Khadija Saleh ist vor neun Jahren mit ihren drei kleinen Kindern aus Libyen auf einem Boot übers Mittelmeer nach Italien und von dort weiter nach Deutschland geflüchtet. Ende September sitzt die zierliche Frau mit Kopftuch im brandenburgischen Werder (Havel) südwestlich von Berlin in einem Veranstaltungsraum des Uferwerks, einer genossenschaftlich organisierten Wohnanlage, und informiert über Land und Leute in ihrer früheren Heimat. Sie erklärt, wie die Menschen in Libyen leben, was sie gern essen, aber auch wie Politik und Wirtschaft in dem Land funktionieren, das seit vierzehn Jahren im Grunde keine funktionierende Regierung mehr hat.
Khadija Saleh wird hier zu einer sogenannten Eine-Welt-Multiplikatorin ausgebildet. Was sie jetzt zur Probe einer Besuchergruppe vorträgt, soll sie später einmal in Schulen und Vereinen präsentieren, in denen Informationen über Länder des globalen Südens und zur Entwicklungspolitik gefragt sind. Vor allem aber soll sie als junge Frau mit einer schwierigen Fluchtgeschichte Selbstvertrauen aufbauen und daran arbeiten, sich selbst und ihre Kinder aus eigener Kraft zu versorgen. Darum geht es in dem Programm MultiGlobal 2025 des Vereins United Action Women and Girls, der im Uferwerk in Werder seinen Sitz hat. Seit drei Jahren arbeitet das Programm mit Frauen – neben solchen aus Libyen unter anderem aus Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea.
Die Uferwerk-Anlage aus sanierten Altbauten und Neubauten liegt direkt an einem See. Unter Bäumen stehen zusammengewürfelte Tische und Stühle, die zum Verweilen einladen, auf dem Wasser glitzert die Herbstsonne. Dieses Idyll und das weltoffene bunte Treiben im Veranstaltungsraum stehen im Kontrast zur politischen Lage in der 27.000-Seelen-Gemeinde Werder: Im Stadtrat ist die AfD nach der CDU die zweitstärkste Kraft, und bei der letzten Bundestagswahl lag die Partei mit 25,9 Prozent Zweitstimmenanteil an der Spitze.
Die Leute sind interessiert, trauen sich aber nicht zu fragen
Wie lässt sich hier Eine-Welt-Arbeit machen? Mit viel Zuversicht, Stehvermögen und ohne Berührungsängste. So wie Yariela Badtke, die aus Mexiko stammt, seit dreißig Jahren in Deutschland lebt und bei United Action Women and Girls als Fachpromotorin für Globales Lernen arbeitet. „Wir stehen zum Beispiel vor Supermärkten und informieren über das Essen in anderen Ländern“, sagt sie. Die Leute seien durchaus interessiert, trauten sich aber nicht zu fragen. „Also sprechen wir sie an. Und so kann man dann auch zu anderen Themen kommen.“
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Werder ist die erste Station einer zweitägigen „Entwicklungspolitischen Bustour“ durch Brandenburg, Sachsen und Thüringen zu Organisationen und Initiativen der Eine-Welt- und Antirassismusarbeit. Dazu eingeladen hat unter anderem die Berliner Stiftung Nord-Süd-Brücken, die diese Arbeit fördert und die schon seit längerem auf die schwierigen gesellschaftlichen und politischen Umstände in vielen ostdeutschen Orten hinweist, vor allem auf dem Land. Wer sich hier entwicklungspolitisch engagiert, stößt vielerorts nicht nur – wie im Westen – auf Desinteresse, sondern wird zuweilen regelrecht angefeindet. In einer Handreichung für Eine-Welt-Engagierte zum Umgang mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus erklärt die Stiftung, wie man bedrohliche Situationen deeskaliert und vermeidet, sich selbst in Gefahr zu bringen. Das liest sich fast so, als würde man in ein Krisengebiet reisen. Und eine im ländlichen Sachsen tätige Eine-Welt-Promotorin sagt, teilweise sei es riskant, im selben Ort zu wohnen, in dem man arbeite, vor allem mit Familie.
Yariela Badtke in Werder arbeitet seit zwanzig Jahren in der Eine-Welt-Bildung in Ostdeutschland. Ist seitdem alles schlimmer geworden? Nein, sagt sie, in manchen Orten hätten sich die Bedingungen verschlechtert, in anderen hingegen sei es einfacher als früher. Andreas Rosen, Geschäftsführer der Stiftung Nord-Süd-Brücken, fügt hinzu, verschlechtert habe sich mit dem Erstarken der AfD auf jeden Fall die parteipolitische Lage. In vielen Kommunen macht die CDU längst gemeinsame Sache mit den Rechtsextremen und torpediert zivilgesellschaftliches Engagement.
Zum Beispiel im sächsischen Wurzen, der zweiten Station der Bustour. Die Gemeinde östlich von Leipzig mit 16.000 Einwohnern ist Heimat des Netzwerks für Demokratische Kultur (NDK). Es wurde vor fünfundzwanzig Jahren gegründet – damals als Reaktion auf Bestrebungen der NPD und anderer rechtsextremer Kräfte, Wurzen zu einer „national befreiten Zone“ zu machen. Seitdem bietet das NDK Kulturveranstaltungen wie Konzerte und Open-Air-Kino an, macht erinnerungspolitische Arbeit und ist Projektstelle für Eine-Welt-Promotorinnen. Doch dieses Jahr hat der Wurzener Stadtrat dem Netzwerk mit den Stimmen der AfD und der CDU erstmals einen kommunalen Zuschuss in Höhe von knapp 13.000 Euro versagt, den das NDK vorweisen muss, um eine deutlich höhere Förderung des Landes Sachsen zu bekommen. Wenn dieses Geld ausbleibt, muss das Netzwerk seine Arbeit nächstes Jahr voraussichtlich deutlich einschränken.
Mit "Herz, Hand und Fuß"
Heidi Bischof, die als Eine-Welt-Promotorin im NDK für entwicklungspolitische Bildungsarbeit zuständig ist, berichtet, generell sei das Interesse in Wurzen und Umgebung an Eine-Welt-Themen gering. Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer etwa würden kaum nachgefragt. Viele seien der Ansicht, für sie als Ostdeutsche sei nach der Wende nichts getan worden. Warum sollten sie sich heute dann für globale Gerechtigkeit einsetzen? „Die Eltern geben so etwas an ihre Kinder weiter“, sagt Bischof. Wenn sie bei Schülerinnen und Schüler Interesse wecken wolle, müsse sie „Herz, Hand und Fuß“ ansprechen – mit anderen Worten: nicht von oben herab dozieren, sondern „niedrigschwellig“ zum Mitmachen einladen.
Was das heißt, kann man in Freiberg südwestlich von Dresden sehen. Die Stadt im Erzgebirge mit 42.000 Einwohnern ist dritte Station der Bustour und eine Art Hochburg der Eine-Welt-Arbeit in Sachsen – dank einer Gemeinde zupackender Ehrenamtler und auch beruflich Engagierter. Einer davon ist Steffen Judersleben, der seit zwanzig Jahren ehrenamtlich das von Freiberger Schülerinnen und Schülern getragene Projekt Namasté zur Förderung von Schulen in Nepal koordiniert. Seit dem Jahr 2005 habe man 1,7 Millionen Euro an Spenden eingeworben, vor allem über den jährlichen Nepal-Spendenlauf. „Da war dieses Jahr auch der Freiberger AfD-Vorsitzende dabei – weil seine Tochter mitgelaufen ist“, erzählt Judersleben und schmunzelt. Man dürfe die Freiberger „nicht ständig mit neuen Projekten nerven“, für die sie was geben sollen. Deshalb fokussiere man sich auf den Spendenlauf als Gemeinschaft stiftendes Event.
Es gebe Freiberger, die fragten, warum Namasté für sie keine Spenden sammele, sondern nur für Nepal, erzählt Judersleben. „Denen antworte ich: Das machen andere. Oder: Gründe doch selbst einen Verein dafür.“ Und was motiviert die Schülerinnen und Schüler, sich für das Projekt und für Nepal zu engagieren? Das sei einfach eine „neue Herausforderung“ gewesen, bei der man „über sich selbst herauswachsen“ könne, sagen zwei, die dieses Jahr Abitur gemacht haben.
Rund dreißig Kilometer südlich von Freiberg in Sorgau leben Christine Lickert und Jörg Lehmann, die seit 2016 ein Hilfsprojekt für den Ostkongo betreiben. Zunächst ging es um Bildung und Landwirtschaft, doch seit vergangenem Jahr sammeln sie alte DDR-Nähmaschinen, um sie in den Kongo zu verschiffen, so dass sie Frauen und Männern dort zum Broterwerb dienen können. Vorher werden die Maschinen an einem festlichen Abend bei Lickert und Lehmann im Dorf repariert. „Da sind von links bis rechts alle dabei“, sagt Lehmann: „Manche vielleicht vor allem, weil es Bier und Essen gibt, andere wiederum sagen: Wenn wir den Leuten im Kongo helfen, dann kommen sie nicht zu uns.“
Manchem Teilnehmer der Bustour aus der entwicklungspolitischen Blase in Berlin oder einer anderen Großstadt stockt bei solchen Worten der Atem. Überhaupt wird vorsichtig Kritik laut am Ansatz mancher Projekte, die in Freiberg präsentiert werden – von „white saviourism“ ist die Rede. Christine Lickert und Jörg Lehmann lassen sich davon nicht beirren. Man müsse mit den Leuten im Gespräch bleiben, sagen sie: „Wir versuchen nicht, sie zu belehren.“
Wie notwendig das ist, um jenseits von Leipzig, Dresden oder Berlin überhaupt mit Eine-Welt-Themen gehört zu werden, betont auch Christian Mädler vom Verein Freiberger Agenda 21. Der umtriebige Mittdreißiger hat ein Gespür für publikumswirksame Aktionen. Vor einigen Jahren habe man mit dem Oberbürgermeister gewettet, man könne ihn mit fair gehandelter Kleidung von Freiberger Bürgerinnen und Bürger aufwiegen. Der Bürgermeister wettete dagegen – und verlor. „Sogar die Bild-Zeitung hat damals darüber berichtet“, erzählt Mädler. Man brauche solche „unverfänglichen Themen“ wie fairer Handel, um sich als Eine-Welt-Verein überhaupt ins Spiel zu bringen.
Eine-Welt-Dynastie im Erzgebirge
Mädler stammt aus einer Eine-Welt-Dynastie, wenn man so will. Seine Mutter Birgit wurde nach der Wende arbeitslos, kam über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zum Eine-Welt-Laden in der 7000-Seelen-Gemeinde Eibenstock – einem der ersten in Sachsen – und arbeitet heute als Eine-Welt-Regionalpromotorin Erzgebirge. Birgit Mädler verkörpert Weltoffenheit und zugleich tiefe lokale Verwurzelung – ideal, um die Leute in der erzgebirgischen Provinz für die Anliegen zu gewinnen, die ihr am Herzen liegen. „Viele sind etwas verbittert. Aber sie sind auch empathisch“, sagt sie. Deshalb seien sie grundsätzlich offen für Themen wie fairer Handel, Kinderarbeit oder Gerechtigkeit. „Das ist weniger kritisch als politische Anliegen wie der Kampf gegen Rassismus oder Rechtsextremismus.“ Solche Fragen könne man gegebenenfalls nach und nach zusätzlich ansprechen, im Zusammenhang etwa mit dem fairen Handel.
Was sind die Lehren aus Werder, Wurzen und Freiberg? Um die Leute zu erreichen, muss man ihre persönlichen Interessen, Bedürfnisse und Sorgen aufgreifen und mit entwicklungspolitischen Fragen verknüpfen. Das tut auch der Verein Goals Connect im thüringischen Pößneck bei Erfurt, der vierten und letzten Station der „Entwicklungspolitischen Bustour“. Zum zweiten Mal hat Goals Connect dieses Jahr ein sogenanntes Spendenparlament organisiert: Wer einen Mindestbetrag spendet, kann „Abgeordneter“ des Parlaments werden und entscheidet gemeinsam mit den anderen Spendern, welche Vereine und Initiativen aus dem Landkreis mit dem gesammelten Geld gefördert werden sollen. Um Förderung bewerben können sich letztlich alle – vom Karnevals- über den Imkerverein bis zum gemeinnützig betriebenen Chor. Bedingung: Mit dem Projekt, für das Geld gebraucht wird, muss gleichzeitig mindestens eins der siebzehn UN-Nachhaltigkeitsziele unterstützt werden. Auf diese Weise verbindet Goals Connect lokale mit globalen Anliegen und schafft ein Bewusstsein für letztere.
Die Beteiligten im Spendenparlament und bei den Vereinen, die sich um Förderung bewerben, kommen außerdem in Kontakt zueinander und lernen sich kennen. Sie erfahren sich als Handelnde, die nicht bloß Wohltaten von oben empfangen, sondern gemeinsam etwas für das Leben in ihrem Landkreis tun. Zu Hause zu sein in einer starken Gemeinschaft, die erfährt, dass sie etwas bewirken kann: Vielleicht ist das die zentrale Voraussetzung dafür, sich der Welt öffnen zu können und weiter als bis zum nächsten Kirchturm schauen zu wollen – nicht nur in Ostdeutschland, sondern überall.

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