Der Aktivist und Fotojournalist Chris Grodotzki bilanziert in seinem Buch "Kein Land in Sicht" Höhen und Tiefen ziviler Seenotrettung und ruft die Politik auf, den mörderischen Zustand an Europas Außengrenzen zu beenden.
Mindestens 25.500 Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer von der afrikanischen Nordküste aus nach Europa zu überqueren – mindestens so viele, wie eine mittelgroße deutsche Kreisstadt Einwohner hat. Diese von der UN-Organisation für Migration (IOM) errechnete Zahl schwingt in Grodotzkis Bilanz über Geschichte und Erfahrungen von zehn Jahren ziviler Seenotrettung im Mittelmeer als eine Art Grundton auf jeder Seite mit.
Der Autor hat als Aktivist der ersten Stunde die abenteuerliche Vorbereitung und die ersten Einsätze der MS Sea-Watch vor Lampedusa von Juni 2015 an begleitet und engagiert sich bis heute für Sea-Watch. Er bettet seine Chronologie dieser „Flotte ohne Grenzen“ in einen weiten historischen, politischen, gesellschaftlichen, menschen- und seerechtlichen Rahmen ein. Erinnert wird an die Flucht Hunderttausender vor dem NS-Regime – oft per Schiff – und an die Solidaritätsnetzwerke, die den Verfolgten damals das Entkommen und Überleben ermöglichten. Ausführlich geht Grodotzki auf die Geschichte der vietnamesischen Boatpeople und die historischen Einsätze der beiden Schiffe Île de Lumière und Cap Anamur im südchinesischen Meer ein. Und er widmet sich der Rolle bundesdeutscher Fluchthelfer beim Entkommen von Menschen aus der DDR (1961–1989).
Eine Frage des politischen Zeitgeists
Der Autor macht deutlich, dass es immer eine Frage des politischen Zeitgeists ist, wie Staaten und Gesellschaften schutzsuchenden Menschen begegnen. So waren die Jahre 2013–2015 eine Hochphase praktischer Solidarität, auch im Hinblick auf die zivile Seenotrettung auf der zentralen Mittelmeerroute und die dafür nötige Kooperation mit den italienischen Behörden. Ausdrücklich würdigt der Autor den „Mare Nostrum“-Auftrag der italienischen Marine und Küstenwache (2013–2014) als „wahrscheinlich größte und effektivste Seenotoperation der Geschichte“, durch die in zehn Monaten mehr als 70.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet wurden.
Der Schwerpunkt des Buches liegt indes auf dem späteren politischen Rechtsruck in Italien und den meisten anderen europäischen Ländern, auf der Politik radikaler Abschottung sowie der Kriminalisierung von Solidarität mit Geflüchteten. So beschreibt Grodotzki groteske Prozesse in Italien gegen Rettungsschiffbesatzungen, bürokratische Schikanen gegen ein Auslaufen der Schiffe, die Hilflosigkeit ziviler Retter und dass italienische und maltesische Behörden Notrufe von Menschen in Seenot ignorierten. Ausführlich geht er auf die Kooperation der EU mit der libyschen Küstenwache ein, auf die Rolle von Frontex bei Pushbacks in das Bürgerkriegsland und auf die Misshandlungen und Verbrechen an Geflüchteten in den mit europäischen Geldern finanzierten Lagern in Libyen. Dafür lässt er Augenzeugen, Überlebende, aber auch Offizielle aus Botschaften und UN-Organisationen zu Wort kommen.
Der ironisch-flapsige, mitunter sarkastische Schreib- und Erzählstil des Autors ändert nichts daran, dass hier ein kenntnisreiches und solide recherchiertes Sachbuch vorliegt. Grodotzkis offene und selbstkritische Rückschau auf die Entwicklungen und Häutungen ziviler Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer von aktivistischen Initiativen zu professionellen humanitären Nichtregierungsorganisationen – mit all den damit verbundenen Vor- und Nachteilen – verleiht dem Kernanliegen dieses Buches Gewicht und Glaubwürdigkeit: trotz allen Gegenwinds mehr zivilgesellschaftliches Engagement und breitere Bündnisse gegen den mörderischen Ausnahmezustand an Europas Außengrenzen einzufordern und zu stärken.
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