Stiller Vorwurf an den Westen

Larissa Bender gibt Syrerinnen und Syrern eine Stimme, deren Leben sich durch den Bürgerkrieg fundamental verändert hat: Kraft, Mut, Zuversicht werden sichtbar – und Enttäuschung angesichts des Unvermögens internationaler Diplomatie.

Luftballons, von denen Papierschnitzel mit dem Wort „Freiheit“ auf die Städte herabschweben. Demonstranten, die Soldaten mit roten Rosen beschenken. So begann vor mehr als vier Jahren der Protest gegen Syriens Präsidenten Baschar al-Assad. Sturmgewehre holten die Luftballons vom Himmel, die Blumen in den Gewehrläufen konnten den Schießbefehl nicht stoppen. Aus einer friedlichen Protestbewegung wurde ein brutaler Bürgerkrieg, der Tausende Menschen getötet, Kulturdenkmäler vernichtet und dem fanatischen Islamismus den Weg bereitet hat. 

Die Arabistin und Übersetzerin Larissa Bender lässt in diesem Sammelband Menschen zu Wort kommen, die noch immer in Syrien leben. Einige von ihnen sind durch die Folterkammern des Regimes gegangen und nicht gebrochen worden. Die Autorinnen und Autoren sind mit wenigen Ausnahmen Syrer, die schildern, wie der Krieg den Alltag verändert hat.

Die Journalistin und Bürgerrechtlerin Samar Yazbek etwa hat die Geschichte einer jungen Aktivistin aufgeschrieben, die von Festnahme, Gefängnis, Verhör, Misshandlung und Demütigung erzählt. Und von der Gewissheit, dass alles noch viel schlimmer kommen kann: „Das Gefängnis kann ein Segen sein. Wäre ich dort geblieben, hätten sie nicht meinen Bruder statt meiner verhaftet und mir nicht gedroht, ihn zu töten. Wir haben einige Tage später seinen Leichnam von einem Krankenhaus in Empfang genommen“, berichtet die junge Frau. Der Schriftsteller und Satiriker Khateeb Badle macht darauf aufmerksam, dass eine Generation ohne Bildung aufwächst. „Abgesehen von den 110 Lehrern, die laut Unicef in den ersten beiden Jahren getötet wurden, wurden Lehrer verhaftet, einige starben unter der Folter.“ Das vergleichsweise gute Bildungssystem liege in Trümmern. Der Islamische Staat habe „der Bildung ganz offen den Krieg erklärt“, schreibt Badle.

Doch obwohl kein Ende des Krieges abzusehen ist und der Vormarsch der Islamisten die demokratische Opposition isoliert hat, blicken viele der Autoren optimistisch in die Zukunft. So freut sich der Lyriker Kheder Alaga, dass man heute nicht mehr gezwungen sei, bei jeder Gelegenheit Ergebenheitsparolen für den „weisen Führer“ zu skandieren.

Besonders beeindruckend sind die Beiträge der Künstlerinnen und Künstler, die aus den Zerstörungen und der Absurdität des Bürgerkrieges Inspiration für ihre Werke schöpfen. So etwa der Damaszener Maler Tammam Azzam, der den berühmten „Kuss“ von Gustav Klimt oder die nackten Tanzenden von Henri Matisse auf ein zerschossenes Gebäude mit Trümmerfeld und gähnenden Fensterhöhlen projiziert. Azzam lässt ein zerstörtes Gebäude aus Aleppo oder Homs, getragen von bunten Luftballons, am britischen Parlament in London vorbeischweben.

Da sind sie wieder, die unschuldigen Luftballons: Ein stiller Vorwurf an den Westen, dass dieser Krieg nicht so weit weg ist und sich dessen Opfer im Stich gelassen fühlen. Mit ihrem Buch erinnert Larissa Bender auch daran, wie hilflos die internationale Diplomatie bei der Lösung des Konfliktes noch immer ist.

Ralf Leonhard

 

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