Langsam wird es dämmrig im kleinen Friseurladen in der Totenstadt vor den Toren Kairos, unweit der alten Grabstätten. Hinter dem Salon ist eine düstere, hohe Kammer mit winzigem Waschbecken. Weit über das Dorf hinaus ist bekannt, dass hier seit Jahrzehnten nicht nur Haare geschnitten werden. Als das grelle Neonlicht angeht, betritt der etwa 17-jährige Sohn des Friseurs mit einer schnatternden Schar Frauen und Jungen den Salon. Eine ältere Frau, wohl die Großmutter, trägt einen Säugling auf dem Arm und beginnt, lautstark mit dem Friseur zu verhandeln. Noch bevor ich jedes Wort verstanden habe, setzt sich der Friseur, der anonym bleiben will und hier Mohammed genannt wird, auf die schmale Bank im Salon und nimmt eine schwarze Plastiktüte mit Beschneidungsutensilien vom Haken. Mein Kollege und ich sind entsetzt und wir fragen uns: „Will er jetzt vor unseren Augen tatsächlich ein Mädchen beschneiden?“
Indes zieht Mohammeds Sohn dem Kind die Windel aus und spreizt dessen Beine. Es ist ein Junge. Etwas Jod auf den kleinen Penis, und schon fährt Mohammed mit einer Art Häkelnadel unter die Vorhaut, zieht diese lang, dreht sie zu einem Strang und entfernt sie mit einem schnellen Schnitt. Der Säugling weint. Mohammed wickelt einen Verband um die blutende Stelle, zieht dem Jungen die Windel wieder an und drückt ihn der Großmutter in den Arm.
Es drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis
Die Beschneidung von Jungen wird im Islam als Sunna (empfohlene Praxis) eingestuft und ist als religiös-kulturelle Handlung unter muslimischen und koptischen Jungen in Ägypten üblich, oft bereits wenige Tage nach der Geburt im Krankenhaus. Dagegen ist die Beschneidung von Mädchen keine religiöse Pflicht und seit 2008 in Ägypten verboten. Schon in den 1990er Jahren erreichten Aktivistinnen und Menschenrechtsorganisationen, dass weibliche Genitalverstümmelung (FGM) als Menschenrechtsverletzung gilt. 2016 wurde FGM, bei der die äußeren Genitalien ohne medizinische Gründe teilweise oder ganz entfernt werden, in Ägypten als eigenständiges Verbrechen ins Strafgesetz aufgenommen, 2021 wurden die Strafen noch verschärft. Es drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis – sowohl für diejenigen, die FGM ausführen, als auch für diejenigen, die darum bitten oder die Tradition fördern. Denn die Beschneidung von Mädchen hat nicht nur psychische Folgen. Sie schränkt die sexuelle Funktionsfähigkeit von Frauen ein und kann zudem zu Infektionen und in manchen Fällen zum Tod führen. Vor allem, wenn die Beschneidung unter unhygienischen und unprofessionellen Bedingungen ausgeführt wird.
Doch die Anthropologin Soumaya Ibrahim, die seit Jahren zu FGM in Ägypten und Nahost forscht, musste im Frühjahr 2025 ernüchtert feststellen: Mehr als acht von zehn Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in Ägypten sind nach wie vor beschnitten; die Rate ist damit unverändert hoch und mit der im Sudan vergleichbar. Das offizielle Ziel des Nationalen Frauenrats der Regierung, die Praxis bis 2030 zu beenden, hält sie für unrealistisch. Die Beschneidung durch Friseure ist seltener geworden, auf dem Land durch Hebammen („daya“) aber immer noch üblich. Zudem verdienen sich Ärzte damit gern ein Zubrot. Eine Beschneidung in einer Klinik können sich aber nur wenige Ägypterinnen leisten.
Die Beschneidung soll die Keuschheit der Frau bewahren
Mohammed kennt die Rechtslage und nimmt daher neuerdings die Beschneidung von Mädchen nur noch heimlich vor. Wie rechtfertigt er das? Er kommt auf die Anatomie von Mädchen zu sprechen: Während im Kindesalter der Genitalbereich lediglich zum Wasserlassen da sei, würden während der Pubertät die Geschlechtsteile wachsen. „Das ist für uns, den ägyptischen Mann, nicht erwünscht. Tut mir leid für den Ausdruck – aber dass da unten an ihr etwas herumhängt oder was auch immer …“, stammelt er. Zudem könne durch Kleidung Reibung im Genitalbereich entstehen und bei der Frau Lust erzeugen. Das sei auf keinen Fall erwünscht. Die Beschneidung solle vor allem die Keuschheit der Frau und die Kontrolle des Mannes über die Lust der Frau bewahren. „Sonst macht die Frau nach der Hochzeit noch, was sie will.“
Mohammed demonstriert, wie er den Eingriff an Mädchen vornimmt: Dazu spreizt er an beiden Händen Zeige- und Mittelfinger und führt sie an den Fingerspitzen zu einer Raute zusammen. Er zeigt dann an der Haut zwischen den Fingern, wie er die Haut an der Vagina zur Beschneidung anhebt. Stolz erwähnt er, dass er nicht alles wegschneidet, sondern nur einen Teil. Er beruft sich auf seine Religion, nennt die arabischen Worte „jaf“ und „tuhiff“, welche angeblich eine moderate Beschneidung vorschreiben. Islamische Gelehrte auf der ganzen Welt, darunter die Oberste Autorität der in der islamischen Welt hoch angesehenen Universität al-Azhar in Kairo, stufen allerdings diese Überlieferung als nicht authentisch ein. Sie dient seit Jahrzehnten als Feigenblatt für die FGM-Praxis. Mohammeds vermeintlich religiöses Argument ist in Wirklichkeit ein kulturelles.
Die Folgen von FGM sind weitreichender als eine kleine Wunde
Über Keuschheit spricht auch die inzwischen 77-jährige Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte Amal Abdel Hadi. „Was würdest du einer Mutter sagen, damit sie ihre Tochter nicht beschneiden lässt? Zum Friseur gehen ja viele heutzutage gar nicht mehr. Das wird in einer Fünfsterneklinik einwandfrei erledigt.“ Ich bin verunsichert und frage mich, ob sie FGM tatsächlich befürwortet. Nein – sie hat Jahrzehnte dagegen gekämpft. Stattdessen versucht sie, mir die Denkweise ägyptischer Mütter verständlich zu machen: „Wir verstehen, dass die Männer das so wollen und es Tradition ist. Und nicht jede alte Tradition ist eine gute. Aber stell dir vor, du selbst hast ein Mädchen in einer Kultur, die nicht nur ihre Jungfräulichkeit, sondern ihre Keuschheit sehr schätzt. Und du liebst dein Mädchen und willst das Beste für es. Würdest du dann deine Tochter beschneiden lassen? Es ist ein bisschen Schmerz. Es ist eine Wunde, und sie wird heilen. Aber das wird für sie eine gute Chance sein, zu heiraten.“
Autorin
Monika Bremer
ist freie Journalistin in Kairo und Hamburg mit dem Schwerpunkt Gesellschaft und Kultur. Seit über einem Jahrzehnt liefert sie aus Ägypten Einblicke in das Leben vor Ort. In Hamburg widmet sie sich unter anderem dem Thema #unGehindert: Barrierefreies Leben und kulturelle Teilhabe.Das Schweigen über weibliche Genitalverstümmelung dominiert
Was es jedoch tatsächlich bedeutet, mit FGM zu leben, weiß die Aktivistin und Fotojournalistin Amira Mortada. Sie wurde mit zehn Jahren in Alexandria beschnitten und hat erst mit 35 Jahren während eines Praktikums in Deutschland bewusst erlebt, dass sie anders ist als westliche Frauen. Das Gefühl, dass diese ihren Körper besser kennen als sie den ihren, hat sie erkennen lassen, was sie seit Jahren akzeptiert und weitestgehend verdrängt hatte. Die Gewalt, die ihr angetan wurde, der Zwang, gesellschaftlichen Regeln zu folgen, der Verzicht auf eine Jugendliebe, um keusch zu bleiben – alles unter dem Vorwand der Moral und der Ehre der Familie. Sie wollte aufhören, sich in ihrem eigenen Körper gefangen zu fühlen.
Derzeit dreht sie eine Dokumentation über ihre Beschneidung und ihr Leben. Auf die Frage, ob sie glaube, dass die Gesellschaft in Ägypten heute offener sei, über FGM zu sprechen und dagegen zu kämpfen, antwortet sie mit Nein. Fast jede Frau in ihrem Alter in Ägypten ist beschnitten, aber niemand spricht darüber. „Das Schweigen dominiert immer noch. Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass soziale Medien und die neue Generation das alles leichter machen würden. Aber jetzt, wo ich angefangen habe, mit anderen Frauen zu sprechen, muss ich feststellen: nein, eigentlich nicht.“
Mit einer Operation kann die Klitoris rekonstruiert werden
Um die Beschneidung rückgängig zu machen, sei eine Operation notwendig, erfuhr sie in Deutschland. Wenn die Vorhaut und ein Teil der sichtbaren Klitoris entfernt wurden, lässt sich aus dem darunter liegenden nicht sichtbaren Organ die sexuelle Funktionsfähigkeit rekonstruieren, sofern die Nerven nicht zu sehr beschädigt wurden. Amira wandte sich an die Ärztin Reham Awwad, Direktorin der 2020 zunächst als NGO gegründeten Privatklinik Restore FGM in Kairo. Ihre Patientinnen kommen überwiegend aus Ägypten und dem Sudan und erfahren von der Klinik oft über Facebook-Gruppen. Sie nennt als häufigste Beschwerden nach FGM Depressionen, Ängste oder posttraumatische Belastungsstörung, gefolgt von verminderter Sexualfunktion und dem Gefühl, dass die Genitalien „nicht normal aussehen“.
Dr. Reham sagt, dass die volle Funktionsfähigkeit der rekonstruierten Klitoris oft nach einem Jahr gegeben sei. Zudem würde der Eingriff immer nur in Kombination mit psychologischer Begleitung vorgenommen. „Dieses Mal bin ich kein Opfer gewesen“, sagt Amira. Der erneute Schmerz sei nicht durch Gewalt, sondern durch ihren eigenen Mut entstanden.
Laut Dr. Reham erhalten die Frauen oft nur eine lokale Betäubung, damit sie den Eingriff bewusst und als eine positive Veränderung miterleben können. Viele hören dabei Musik. Wenngleich so eine Operation vielen Betroffenen Hoffnung gibt, ist es das Ziel von Aktivistinnen und Menschenrechtsorganisationen, die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung weltweit zu beenden. Auch Amira sagt: „FGM darf kein Tabuthema bleiben.“
Perspektiven durch Bildung und Jobs könnten gegen FGM helfen
Die Aktivistin Amal Abdel Hadi hat bereits in den 1990er Jahren miterlebt, wie sich das Dorf Deir ElBarsha in Mittelägypten offiziell gegen FGM ausgesprochen hat – noch bevor das Thema auf der Internationalen Bevölkerungskonferenz 1994 in Kairo große Aufmerksamkeit erlangte. Vorausgegangen war jahrelange Arbeit von NGOs und Aktivistinnen vor Ort. Der wichtigste Schritt sei damals jedoch gewesen, sagt Amal, FGM nicht länger als Frage der Gesundheit oder Religion zu behandeln, sondern als eine Verletzung der Menschenrechte. Das sei zentral gewesen, unabhängig davon, wo oder von wem FGM praktiziert wird.
„Mütter werden FGM erst aufgeben, wenn sie echte Alternativen für ihre Töchter sehen. Solange der Wert einer Frau fast nur von ihrer Heiratsfähigkeit abhängt, erscheint FGM vielen als notwendiges Übel“, sagt Amal Abdel Hadi. Statt Mütter zu beschämen, weil sie ihre Töchter beschneiden lassen, müsse man ihre Lebensrealität ändern. Echte Perspektiven durch Bildung und Jobs lassen Praktiken wie FGM ihren Nutzen verlieren. „Wahre Veränderung kommt durch Empowerment, nicht durch Verbote“, ergänzt Amal.
Während Mohammed sein Messer putzt und nur angesichts einer alternativen Einnahmequelle aufhören würde zu beschneiden, kämpft die Regierung in Kairo mit einer schwachen Wirtschaft. Das Thema FGM hat keine Priorität. Der internationale Druck ist verpufft – warum auch, die Praxis ist doch längst verboten. Die internationalen nichtstaatlichen Organisationen sind in Ägypten zum Thema FGM leiser geworden. Vorrangiges Thema beim National Council for Women ist derzeit der Kampf gegen sexuelle Belästigung.
„War es für dich das erste Mal?“, fragt mich Mohammed grinsend. Ich bin blass, nicke und antworte höflich, dass es für mich als europäische Frau fremd sei. Insgeheim aber schiele ich zu dem schwarzen Tütchen, das wieder am Haken hängt und auf den nächsten kleinen Jungen wartet – oder auf das nächste Mädchen. Vorbei an Ziegen am Wegesrand fahren wir aus dem Viertel auf die modernen Straßen Kairos. Im Stadtzentrum kann ich nicht verhindern, dass ich im Kopf anfange zu zählen, wenn ich junge Frauen auf der Straße sehe: „Eins, zwei, drei, vier …“. Acht von zehn.
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