Die Scharia ist von Menschen gemacht

Islamisten wollen das göttliche Recht der Scharia über das weltliche stellen, und ihre Gegner fürchten genau das. Beide übersehen, dass es kein fest gefügtes und unveränderliches islamisches Recht gibt, sondern Menschen seine Grundsätze immer neu ausdeuten. Es steht genau besehen nicht im Widerspruch zum weltlichen Recht.

Über die Scharia sind viele falsche Vorstellungen in Umlauf. Schon der Begriff „islamisches Recht“ ist problematisch. Denn er hat keine Entsprechung in der Hauptsprache des Islam, dem Arabischen, und orientiert sich an der westlichen Tradition, wonach das Recht die Gesamtheit schriftlich fixierter Gesetze ist. Das islamische Recht ist jedoch lediglich eine Sammlung von Präzedenzfällen, Rechtsentscheidungen und allgemeinen Prinzipien.

Seine erste Quelle ist der Koran. Der enthält zwar zahlreiche Hinweise auf die Prinzipien des rechten Handelns und einer gerechten Ordnung, er bietet aber kein umfassendes Konzept zum  Verhältnis von Individuum, Staat und Gesellschaft. Er schreibt den Muslimen auch keine bestimmte Staatsform vor. Ohne Zweifel enthält die Scharia einen Kern von Aussagen aus dem Koran. Großenteils ist sie jedoch das Ergebnis der von den Rechtsgelehrten betriebenen Rechtsfindung, der „fiqh“, die auch auf anderen Quellen beruht. Die zweite Quelle nach dem Koran ist die Summe der vom Propheten Mohammed überlieferten Anweisungen, Empfehlungen und nachahmenswerten Handlungen, die Sunna. Unter den Rechtsgelehrten haben sich vier große sunnitische Rechtsschulen herausgebildet, die malikitische, die hanafitische, die schafiitische und die hanbalitische. Das Recht der Schiiten, der zweiten großen Glaubensrichtung im Islam, bildet eine parallele Rechtstradition.

Autor

Assem Hefny

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg. Er hat in Kairo Germanistik, Islam­wissenschaft und Arabistik studiert. Seit 2009 ist er Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht e.V. (GAIR).

Von Bedeutung ist bei der islamischen Rechtsfindung darüber hinaus das Gewohnheitsrecht der jeweiligen Region. Es kann besonders im Personenrecht, aber auch im Strafrecht zu verschiedenen  Rechtsnormen führen. Oft ist im Ehe- Scheidungs- und Kinderrecht sowie in Bezug auf Vergeltung im Strafrecht das Gewohnheitsrecht maßgebend, weil die Scharia meistens dazu schweigt. Die Rechtsschulen unterscheiden sich unter anderem darin voneinander, dass sie von unterschiedlichen Rechtsnormen ausgehen. Weil das islamische Recht keinen Kodex besitzt, also keinen Bestand an fixierten und allgemein verbindlichen Gesetzen, ist die Aufforderung, die Scharia anzuwenden, im Grunde unrealistisch. Allerdings muss man hier zwischen verschiedenen Rechtsbereichen wie dem Zivilrecht, dem Strafrecht und dem Staatsrecht unterscheiden. Für den Bereich des Staatsrechts kann man kaum von islamischen Normen sprechen. Der arabische Begriff „daula“ (Staat) ist als Bezeichnung einer politischen Ordnungsform neu; ursprünglich stand er für eine Dynastie und dafür, dass eine Dynastie der anderen die Macht wegnimmt und ihr nachfolgt. Auch ein Wort für „Verfassung“ gab es im Arabischen lange nicht. Dies hängt damit zusammen, dass es keine islamische politische Theorie gibt, sondern nur eine Zusammenstellung von Äußerungen zu politischen Themen.

Für das Strafrecht lassen sich dagegen theoretisch islamische Rechtsnormen finden. Die sogenannten Körperstrafen (hudud), etwa Amputation bei Diebstahl, sind sowohl im Koran als auch in der Sunna erwähnt. Allerdings hat auch hier großen Einfluss, wie Menschen das auslegen. Zum Beispiel haben viele Rechtsgelehrte, ausgehend von ihrem Verständnis der Intention des Koran und der Sunna, die Anwendung einer Körperstrafe von kaum erfüllbaren Bedingungen abhängig gemacht. Demzufolge werden die Körperstrafen von vielen muslimischen Juristen nur als Abschreckung verstanden. Rechtsgelehrte haben auch das Prinzip des Gemeinwohls entwickelt, um die Scharia an wechselnde Zeitumstände anzupassen. Danach darf die Durchsetzung einer religiös-rechtlichen Bestimmung nicht mehr Schaden verursachen, als sie beheben soll. Dieses Prinzip kann zur Aussetzung autoritärer Ge- oder Verbote führen.

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Im Unterschied dazu ist der Geltungsanspruch des islamischen Rechts bei Fragen des Personenstandes – also von Verwandtschaft, Erbfolge und ähnlichem – am stärksten. Besonders im Koran ist das Erbrecht detailliert erklärt und lässt sich relativ gut anwenden. Das gleiche gilt für das Familienrecht, dem die Rechtsgelehrten besondere Berücksichtigung geschenkt haben. Ausgehend davon wird in vielen islamischen Ländern, zum Beispiel in Ägypten, innerhalb eines säkularen Zivilrechts (zu dem auch zum Beispiel das Eigentumsrecht gehört) bei Fragen des Personenrechts häufig das islamische Recht angewendet.

Dass die Scharia keinen Kodex hat und viele Bereiche des Lebens nicht abdeckt, hat dazu geführt, dass in den meisten islamischen Ländern eine Mischung von Rechtsnormen gilt. Dort finden sich – außer im Iran, in Saudi-Arabien und im Sudan  – säkulare neben islamischen Rechtsnormen.
Unter Muslimen ist die Ansicht verbreitet, dass die Scharia alle Bereiche des Lebens umfasst und alles göttliche Recht unveränderlich ist. Die Geschichte beweist jedoch, dass viele für schariatisch gehaltene Bestimmungen unter dem Einfluss der Umstände ausgesetzt oder verändert wurden. Daher unterscheiden Rechtsgelehrten, insbesondere wenn sie die praktische Seite der islamischen Geschichte berücksichtigen, zwischen dem Festen und dem Änderbaren in der Scharia.

Das Unwandelbare umfasst die moralischen und religiösen Werte, während sich das Wandelbare auf weltliche und wissenschaftliche Angelegenheiten bezieht. Zum ewig Konstanten gehören die Glaubensinhalte; die fünf Grundlagen des Islam (Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Almosensteuer, Fasten und Pilgerfahrt); die eindeutigen Verbote wie das des Zaubers, der Menschentötung, der Unzucht, des Wuchers und der Verleumdung; sowie Grundwerte wie Ehrlichkeit, Treue und Anständigkeit. Dagegen bezieht sich das Wandelbare auf das Politisch-Weltliche. Es ist der Rechtsfindung – dem „fiqh“ –, also dem Menschen überlassen. Selbst wenn er auf Koran und Sunna Bezug nimmt, gilt das Verfahren als menschlich.

Weil immer der Mensch die Gebote Gottes auslegt und in die Praxis umsetzt, besteht bei näherem Hinsehen kein Widerspruch zwischen dem islamischen Recht (der Scharia) und dem weltlichen Recht. Denn jedes Recht ist vom Menschen geschaffen. Man könnte aufgrund der Unterscheidung zwischen Wandelbarem und Unwandelbarem in der Scharia noch weiter gehen und sogar behaupten, dass die Scharia säkularen Charakter aufweist, denn es handelt sich dabei um von Menschen geschaffene „fiqh“. Diese umfasst verschiedene Rechtsschulen unterschiedlicher Ansichten. In ihnen lässt sich für fast alle Bestimmungen des säkularen Rechts ein Beleg finden. Man kann sogar gegensätzliche Ansichten belegen.

Dass die meist für göttlich gehaltenen Bestimmungen der Scharia eher eine menschliche Leistung sind, bestätigt ein gar nicht so alter Versuch, die Scharia zu kodifizieren. Der damalige ägyptische Präsident Anwar al-Sadat wollte die Islamisten für seinen Kampf gegen die kommunistisch orientierten Nasiriten einspannen. Als Gegenleistung ließ er im Jahr 1978 Ausschüsse zur Kodifizierung der Schariabestimmungen bilden. Diese haben die „fiqh“-Bestimmungen in Gesetze gefasst. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen weist das Ergebnis aber keine Unterschiede zum geltenden ägyptischen Recht auf. Das veranlasste den islamistisch orientierten Scheich Muhammad Mutawallī al-Sharawi (1911-1998) ein paar Jahre später zu dem Geständnis, die Scharia finde in Ägypten, von den Körperstrafen abgesehen, de facto Anwendung.

Daraus lässt sich folgern: Das Ziel einer Anwendung der Scharia, nämlich eine erhabene, unfehlbare, göttliche Herrschaft zu erreichen, ist unrealistisch. De facto steht man gar nicht vor der Wahl zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Herrschaft. Der göttliche Text legt sich selbst genauso wenig aus, wie er sich selbst anwendet. Das tun stets Menschen – beeinflusst von ihren Neigungen, ihren Interessen und ihrer Voreingenommenheit. Das ist der Grund für die große Diskrepanz zwischen mehreren Systemen, die die Scharia anwenden und alle darauf bestehen, dies auf die beste Art und Weise zu tun.

Das Problem, wie die Scharia verstanden und angewendet werden kann, wird wahrscheinlich die arabisch-islamische Welt in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen – auch weil zurzeit in den Ländern des so genannten arabischen Frühlings islamistische Parteien an der Macht sind. Vielen Islamisten scheint nach der Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten sowie der islamistischen Nahda-Bewegung in Tunesien die Zeit gekommen, die Scharia anzuwenden und das Kalifat – die islamische Herrschaft über die ganze Welt, angefangen mit den islamischen Ländern – wieder zu errichten. Allerdings sind bisher keine tatsächlichen Schritte oder konkreten Pläne dafür zu verzeichnen und auch keine genaue Definition von Scharia und der Möglichkeiten, ihre noch nicht kodifizierten Bestimmungen umzusetzen. Dies rückt das Projekt eher in den Bereich der Slogans und Mottos.

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Dass der Autor ein Genie ist, zeigt z. B. seine Worte:

"Das islamische Recht ist jedoch lediglich eine Sammlung von Präzedenzfällen, Rechtsentscheidungen und allgemeinen Prinzipien". Er benutzt den Begriff "islamisches Recht", den er ein paar Sätze zuvor verteufelt und den er im merkwürdigen Namen der Gesellschaft für das sogenannte "Arabische und Islamische Recht" führt.

Woher diese Präzedenzfälle und Neuentscheidungen gekommen sind, ob sie vom Himmel gefallen sind - weiß der Autor noch nicht genau.

Die Vokabeln "Säkular", "Aussetzung", "Kalifat" - alles Vokabeln, die Alpträume im Westen wecken, benutzt der Autor gerne und wiederholt sie genüsslich im Aufsatz. Auch scheut er nicht davor, statt von "Allah" von dem beliebigen Begriff "Gott" als Gattungsname zu sprechen.

Wenn die Scharia von Menschen gemacht worden wäre und es keinen Widerspruch und es keinen Unterschied zwischen weltlichem Recht und der Scharia gäbe, warum sollen wir angst- und sorgenvoll die nächsten Jahrzehnte abwarten, was in Ägypten und in Tunesien etc. passieren wird? Der Autor führt seine Irreführungstaktiken weiter und zeigt uns trotzdem auf, dass diese Scharia (die ja wie ein jedes weltliches Recht sei) auf dem Koran und der sogenannten Sunna beruht. Was versteht er eigentlich unter "Koran" - ein weltliches Buch? Damit die ganzen Worte unwidersprüchlich und unzersplittert bleiben?

Ich würde einen solchen Quark nicht einmal im Leserbrief-Abteil einer Regionalzeitung drucken lassen.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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