Die Eroberung der Favelas

Brasiliens zweitgrößte Stadt Rio de Janeiro zählt zu den gefährlichsten Städten der Welt. Das soll sich spätestens bis 2014 ändern, wenn zehntausende Fans zur Fußball-Weltmeisterschaft erwartet werden. In die Armenviertel der Innenstadt, die von Drogengangstern beherrscht werden, soll Ruhe und Ordnung einkehren. Ein Anfang ist bereits gemacht, doch mit den Folgen sind nicht alle glücklich.
Manoel bietet seinen Trödel auf der Straße an. Der 54-Jährige verkauft in einer der größten Favelas von Rio de Janeiro, dem Complexo do Alemão, altes Werkzeug und getragene Schuhe. Im vergangenen November war sein Viertel Schauplatz eines Großeinsatzes von Polizisten und Sicherheitskräften. Mehr als 45 Menschen starben bei dem Vorhaben, eine der gefährlichsten Favelas der Stadt wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Viele Opfer gehörten einer Drogengang an. 800 Soldaten und 1600 Polizisten schafften es in wenigen Tagen, den Complexo do Alemão und die angrenzende Vila Cruzeiro zu erobern.
 

Autorin

Solveig Flörke

ist Kulturwirtin und arbeitet als freie Autorin und Reporterin in Südamerika.

Mit seinem Vorgehen hat Rios Sicherheitssekretär José Mariano Beltrame nicht nur die Drogendealer überrascht, sondern auch viele Brasilianer. Der Trödler Manoel kann über die neu gewonnene Freiheit trotzdem nur lachen. „Das ist doch ein Witz", sagt er, „die kommen über 30 Jahre zu spät mit ihrem Befreiungseinsatz. Ob Drogengang oder Polizei, für mich ändert sich nichts." Während vor allem die Jüngeren die Vertreibung der etwa 600 Drogendealer feiern, ist die ältere Generation skeptisch. Sie hat es bereits erlebt, dass die Polizei sie nach einer Eroberung schnell wieder allein gelassen hat.

„Dafür mussten viele Bewohner später büßen", erinnert sich auch Paulo Cesar. Die Kriminellen kamen zurück und rechneten ab. Der 45-Jährige betreibt eine kleine Bar im Complexo do Alemão, er ist dort geboren und aufgewachsen und hat sich immer wieder mit neuen Verhältnissen arrangiert. Trotzdem ist er optimistisch: „Ich hoffe, diesmal war es die letzte Operation", sagt er. Für viele Beobachter und Experten ist das neue Vorgehen der Behörden der bisher ehrlichste Versuch, in Rio de Janeiros Armenvierteln für Frieden und demokratische Verhältnisse zu sorgen.

Realität im Film: Tropa de Elite

Der brasilianische Regisseur Jose Padilha hat der Spezialeinheit Batalhão de Operações Especiais (BOPE) zwei Filme gewidmet. Der erste erhielt auf der Berlinale 2008 ...

José Mariano Beltrame, ein Mann aus dem Süden Brasiliens, ist seit 2007 im Amt. Als Sicherheitssekretär der Stadt soll er als Vorbereitung auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele zwei Jahre später für Sicherheit sorgen. Die schockierende Zahl von mehr als 2000 Morden im Jahr allein im Stadtgebiet muss gesenkt werden. Bis 2016 will Beltrame 100 der insgesamt 1200 Armenviertel für den Staat zurückerobern. 15 gelten bisher als „pazifiziert", darunter die durch den gleichnamigen Film berühmt gewordene Cidade de Deus (City of God). Das heißt, illegale Regime wie Drogengangs wurden vertrieben, rechtsstaatliche Strukturen etabliert.

Um das zu erreichen wurde 2008 die Unidade de Polícia Pacificadora (UPP) gegründet. Die Friedenspolizei soll nach der gewaltsamen Eroberung einer Favela dafür sorgen, dass Drogenhandel und Kommandoherrschaft nicht zurückkehren. Sie soll die Bewohner beschützen und Vertrauen zwischen Polizei und Bevölkerung schaffen. Enthusiastisch unterstützt vom Gouverneur von Rio de Janeiro gilt die Ausbildung der UPP als wichtigster Schritt der Stadt gegen die Kriminalität. Verfolgt wird eine doppelte Strategie: Zuerst befreit die Spezialeinheit des Batalhão de Operações Especiais (BOPE), porträtiert in den Kinofilmen Tropa de Elite 1 und 2, die Favelas von den illegal bewaffneten Drogenbanden. Danach besetzt die UPP das Gebiet. Vielerorts gelangt so zum ersten Mal eine staatliche Gewalt in die Favelas.

„Der Einsatz der UPP ist eine Entwicklung in die richtige Richtung", sagt Professor Robert Muggah vom Institut für Entwicklungsstudien an der Universität Genf. Für eine dauerhafte Befriedung der Armenviertel müssten ihre Aufgaben jedoch mit der Justiz abgestimmt werden, um etwa eine effektive Verfolgung von Drogendelikten zu erreichen. Ferner müssten weitere Förderprogramme wie das PAC (Programa de Aceleração do Crescimento) aufgelegt werden, fordert der Wissenschaftler. Mit dem Programm will die brasilianische Regierung Arbeitsplätze schaffen, benachteiligte Regionen aufwerten und die Wirtschaft ankurbeln.

Nachdem der Staat die Armenviertel jahrzehntelang vernachlässigt hat, kommt mittlerweile in pazifizierten Favelas ein UPP-Polizist auf 40 Bewohner; der Durchschnitt für das gesamte Stadtgebiet von Rio de Janeiro liegt bei nur 1 zu 400. Bis 2016 soll die Zahl der Polizisten allein in der UPP 62.000 betragen, gleichzeitig soll die Präsenz der Spezialeinheit langsam verringert werden. Das erste „befriedete" Armenviertel war Ende 2008 Santa Marta. Es gehört zum Stadtteil Botafogo und ist vor allem bekannt als Drehort von Michael Jacksons Musikvideo „They Don‘t Care About Us". Die mit 8000 Einwohnern vergleichsweise kleine Favela ist zum Aushängeschild für diesen Befreiungsplan geworden. Gerne verweisen Rios Politiker auf das Vorzeigemodell. 120 Polizisten sind nötig, um der Gemeinschaft Sicherheit zu garantieren.

Beltrames Plan klingt also gut, doch das von ihm ausgerufene Prinzip der „harten Hand" und „Null Toleranz" gegen Drogenbosse und Kriminelle hat besonders für die Bewohner der Gebiete am Stadtrand drastische Folgen. Denn immer mehr Gangster flüchten dort hin. Konnte man dort bisher doch weitgehend in nachbarschaftlicher Beschaulichkeit leben, liefern die rivalisierenden Banden sich nun heftige Schießereien im Kampf um Territorium. Bei den Favelas, die vorrangig befreit werden sollen, handelt es sich nämlich vor allem um die Drogenumschlagsplätze entlang der teuren und schicken Viertel im Süden und um Reviere krimineller Gangs in unmittelbarer Nähe der geplanten Sportstätten. Die wurden nun an den Stadtrand verlagert. Kriegsähnliche Zustände versetzen die Bewohner dort in Angst und Schrecken. Zwar wird auch im Umland mit Drogen gehandelt, aber diese Gebiete waren bisher verschont von brutaler Tyrannei der so genannten Donos, der Besitzer einer Favela.

Sofia und Halena sind heute die einzigen Frauen auf dem Freitagsmarkt in Santa Cruz. Die anderen kommen nicht mehr, um an ihren Ständen Kleider, Schmuck, Hotdogs oder Popcorn zu verkaufen. „Die Leute trauen sich nicht mehr raus", sagt Sofia, während sie die Silberkette auf der Auslage zurechtlegt. Die 42-jährige Brasilianerin ist in Santa Cruz geboren, dem äußersten Stadtviertel Rios mit insgesamt 200.000 Einwohnern. Dort lebt sie bis heute, 70 Kilometer beträgt die Distanz zum Zentrum der Metropole. „Hier war es früher total ruhig", sagt sie. „Mehr wie auf dem Land. Jeder kannte jeden und auf der Straße musste man keine Angst vor Kugeln haben."

Mittlerweile sei das anders, findet auch der Rentner Wilson: „Nach 20 Uhr geht bei uns keiner mehr aus dem Haus. Die Polizei tut ja was sie kann, aber leider ist der Krieg zu Routine geworden." Vor allem in den Abendstunden lassen Schüsse und Granatenschläge die Bewohner zusammenzucken. Wegen eines heftigen Gefechts zwischen verfeindeten Banden im vergangenen September strich die lokale Fachhochschule alle Vorlesungen, drei Krankenhäuser, sieben Schulen und drei Kinderkrippen blieben aus Sicherheitsgründen geschlossen. Fast täglich gibt es Tote, wenn rivalisierende Drogenbanden und ehemalige Polizisten, die sich zu einer eigenen Fraktion, den Milicias, zusammengeschlossen haben, um das immer knapper werdende Territorium kämpfen.

„Wen wir nicht festnehmen können, flüchtet nach Möglichkeit in eine andere, verbündete Favela", gibt José Beltrame selbst zu. Die meisten Brasilianer stehen hinter dem aktuellen Vorgehen der Polizei- und Sicherheitskräfte, um die Ordnung wiederherzustellen. Aber sie sind sich auch einig, dass die Stabilität auf lange Sicht von einer wirklichen sozialen Veränderung abhängt. So müssten die hohe soziale Ungleichheit verringert und der Kampf gegen die Drogen effektiver geführt werden. Ebenso gilt es, die große Zahl der Drogenabhängigen zu reduzieren.

„Wenigstens zwei Drittel der Bevölkerung waren im vergangenen Jahr irgendeiner Form von Gewalt ausgesetzt", sagt Professor Muggah aus Genf. Aufgrund der Gewalt auf den Straßen können Kinder nicht mehr zu Schule gehen, Geschäfte schließen und Investoren werden abgeschreckt. Das durchaus ernst gemeinte und hoch gelobte Konzept der Behörden dient offenbar doch vor allem der Sicherheit der brasilianischen Oberschicht und der Touristen, die in Ipanema, an der Copacabana oder in Leblon leben. Abgelegene Stadtviertel wie Santa Cruz werden einmal mehr sich selbst überlassen. Daran ändern auch die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele nichts.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2011: Die Freiheit des Glaubens
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