Allah in den Anden

Hildegard Willer
Die schiitische Gemeinschaft von Abancay um Jhon Hilton (vorne, dritter von links) und Edwar Quiroga (hinten rechts).
Islam
In der peruanischen Stadt Abancay predigt ein selbst ernannter muslimischer Führer eine Mischung aus traditionellem Inka-Glauben und Islam. Seine jugendlichen Anhänger sind begeistert.

Anamaria Aroni erschrak, als ihr Sohn Jhon Hilton das Ziel seiner weiten Reise nannte: In den Iran sollte es gehen, am übernächsten Tag schon. „Danach machte ich mir Vorwürfe, ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen. Doch dann vertraute ich auf Gott, dass alles gut würde“, sagt die rundliche Frau mit den schwarzen Wuschellocken. Ihr Gott, das war und ist der christliche der Katholiken. An ihn zu glauben hatte sie auch ihre sechs Kinder gelehrt. Und ihr Gottvertrauen half: Nach mehr als einem Jahr kehrt der 23-jährige Jhon Hilton wohlbehalten zurück. Allerdings betet er seitdem auf Arabisch zu Allah. Und er hat einen neuen Namen: Sadek, der Wahrhafte, nennt er sich.

Die Begebenheit spielt nicht in einer mitteleuropäischen Stadt, sondern in Abancay in den peruanischen Anden. „Ist das eine Religion? Davon habe ich noch nie gehört.“ So antworten die Passanten auf einer der beiden Hauptstraßen, wenn man sie nach dem Islam fragt. Abancay liegt weit entfernt von der Hauptstadt Lima und auch etwas zu weit weg von der Touristenmetropole Cusco, als dass sich Fremde hierher verirren würden. Die 60.000 Einwohner leben in einem Talkessel, viele von ihnen sprechen noch Quechua, die Sprache der alten Inka.

Der berühmteste Spross der Stadt ist eine Tochter: Micaela Bastidas hat zusammen mit ihrem Mann Tupac Amaru im 18. Jahrhundert einen Indianeraufstand gegen die Spanier angeführt und  wurde dafür grausam hingerichtet. Abancay ist das, was man das „tiefe Peru“  nennt, das indigene, urtümliche, zerklüftete Hinterland, das den Hauptstädtern an der Küste immer unbekannter und unheimlicher war als die Metropolen Europas oder der USA.  Hier in diesem hintersten Flecken Perus hat sich der Iran eine schiitische Enklave eingerichtet.

„Eigentlich wollte ich katholischer Priester werden, aber unser Pfarrer nahm mich nie wahr“, beginnt Jhon Hilton, alias Sadek, seine Geschichte, wie er zum Islam gefunden hat. In einem unauffälligen Haus in der Nähe der Universität treffen sich junge Frauen und Männer. Es könnte sich um eine beliebige Studentenclique handeln – doch die beiden Frauen tragen ein Kopftuch und die jungen Männer deuten statt des in Peru üblichen Begrüßungskusses eine Verbeugung an, in gebührender Distanz zu jeder weiblichen Person.

Verteidigung von Kopftuch und Todesstrafe

„Aber dann besuchte uns ein religiöser Führer aus dem Irak, ein Sheikh, er beeindruckte mich durch sein Verhalten, einfach, bescheiden, solidarisch war er“, fährt Jhon Hilton fort. Der kräftig gebaute junge Mann in Jeans und dem verwaschenen T-Shirt wirkt nicht wie einer, der den ganzen Tag im Lesesaal verbringt. Und doch:  Am Islam gefalle ihm, dass man zuerst studieren müsse, um zu glauben, sagt er. Und dass die Lehre mit der Praxis übereinstimme.

Jhon Hilton ist der Vorbeter der Gruppe. Er wirft einen schwarzen Kaftan über und beginnt auf Arabisch zu singen. In der zweiten Reihe knien Auqui,  David und Alvaro. Dahinter die beiden Frauen, nun ganz in Leintücher gehüllt. Die 18-jährige Carmen Solis wirkt mit ihren großen runden Augen unter dem Kopftuch wie ein junges unbedarftes Mädchen. Dabei ist sie Jurastudentin und eine der besten ihres Jahrgangs – und seit fünf Jahren Muslimin. Das Kopftuch verteidigt sie vehement: „Es ist wie mit einem Bonbon. Wenn es ohne Hülle ist, kann jeder davon naschen. Wenn es eingewickelt ist, bleibt es unangetastet für den, dem es bestimmt ist.“ Sanft, aber sehr bestimmt spricht sie sich auch für die Todesstrafe aus. „Wenn es sie wieder gäbe, hätten wir in Peru vielleicht weniger Kriminalität“, sagt die junge Frau unter ihrem gepunkteten Hidschab.

Rund 20 junge Männer und Frauen aus Abancay sind bereits zur Unterweisung in die Heilige Stadt Qom gereist. Auf Einladung der islamischen Volksrepublik Iran, die sich ihre Konvertiten in Lateinamerika einiges kosten lässt. Wie kommen die Sheikhs aus dem fernen Iran dazu, gerade junge Menschen aus Abancay für ihre Religion zu rekrutieren?

Die Schlüsselperson heißt Edwar Quiroga und genießt einen umstrittenen Ruf. Der 40-jährige Bauunternehmer gilt als Irrlicht und Störenfried in der Lokalpolitik, spätestens seit er 2011 für eine indio-faschistische Splitterpartei für das Amt des Regionalpräsidenten in Abancay kandidierte.

Inzwischen träumt Edwar Quiroga nicht mehr von Regionalwahlen, sondern davon, mit einer theokratischen Partei ganz Peru politisch aufzumischen. Sein Hauptquartier befindet sich in einem ehemaligen Bankgebäude in der Altstadt von Lima. Eine schwere Eisentür versperrt seine Wohnung im zweiten Stock des Gebäudes, eine Kamera nimmt jeden Besucher auf. Drinnen nimmt das Bildnis einer schwarzen Figur im wehenden Mantel eine ganze Wand ein. Es ist der scheidende Imam Al-Mahdi, der zwölfte Imam. Er soll wie der jüdisch-christliche  Messias am Ende der Welt wiederkommen. Die Wände zieren kalligrafierte arabische Koransprüche. Auf dem Boden liegt ein Gebetsteppich, über dem Schreibtisch prangt das Doppelporträt des iranischen Ajatollahs Chomeini und seines Amtsnachfolgers Ali Chamenei.

In der Galerie der Vorbilder fehlt Hugo Chávez

In der Galerie fehlt das Portrait der Person, ohne die Edwar Quiroga nie Muslim geworden wäre: des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Der führte Anfang des neuen Jahrtausends einen erbitterten Kampf gegen das Amerika des George W. Bush; Bush und Chávez bezichtigten sich gegenseitig des Bösen schlechthin. Chávez beglückte seine politischen Alliierten in Lateinamerika damals mit billigem Öl, kubanischen Ärzten und dem Traum  einer lateinamerikanischen Freihandelszone ohne die USA, der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika – Handelsvertrag der Völker (ALBA). Den Iran lud er getreu dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ als assoziiertes Mitglied in die ALBA-Gruppe ein. Vor gut zehn Jahren begann eine rege Reisetätigkeit zwischen Caracas und den befreundeten Regierungen in Kuba, Nicaragua, Ecuador, Bolivien und Argentinien. Und immer öfter waren auch Emissäre des Iran dabei.

Peru zählte nicht zu den politischen Verbündeten Venezuelas. Umso wichtiger war es für Chávez, linke Oppositionspolitiker in das ALBA-Projekt einzubinden. Edwar Quiroga als linker Regionalpolitiker wurde so Teil einer intensiven, aus Venezuela gesteuerten Reisediplomatie. So traf Quiroga, der Sozialist aus den Anden, bei einem Treffen der ALBA-Gruppe in Bolivien erstmals auf einen muslimischen Geistlichen aus dem Iran. Sehr schnell fanden sie Gemeinsamkeiten.

„Ich erzählte dem Sheikh vom Widerstandskampf unseres Tupac Amaru, der von den Spaniern gevierteilt wurde. Er erzählte mir vom Imam Hussein, der wegen seines  Glaubens gesteinigt wurde. Und dann erzählte er mir von der Revolution des Ajatollah Chomeini. Am Ende weinten wir beide.“ Quiroga lud den Geistlichen nach Abancay ein. Es wurde einer von vier Besuchen, die iranische oder argentinisch-iranische Sheikhs seitdem dem Andenstädtchen abgestattet haben. Quiroga war der erste Konvertit in Abancay und reiste fortan statt nach Caracas in die Heilige Stadt Qom. Zu Hause verbreitete er seine Botschaft.

„Zuerst reagierte meine Umgebung misstrauisch, aber nach und nach kamen die Studenten aus dem Lesezirkel, den ich an der Uni abhielt, und wollten auch Muslime werden“, berichtet Quiroga.  Heute trägt er einen Vollbart und verkündet seine Spielart des Islam, eine Mischung aus der alten Inka-Religion und dem Glauben an Allah und seinen Propheten Mohammed. Und er werkelt an einer theokratischen Parteienallianz für die Wahlen im Jahr 2021. Dass er von den peruanischen Medien als Terrorist bezeichnet wird, oder sogar als Seuche „Ebola“, empört ihn. 

Wenn man in Peru von Terrorismus spricht, dann denken die wenigsten an den islamistischen Terror im Nahen Osten. Edwar Quiroga war elf Jahre alt, als sein älterer Bruder Edgar für immer hinter den Mauern einer Kaserne der peruanischen Armee verschwand. Die Armee hatte ihn wegen des Verdachtes des Terrorismus gefangengenommen und dann getötet. Als Vorsteher des Dorfes Suncho war er zwischen die Fronten der maoistischen Terrorgruppe „Leuchtender Pfad“ und der peruanischen Armee geraten. Sie lieferten sich im Hinterland der peruanischen Anden einen grausamen Krieg. Während der vor 20 Jahren tobende Bürgerkrieg in der Hauptstadt Lima längst vergessen ist, sind die Erinnerungen in Abancay noch sehr lebendig. Wie Edwar Quiroga hat fast jede Familie eine Geschichte von Leid, Tod und Vertreibung zu erzählen. Manchmal hilft die Religion dabei, diese Geschichte aufzuarbeiten.

Der Islam soll gegen korrupte Politiker helfen

Auqui Tica war die baptistische Gemeinde, in der seine Eltern aktiv sind, nicht politisch genug. „Ich wollte politisch tätig sein, ohne die Religion aufzugeben“, sagt der 23-jährige Bergbaustudent. Auqui ist begeistert von der Synthese aus altem Inka-Glauben und dem Islam, dem Inkarr-Islam, den Quiroga predigt. Genau wie der zwölfte Imam Mahdi werde auch Inkarri, der Inka-König, am Jüngsten Tag wiederkehren, darauf vertrauen die Gläubigen fest.

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Auqui verbringt die meisten Zeit in der Studentenvertretung der staatlichen Uni in Abancay, organisiert Streiks, Straßenblockaden, verteilt Flugblätter. Die Universität ist nach der Lokalheldin Micaela Bastidas benannt und befindet sich seit Monaten im Ausstand – den Grund für den Streik kennt heute niemand mehr so genau. Den drahtigen, lebhaften Auqui treibt vor allem die Sehnsucht nach einer glaubhaften politischen Alternative an: „Schau dir doch unsere Politiker an. Sie haben keinerlei Spiritualität, sind korrupt oder haben mehrere Frauen. Wenn einer einen festen Glauben hat, dann ist er nicht mehr anfällig für die Korruption.“ Der Glaube an Allah und die festen Regeln des Islam sollen den spirituellen Boden für eine andere Politik liefern – dabei ist es Auqui egal, ob das Fundament christlich oder muslimisch ist.

Eine tief verwurzelte Religiosität, die Erfahrungen mit der Gewalt des „Leuchtenden Pfades“, die sich in der Erzählung Quirogas nahtlos in die mehr als 500-jährige Unterdrückungsgeschichte der indigenen Bevölkerung  einreiht, eine lebendige messianische Tradition – all das sind Elemente, an die Quiroga mit seinem Inkarr-Islam anknüpft und mit denen er die Jugendlichen abholt. Dazu kommt die Möglichkeit, im fernen Iran zu studieren. Das überzeugte auch die Eltern von Jhon Hilton, die sich als einfache Verwaltungsangestellte mit sechs Kindern nie leisten könnten, ihre Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

Jhon Hilton möchte so bald wie möglich wieder in den Iran reisen, um islamische Philosophie zu studieren. „Hauptsache, er  lernt etwas, hat damit mehr Chancen, bringt es zu etwas“, sagt Anamaria Aroni.  Sie ist stolz  auf ihren Sohn, der etwas aus sich mache. Mit seinem neuen Glauben hat sich Anamaria, die Katholikin, abgefunden. Auch mit dem neuen Namen, Sadek. Dafür hat Anamaría eine salomonische Lösung gefunden: „Ich nenne ihn weiter bei seinem Kosenamen Pico.“

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Grundsätzlich setze ich voraus dass Religion nicht etwas von Gott gewolltem ist, sondern vielmehr eine Anleitung zum richtigen Umgang mit für uns Menschen wichtigen sozialen, natürlichen und gegebenenfalls monetären Werten oder Ressourcen.

Dazu ist eine gewisse Entwicklung der Sinne notwendig. Diese führt zu einer bestimmten Haltung und Handlungsweise welche wiederum das menschliche Verhalten seiner Umgebung gegenüber formt.

Ein gutes Verhältnis zu sich, zu den anderen sowie all dessen welchem wir begegnen schaffend, dies sollte Religion sein. Vielfach wird und wurde dies vernachlässigt oder geriet in Vergessenheit.

Daher wohl auch der oft zum Ausdruck gebrachte Wunsch nach Sicherheit, in Peru speziell als "Sicherheit der Einwohner" (Seguridad Ciudadano) bezeichnet.

Dummerweise gelangte auch eine gewisse Radikalisierung in viele Religionen. Dies bewirkte wiederum zu einer Entfremdung des realen vom elementaren einer Religion.

So lange Wertschätzung, Aufrichtigkeit, Respekt und Frieden, auch soziale Integrität der Individuen, gepaart mit Verständnis zu natürlichen Regelungen oder Abläufen ganz vorne eines Glaubens steht, wird wohl auch Gott mit der verkündeten Definition von ihm einverstanden sein. Hauptsache liegt wohl in dem was in Liebe, Verständnis und Weisheit an Aktivitäten ausgeführt wird.

In wie weit dies möglich ist, liegt wohl eher bei jedem einzelnen und daraus formt sich die Gesellschaft. Ob nun zum Guten oder weniger, dies wird sich zeigen.

Persönlich wünsche ich jedem Menschen die besten Entwicklungsmöglichkeiten und ein Leben in Frieden, Achtung und Liebe.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2016: Religion: Vom Glauben und Zweifeln
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