Im Reich der kleinen Preise

Hildegard Willer
Dicht an dicht reihen sich die Geschäfte in Gamarra. Die Qualität der Waren ist noch zweitrangig.
Das Geschäftsmodell des Textilimperiums „Gamarra“ in Lima stößt an seine Grenzen

Eine der weltweit höchsten Ladenmieten zahlt man an einer Straße, die nichts von einer Edelmeile hat: Ausrufer bieten Turnhosen, Plastiktüten oder Maiskolben mit Käse feil.  Informelle Geldwechsler buhlen um die Kunden, in engster Nachbarschaft zur Filiale einer spanischen Großbank. Stoffballen werden auf dem Fahrrad oder in Handkarren transportiert;  kaputte Mannequinpuppen liegen in einem Müllsack verpackt neben einem Abfalleimer. Im Textilimperium Gamarra in Perus Hauptstadt Lima riecht es wie an einem Ort mit sehr vielen Menschen, zu wenig Abfalleimern und einer eher notdürftigen Kanalisation. Bei bis zu 30.000 US-Dollar Kaufpreis für den Quadratmeter Ladenfläche wird schon mal am Platz für die Toilette gespart.

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).

Bis zu 30.000 Geschäfte und Schneiderwerkstätten soll es hier geben, 100.000 Menschen sollen sich täglich auf der Jagd nach billiger Kleidung durch die Menge wühlen. Die Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Gamarra gilt zwar als größtes Einkaufscenter Perus, vielleicht sogar Lateinamerikas. Aber es geht informell zu: Verträge werden per Handschlag geschlossen, Geschäfte nicht angemeldet, Mindestlöhne und Arbeitsrechte in der Regel missachtet. Die Ausbeutung bleibt oft in der Familie, viele Werkstätten sind kleine Familienbetriebe. Für die peruanische Steuerbehörde ist Gamarra ein Alptraum, für den Brandschutz eine ständige Sorge. Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa dagegen schwärmt von Gamarra als einem Hort des Volkskapitalismus. 

Gamarra ist das Reich von Menschen wie Doris Huamán. Die 44-jährige Unternehmerin schreitet durch das Menschengewühl wie eine Königin durch ihr Hoheitsgebiet. Vor 14 Jahren hat die zweifache Mutter auf nicht mal einem Quadratmeter Verkaufsfläche Schuhe angeboten. Heute nennt sie acht Schuhgeschäfte ihr Eigen und ist Generalvertreterin für eine brasilianische Schuhmarke. Die größte Zeitung Perus kürte sie zur Vorzeige-Powerfrau.  Doris Huamáns Eltern kamen in den 1960er Jahren als arme Migranten aus der Provinz in die Hauptstadt Lima, siedelten sich in der leeren Wüste an. Das Talent zum Handeln hat Doris Huamán von der Mutter geerbt, die ihre Kinder allein großziehen musste. „Am wichtigsten  war  meine Hartnäckigkeit“, sagt sie. „ Zu wissen, dass man flaue Zeiten einkalkulieren muss, nicht gleich aufgeben.“

Viele bleiben hier hängen

Erschaffen wurde Gamarra von Menschen, die in der Hierarchie Perus ganz unten stehen: indianisch stämmigen Migranten aus den Anden und dem Tiefland. Ab den 1950er Jahren kamen sie in die Hauptstadt auf der Suche nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Kinder. Die Straße Gamarra im Viertel La Victoria lag gleich neben dem Großmarkt und war Durchgangsgebiet für Migranten auf Arbeitssuche. Bereits Anfang des Jahrhunderts hatten sich hier vor den Toren der Altstadt vor allem palästinensische Einwanderer als Textilhändler niedergelassen. So mancher Migrant blieb bei einem Aushilfsjob in Gamarra hängen.
In den 1990er Jahren wurden dann viele Staatsbedienstete entlassen – mit der Abfindungssumme kauften sich viele eine Nähmaschine und machten eine kleine Schneiderwerkstatt auf.  Ausgebildete Näher oder Händler waren die wenigsten, aber sie hatten einen starken Willen, arbeiteten bis zum Umfallen – und sahen keine wirtschaftliche Alternative zur Selbstausbeutung. Der Staat war in jenen Jahren mit dem Kampf gegen den Terrorismus und die Inflation beschäftigt. Für die Förderung seiner informellen Kleinunternehmer blieb da nichts übrig.

„Überlebenscluster“ nennen Betriebswirtschaftler dieses Konglomerat von kleinen Familienbetrieben und informellen Händlern, die in der gleichen Sparte tätig sind und sich ungeordnet auf dem gleichen Raum ansiedeln.  Ein Cluster zu bilden gilt als erstrebenswert auf dem Weg zu wirtschaftlichem Wachstum und industrieller Entwicklung. Die Balance von Synergien und Konkurrenz treibt in einem idealen Cluster die Wettbewerbsfähigkeit voran. Gilt das auch für Gamarra? Carmela Vildoso ist bei der Stadt Lima für die Gewerbeförderung zuständig und sieht das Textilimperium mit gemischten Gefühlen. Zwar seien viele Arbeitsplätze entstanden, Gewinne würden aber nicht in neue Technologien investiert, kritisiert sie. Das Resultat: Der Preis für die Kleider ist zwar unschlagbar gering – die Qualität aber auch. Und trotzdem – Gamara habe einen Traum geschaffen, meint Carmela Vildoso: „Dass man auch als einfacher Peruaner gesellschaftliche Barrieren überwinden und es zu etwas bringen kann.“

Vom Kleinbauernsohn zum Unternehmer

Diógenes Alva verkörpert diesen Traum. Der 63-jährige Unternehmer besitzt zwei Läden und ein mehrstöckiges Geschäftshaus. Auf dem Weg in sein Büro im fünften Stock durchquert man lange Gänge, in denen sich ein Verkaufsstand an den anderen reiht. Gürtelschnallen in jeglicher Form und Farbe, Ösen und Nieten stapeln sich hier. Das Büro hat den Charme eines Hinterzimmers, an der Wand hängen Urkunden, die Alva als Vorsitzender der Händlervereinigung von Gamarra erhalten hat. Obwohl er selbst nie Student gewesen ist, doziert er inzwischen an Universitäten. An seinem Arm glänzt ein Goldkettchen, die Armbanduhr hat er sicher nicht in Gamarra gekauft.

Der Kleinbauernsohn Diógenes Alva kam vor 43 Jahren nach Lima, weil er Polizist werden wollte.  Das Geld reichte nicht für die Polizeischule, er verdingte sich als Putzkraft bei einem Landsmann, der einen kleinen Stoffstand in Gamarra hatte. Nach einigen Jahren durfte er an den Verkaufstresen, vor 30 Jahren machte er sein eigenes Geschäft auf. „An meinem ersten eigenen Handel habe ich mehr verdient als in zwölf Jahren als Angestellter“, erzählt er stolz.  Ein Geschäftsmann war geboren. Heute dringt Alva der Erfolg aus allen Poren. Und zugleich verkörpert er den drohenden Niedergang Gamarras. Denn sein Geld macht er mit dem Import von billigen Accessoires aus China. Seinen Gewinn hat er nicht in die Erneuerung der Textilproduktion gesteckt, sondern in Immobilien angelegt, wie viele Geschäftsleute. Der Immobilienmarkt boomt in ganz Peru, und Gamarra ist das teuerste Pflaster Limas. Diógenes Alva beklagt sich zwar, dass der peruanische Staat die einheimische Produktion nicht vor der chinesischen Konkurrenz schützt, als Importeur macht er aber gute Geschäfte mit den Chinesen.

Juana Kuramoto stimmt nicht ein in die Lobgesänge auf die erfolgreichen Selfmade-Männer und -Frauen von Gamarra.  Die Expertin für technologische Innovation bei der peruanischen Denkfabrik „Grade“ bemängelt, dass bis zu 14 Händlerorganisationen für sich in Anspruch nehmen, für das Imperium zu sprechen. „Es gibt keine Stimme oder Person, die alle Händler in Gamarra repräsentiert. Das Misstrauen untereinander ist sehr groß“, sagt die Wissenschaftlerin. Eine Qualitätskontrolle findet nicht statt, die Verarbeitung der Kleider ist oft schlecht, die Mode-Designs sind schlicht und ähneln sich. Zwar hat Peru mit seiner „Pima“-Baumwolle und den edlen Alpaca- und Vicunha-Wollen edle Stoffe im Angebot, aber die enden so gut wie nie in den Läden von Gamarra, sondern in einigen Edelboutiquen in Limas Nobelviertel San Isidro. Ein Fünftel der in Gamarra hergestellten Kleidung wird exportiert in die Nachbarländer Bolivien, Ecuador, Kolumbien und vor allem nach Venezuela, vieles davon auf dem informellen Landweg.

Der europäische Markt ist anspruchsvoller – und wird deshalb bisher nicht von Gamarra beliefert.  Sandra Gamboa möchte das ändern. Den deutschen Mann stellt sich die junge Modedesignerin als jemanden vor, der gerne reist und ins Fitnessstudio geht, um seine Figur nicht zu verlieren.  Bei der Mode setzt er auf Qualität und ethnische Einsprengsel an Jacke und Hose. Für ihn – den imaginären deutschen Kunden – hat Sandra Gamboa ihre Examensarbeit an einer peruanischen Modeschule erstellt. Ausprobieren konnte sie ihre Schnitte bisher erst an ihren Brüdern; nun möchte sie den Konfektionisten in Gamarra ihre Kollektion schmackhaft machen.

Qualität statt Masse im Innovationszentrum

Ihre Modeschule hat einen Ableger in Gamarra eröffnet, um die Schneider im Entwerfen und Zeichnen von Schnittmustern auszubilden und um Designs zu verkaufen. Die Kurse im „Technologischen Innovationszentrum Chio Lecca“ sind gut besucht. Sandra Gamboa ist Teile ihrer Kollektion schon mehrmals losgeworden, rund 250 Euro bezahlen die Billigschneider von Gamarra für eine Kollektion Unterwäsche, die aus vier Teilen besteht. Doch das Zentrum ist eine Ausnahme.

Wie die Privatunternehmer hält sich auch der peruanische Staat bei der Förderung von technischen Innovationen für Kleingewerbe zurück. Gerade einmal 0,15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes würden dafür ausgegeben, beklagt die Wissenschaftlerin Juana Kuramoto. Sie ist überzeugt davon, dass das frühere Erfolgsmodell Gamarra seinen Zenit bereits überschritten hat. Es sei denn, die billigere Konkurrenz aus China löse einen heilsamen Schock aus, der die Hersteller und Händler dazu bringt, mehr auf Qualität statt auf billige Massenware zu setzen. In der brasilianischen Schuhindustrie war dies der Fall. In Peru steht dieser Qualitätsschub noch aus.

Bisher waren die peruanischen Kunden beim Kauf ihrer Kleidung wenig wählerisch, solange sie nur billig war. Die Unternehmerin Doris Huamán meint, dass sich diese Mentalität wandelt. „Die Kunden haben heute mehr Geld und wissen Qualität und Service zu schätzen“, sagt die erfolgreiche Geschäftsfrau. In anderen Bereichen ist man da schon weiter. Die Gewerbehüterin Carmela Vildoso verweist auf Restaurants, Bistros und Cafés. Beim Essen wüssten die Peruaner sehr wohl zwischen Qualität und Junkfood zu unterscheiden. Lima gilt als kulinarische Hauptstadt Südamerikas – die Gastronomie wird bereits als neues Zugpferd für wirtschaftliche Entwicklung betrachtet.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2012: Die Wirtschaft entwickeln
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