes der 169 Bezirkskrankenhäuser dort kommen 1,2 Millionen Menschen. In einer Großstadt wie Delhi mit über 16 Millionen Einwohnern gibt es hingegen einen Arzt pro 519 Einwohner und 40 Bezirkskrankenhäuser, eines pro 400.000 Einwohner. 

„Viele haben zu Hause schon viel Geld ausgegeben, oft ohne auch nur eine klare Diagnose zu bekommen“, sagt die Kardiologin Alaina Zameer, die in mehreren staatlichen Krankenhäusern Delhis gearbeitet hat. „Ein großes Problem ist mangelndes Vertrauen. Ein Arzt aus Bihar kann noch so kompetent sein, die Leute holen trotzdem lieber bei uns eine zweite Meinung ein, bevor sie sich auf eine Operation oder eine schwierige Behandlung einlassen.“

„Jetzt bin ich arm, aber wenigstens wird mein Sohn behandelt“

Der fünfzigjährige Abdullah Ahmad aus Begusarai in Bihar ist so ein Fall. Vor sechs Jahren ist er nach Delhi gezogen, um medizinische Betreuung für seinen Sohn zu sichern, der seit der Kindheit an rheumatoider Arthritis und eingeschränkter Sehfähigkeit leidet. „In Bihar haben wir ihn in Krankenhäusern von Patna, Munger und Darbhanga vorgestellt. Niemand konnte sein Leiden auch nur korrekt diagnostizieren“, sagt er. „Das hat mich zehn Jahre und fast mein ganzes Geld gekostet. Ich musste mein Haus im Wert von fünf Millionen Rupien (gut 52.000 Euro) verkaufen. Jetzt bin ich arm, aber wenigstens wird mein Sohn behandelt.“ Die Alternative, alle paar Monate in die Hauptstadt zu reisen, war für ihn unmöglich. „Eine Fahrt kostet zwischen 10.000 und 15.000 Rupien. Das entspricht dem Monatseinkommen einer ganzen Familie. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als hierherzuziehen.“ 

Großer Andrang vor dem AIIMS-Krankenhaus in Delhi, wo auch viele Menschen aus anderen Bundesstaaten Behandlung suchen.

In Metropolen wie Mumbai und Delhi ist im Umfeld der großen Kliniken eine blühende Schattenwirtschaft speziell für die Bedürfnisse der Gesundheitsmigranten entstanden. Händler verkaufen oder vermieten Dinge des täglichen Bedarfs wie Bettzeug und Kochutensilien, besorgen gewohnte regionale Lebensmittel, Zeitungen und sogar pflanzliche oder alternative Heilmittel.

In der Regel kommen die Patienten zusammen mit zwei oder drei Verwandten; einige nehmen befristete oder informelle Jobs an, um die hohen Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Manche finden über persönliche Netzwerke einen Job als Auslieferer oder auf einer Baustelle. Viele Familien kehren nach Abschluss der Behandlung nicht in ihren Heimatort zurück. Jüngere Verwandte arbeiten häufig weiter, um die aufgelaufenen Schulden abzuzahlen. Andere bleiben, um ihren Kindern bessere Bildungschancen und eine stabilere Zukunft zu ermöglichen. 

Von einer Klinik zur nächsten

Indiens ländliches Gesundheitssystem ist stufenförmig organisiert: Es gibt Zentren für die gesundheitliche Erstversorgung, solche für Impfungen und die Betreuung von Schwangeren sowie besser ausgestattete Gemeinde-Gesundheitszentren. Vorgesehen ist, dass die Patienten im Bedarfsfall von dort an ein Bezirkskrankenhaus oder eine Uniklinik überwiesen werden. 

Doch wie eine Studie von Mathew und Nambiar in staatlichen Krankenhäusern in Delhi zeigt, durchlaufen viele Patienten diese Stationen nur, um letztlich doch in einem der überlasteten Krankenhäuser der Großstädte zu landen. Gesundheitsmigranten aus Bihar und Uttar Pradesh berichteten von wiederholten Fehldiagnosen, unerschwinglicher privater Behandlung und langen Wartezeiten, in denen sich ihre Beschwerden verschlimmerten. „Erst geht man in ein Distriktkrankenhaus, dann reist man in die Hauptstadt des Bundesstaates, schließlich in eine Klinik der Landeshauptstadt. Jeder Schritt kostet mehr Geld, und die Krankheit wird schlimmer“, berichtet eine der befragten Personen.

Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis von Ahmads Sohn erfordern zudem eine Langzeitbetreuung, die in kleineren Städten gar nicht verfügbar ist. „In Begusarai gibt es keinen Rheumatologen. Es gibt einen einzigen in Patna, aber da bekommt man höchstens alle drei Monate einen Termin. Was soll man denn tun, wenn das Kind mitten in der Nacht einen Anfall bekommt?“, sagt Ahmad.

Vieles muss aus eigener Tasche bestritten werden

Ein Kardiologe, der unter anderem am AIIMS und am Safdarjung-Hospital gearbeitet hat, berichtet, dass Patienten aus Uttar Pradesh und Bihar häufig erst in fortgeschrittenem Krankheitsstadium vorstellig werden. „Wir sind oft die letzte Chance für sie. Wir fragen nicht alle, woher sie kommen, aber wir erfahren nicht selten, dass Leute ihr Land verkauft und sich in Schulden gestürzt haben. Wirklich erschütternd.“

So kommt zur emotionalen Belastung der Gesundheitsmigranten eine schwere wirtschaftliche. Zwar ist die Behandlung in staatlichen Krankenhäusern wie AIIMS für sie kostenlos oder zumindest subventioniert, doch vieles müssen sie aus eigener Tasche bestreiten – Miete, Lebensmittel, Untersuchungen, die außerhalb der Klinik durchgeführt werden. Einkommensschwache Familien rutschen so schnell in die Armut ab.

Ahmad, der nur ein sehr geringes Einkommen hat, hat nach einem Unfall seine eigene Behandlung abgebrochen, weil ihm die Pflege seines Sohns wichtiger war. „Was nützt mir meine Gesundheit, wenn mein Kind nicht überlebt. Ich musste mich entscheiden“, sagt er. Selbst mit der amtlichen Bescheinigung, dass er unter der Armutsgrenze lebt, die zu kostenloser Behandlung berechtigt, summieren sich die Kosten für Medikamente, Fahrten und Tests. „Jetzt wohne ich hier in Delhi in einem gemieteten Zimmer, mir bleibt kaum noch etwas.“

Die Kosten sind nicht das einzige Problem

Die Studie von Mathew und Nambiar beschreibt diesen Teufelskreis in die Armut: Menschen verpfänden ihr Land, um sich eine medizinische Behandlung leisten zu können, und sind am Ende ruiniert. Indien gehört zu den Ländern weltweit, in denen die Menschen am meisten aus eigener Tasche für Gesundheitsversorgung zahlen müssen. Staatliche Krankenversicherungsprogramme decken in der Regel nur den Krankenhausaufenthalt ab, nicht ambulante Behandlungen oder wiederkehrende Kosten wie für Medikamente und Diagnostik.

Die Kosten sind nicht das einzige Problem. Mi­granten warten oft monatelang in überfüllten Notunterkünften oder Gästehäusern von Religionsgemeinschaften auf ihre Diagnose. Sie müssen in einem bürokratischen Labyrinth Identitätspapieren und Lebensmittelzuteilungen nachjagen. Für die, denen Lesen und Schreiben schwerfällt oder das Stadtleben fremd ist, ist schon das Ausfüllen der Klinikformulare eine große Hürde.

Auch Städte wie Delhi ächzen unter der Last. Lange Wartezeiten, kurze Konsultationszeiten und eine undurchsichtige Bürokratie sind Alltag an den meisten staatlichen Krankenhäusern. Politische Verbindungen helfen – oft sagen Patienten, dass ihnen lokale Abgeordnete oder andere einflussreiche Personen zu einer schnellen Behandlung verholfen haben. 

Der Staat gewährleistet keine gerechte Versorgung

Die Politik schafft bislang keine Abhilfe. Trotz Programmen, die der Stadtbevölkerung eine bessere medizinische Grundversorgung verschaffen sollen, bleibt die Versorgung lückenhaft. Die öffentlichen Einrichtungen sind unterfinanziert, und da private Anbieter den Gesundheitsmarkt dominieren, ist der Zugang für viele unbezahlbar.

So entsteht in den Dörfern eine neue Form der Ausgrenzung: Familien, die es sich nicht leisten können, für Behandlungen umzuziehen oder zur Klinik zu pendeln, müssen oft hilflos zusehen, wie sich der Zustand ihrer Angehörigen verschlechtert. Gesundheitsmigration ist nicht vom Streben nach Besserung der eigenen Lage getrieben. Sie wurzelt in Angst, Not und der Unfähigkeit des Staates, eine gerechte Versorgung zu gewährleisten. Sheikh weiß noch, welche Ängste seine Familie plagten, als sie schließlich der Behandlung des Vaters wegen nach Delhi ging. „Wir waren nicht auf der Suche nach einem besseren Leben“, sagt er. „Wir sind dorthin gezogen, damit mein Vater nicht stirbt.“

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

Die Namen der Patienten sind geändert.

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