Doppelte Standards bei der Selbstbestimmung

Judit Tavakoli, Manfred O. Hinz, Werner Ruf und Leonie Gaiser (Hrsg.): Westsahara. Afrikas letzte Kolonie. regiospectra, Berlin 2021, 374 Seiten, 27,90 Euro

Das umfassende Überblickswerk beleuchtet sowohl die politischen als auch die rechtlichen und wirtschaftlichen Dimensionen des Westsahara-Konflikts. Besonderes Augenmerk legen die Autorinnen und Autoren auf die Lage der Menschenrechte.

Seit fast 50 Jahren wird Westsahara im Schatten der Weltöffentlichkeit von Marokko besetzt. Mit einer Länge von knapp 3000 Kilometern zieht sich die längste Militärmauer der Welt durch das zwischen Marokko, Mauretanien und Algerien gelegene Gebiet. Rund 200.000 Sahrauis leben im algerischen Exil, in den besetzten Gebieten sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Das unter anderem von der Frankfurter Ethnologin Judit Tavakoli herausgegebene Buch liefert fundierte Analysen zu den politischen, rechtlichen und historischen Hintergründen des Konflikts, dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und gibt Einblicke in den Alltag der Sahrauis. 

Das Sachbuch stellt sich auf die Seite des sahrauischen Volkes

Entstanden ist das Werk auf Grundlage eines internationalen Symposiums zum Thema Westsahara im Frühling 2021, was auch die eine oder andere inhaltliche Doppelung in den Beiträgen erklärt. Eine Stärke ist die Vielzahl an Autorinnen und Autoren: von renommierten Wissenschaftlerinnen über Europa-Abgeordnete bis hin zu sahrauischen Aktivisten. Die marokkanische Perspektive sucht man bei der Lektüre vergebens; das Sachbuch stellt sich eindeutig auf die Seite des sahrauischen Volkes, was schon im Vorwort deutlich wird. 

Jüngste Entwicklungen wie der außenpolitische Kurswechsel Spaniens – der ehemaligen Kolonialmacht Westsaharas – zugunsten Marokkos sind in dem Buch noch nicht enthalten, doch ist es auf dem deutschsprachigen Markt das bislang umfassendste Überblickswerk zum Thema. Der allergrößte Teil der Beiträge ist gut lesbar und allgemein verständlich formuliert, so dass das Buch auch jenen zu empfehlen ist, die sich bisher kaum mit der Thematik befasst haben. Es wird deutlich, wie wichtig die Lösung der Westsahara-Frage nicht nur für das sahrauische Volk ist, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der EU und der UNO, die stets das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochhalten und rhetorisch auf die Einhaltung der Menschenrechte pochen, in der Praxis aber mit doppelten Standards messen.

Immer noch kein Referendum über die Unabhängigkeit

So haben die USA anerkannt, dass Westsahara Teil Marokkos sei – im Gegenzug dafür, dass Marokko diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen hat. Auch die EU schließt Verträge mit Marokko ab, die das Gebiet Westsaharas umfassen. Das alles, obwohl das Referendum über die Unabhängigkeit, das den Sah­rauis von den Vereinten Nationen vor Jahrzehnten versprochen wurde, noch immer nicht stattgefunden hat.  

In einzelnen Beiträgen nennen die Autorinnen und Autoren Gründe dafür, warum das so ist: von wirtschaftlichen Interessen und Aktivitäten – auch deutscher Firmen – in den besetzten Gebieten über Marokkos Rolle als Türsteher Europas bei der Abwehr von Migranten bis hin zu lukrativen Rüstungsgeschäften. Marokko bezieht rund neunzig Prozent seiner Waffen aus den USA und wird zudem von Frankreich unterstützt, während Algerien, das traditionell aufseiten der Befreiungsfront Polisario steht, also der Vertretung der Sahrauis, zu den besten Kunden deutscher Rüstungsgüter zählt. Die offensichtliche Missachtung geltenden Rechts aufgrund „realpolitischer“ Erwägungen ist eine gefährliche Entwicklung, so das Fazit, denn zur Disposition steht nicht nur ein Stück Wüstengebiet mitsamt seiner natürlichen Ressourcen, sondern das Völkerrecht als solches. Aus diesem Grund ist das Buch eine gewinnbringende Lektüre für alle, die sich für internationale Gerechtigkeit, die Überwindung kolonialer Strukturen und die Geltung der Menschenrechte einsetzen.

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