Delhi. Im Rausch des Geldes

Von dunklen Kräften erfasst, unberechenbar, zynisch und gierig: Rana Dasguptas Schilderungen von Neu-Delhi klingen eher nach Frank Millers düsterem Comic „Sin City“ als nach dem früheren spirituellen Zentrum Indiens. Was hat die Stadt so verändert? Das will Rana Dasgupta, Sohn eines Inders und einer Britin, herausfinden. Im Jahr 2000 zieht er von England in den „Hexenkessel von Potenzial und Verheißung“.

Auf knapp 500 Seiten entwirft der Autor ein vielseitiges Porträt der Stadt. Er spricht mit Drogendealern, Beamten und Ausgebeuteten über Gewalt, Geld und Spiritualität. Im Mittelpunkt des Buches stehen Gespräche mit Menschen aus der Mittelschicht, die Dasgupta als „Bourgeoisie“ bezeichnet – das treffe ihre Situation besser. Denn sie seien nur ein elitärer Teil der Gesellschaft, der sich von der eigentlichen, deutlich ärmeren Mitte abgegrenzt habe. „Delhis Fantasien sind feudal“, stellt Dasgupta schon in der Einleitung klar.
Belegt wird das mit Geschichten etwa von Mickey, der für die milliardenschwere Familienfirma Ländereien in Afrika kaufen und von indischen Bauern bewirtschaften lassen will. Oder der des Bauunternehmers Rahul, der erklärt, in seinem Alltag kommandiere er Leute herum und sorge dafür, „dass die Dienstboten nicht größenwahnsinnig werden“.

Dasgupta vermittelt die Ergebnisse seiner gründlichen Recherche in blumiger und etwas gewöhnungsbedürftiger Sprache. „Delhis Abstammungslinie wurde durchtrennt, es gebiert Waisenkinder aus seinem hartgebackenen Boden“, schreibt er etwa. Auf der Suche nach Antworten gräbt der Autor auch in der Geschichte Indiens. Das ist aufschlussreich, obwohl manches Detail verzichtbar wäre für die Hauptthese des Buches: Delhi ist ein „Symptom des Kapitalismus im 21. Jahrhundert“.

Eine Ursache dafür sieht Dasgupta in der Teilung des früheren Britisch-Indiens 1947. Mit der Unabhängigkeit strömten mehr als 500.000 Sikhs und Hindus aus dem pakistanischen Punjab in die Metropole, die ihr Leben neu aufbauen mussten. Das habe die Bevölkerung traumatisiert und zu dem fatalen Schluss verleitet: „Von jetzt an werden wir uns nur noch um greifbare Dinge kümmern und so viel davon an uns raffen, wie es nur geht.“ Die wirtschaftliche Öffnung des Landes unter Finanzminister Manmohan Singh 1991 habe diese Mentalität verstärkt.

Heute zeige sich der Kapitalismus in Indien in seiner reinsten Form. Vor allem aber sei sein Buch ein „Bericht aus der globalen Zukunft“, in der es keinen Platz für Utopien gibt, betont Dasgupta. Denn die Mittelschicht stellt nur den geringsten Teil der indischen Bevölkerung, während Armut und Ungleichheit wachsen. Das beobachtet Dasgupta auch in den wohlhabenden  Ländern, in denen sich soziale Ziele zunehmend im kapitalistischen Gefüge auflösten. Einen Ausweg kann er nicht erkennen, lediglich wachsende Geldgier und entwurzelte Menschen. Die Leserin bleibt zurück mit dem Gefühl, in einer verkorksten Welt zu leben – und ein etwas überladenes, aber sprachlich beeindruckendes und kluges Buch gelesen zu haben.

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