Zuckerkrank im Slum

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Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt und Krebs breiten sich auch in ärmeren Ländern aus. Wo der Wohlstand wächst, essen die Leute ungesünder und bewegen sich weniger. Viele Regierungen setzen auf Vorbeugung. Doch vor allem müsste die Lebensmittelindustrie stärker an die Kandare genommen werden.

Es ist ein trauriger Rekord. In Indien leben mit derzeit etwa 50 Millionen die meisten Diabetes-Kranken weltweit. Tendenz steigend: Bis 2030, so befürchtet die Weltgesundheitsorganisation WHO, werden voraussichtlich knapp 80 Millionen Inder unter der Stoffwechselkrankheit leiden. Das lässt sich leicht erklären, denn der wirtschaftliche Aufschwung hat dafür gesorgt, dass sich immer mehr indische Frauen und Männer einen westlich geprägten – ungesunden – Lebensstil angewöhnt haben. Sie sitzen lange im Büro, haben keine Zeit, Sport zu treiben oder ein gesundes Essen zu kochen. Pizza und Burger stehen hoch im Kurs, Coca-Cola-Trinken gilt als cool.

Das sind die besten Voraussetzungen dafür, dass der Blutzuckerstoffwechsel entgleist. Der Körper ist nicht mehr in der Lage, das Hormon Insulin in ausreichender Menge zu bilden oder richtig zu verwerten. Wer an diesem sogenannten Diabetes-Typ 2 leidet und nicht behandelt wird, kann einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erleiden, blind werden oder aufgrund von mangelhafter Durchblutung Gliedmaßen verlieren.

Doch längst ist Diabetes keine Wohlstandskrankheit mehr. Laut dem indischen Gesundheitsministerium hat er auch in den Slums von Millionenstädten wie Chennai, Bangalore, Ahmedabad und Neu-Delhi Einzug gehalten. Auch in den städtischen Armenvierteln bewegen sich die Menschen zu wenig. Sie essen zwar nicht zu viel, aber ungesund – etwa Frittiertes ohne Vitamine, dafür mit viel Fett. Allerdings haben sie weit weniger Chancen als die Diabetiker aus der Mittel- und Oberschicht, dass ihre Krankheit erkannt und behandelt wird. Die Symptome wie Müdigkeit, Schwäche, Sehstörungen und die Neigung zu Infekten sind sehr unspezifisch, und der Gang zum Arzt ist teuer.

Autorin

Gesine Kauffmann

ist Redakteurin bei "welt-sichten".

Die Zunahme von Diabetes in Indien steht stellvertretend für die Bedrohung, die laut der Weltgesundheitsorganisation WHO und zahlreichen Experten die vier nicht übertragbaren Krankheiten (noncommunicable diseases – NCD) für die Gesundheit in Entwicklungs- und Schwellenländern darstellen. Die anderen drei sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Schlaganfall, Herzinfarkt), Krebs und chronische Atemwegserkrankungen (Bronchitis, Asthma). Zusammengenommen waren sie im Jahr 2010 die Ursache für zwei Drittel der weltweiten Todesfälle – das waren 34,5 Millionen. 80 Prozent davon ereigneten sich in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommen, und jeder dritte traf eine Frau oder einen Mann unter 60 Jahren.

Damit haben diese Krankheiten laut WHO Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV/ Aids als Haupttodesursachen abgelöst. Die Studie über globale Krankheitslasten (Global Burden of Disease Study), die im vergangenen Dezember vom US-amerikanischen Institut für Gesundheitsmessung und Evaluierung veröffentlicht wurde, bestätigt diesen Trend. Die Daten zeigen aber zugleich, dass er nicht für alle Länder gleichermaßen gilt. Insbesondere in Subsahara-Afrika bedrohen wie bisher vor allem Aids, Malaria, Lungenentzündung, Durchfall und Unterernährung das Leben der Menschen. Laut WHO könnte sich auch dieses Bild allerdings bis 2030 grundlegend ändern.

Die Zunahme chronischer Krankheiten belastet die Wirtschaft armer Länder erheblich – und damit stehen dann auch weniger Mittel für die Bekämpfung von Armut zur Verfügung. Menschen, die frühzeitig an Krebs oder Herzinfarkt sterben, fallen für den Arbeitsmarkt aus. Doch besonders hoch ist der Druck auf das Gesundheitssystem. „Patienten mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen als Folge davon müssen über einen langen Zeitraum behandelt und zuverlässig mit Medikamenten versorgt werden“, sagt die Direktorin des Deutschen Institutes für Ärztliche Mission (DIFÄM), Gisela Schneider.

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Wer zuckerkrank ist oder zu hohen Blutdruck hat, muss regelmäßig Medikamente nehmen und seine Werte kontrollieren lassen. In ärmeren Ländern sind die Wege zur nächsten ...

Das ist bei den verschiedenen Krankheiten unterschiedlich schwierig. Zu hoher Blutdruck erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Nierenversagen. Er setzt sich aus zwei Werten zusammen, dem systolischen und dem diastolischen Druck. Ab einem Verhältnis von 140 zu 90 gilt er als erhöht. Der Blutdruck sei einfach zu kontrollieren und, falls nötig, mit Hilfe eines Medikaments zu senken, erläutert Schneider. Insulin hingegen müsse gekühlt und manchen Diabetes-Kranken täglich gespritzt werden – das ist in abgelegenen Gegenden ohne Strom kaum zu bewerkstelligen. Die Diagnostik und Behandlung von Krebs schließlich stecke in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern noch in den Kinderschuhen.

Chronische Krankheiten offenbaren eine weitere Schwäche in den Gesundheitssystemen armer Länder: Die wenigsten Menschen dort sind krankenversichert. In Nigeria etwa haben nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung eine Versicherung. Und in den Krankenhäusern von Lagos kostet ein Blutdruck-Check umgerechnet rund fünf Euro. Das finden viele zu teuer, vor allem, wenn sie nicht wissen, dass zu hohe Werte ihrer Gesundheit schaden können. Nigerias Regierung will nun per Gesetz einen kostenlosen Zugang zu Basisgesundheitsdiensten schaffen, darunter zur Diagnose und Behandlung von hohem Blutdruck.

Gisela Schneider vom DIFÄM hält die Einführung staatlicher Versicherungen für immer drängender. Gemeinsam mit Partnern hat ihr Institut im Tschad und in der Demokratischen Republik Kongo eine Reihe von lokalen Versicherungen aufgebaut. „Bei den Menschen wächst das Bewusstsein, dass das nötig ist. Sie sind bereit, Geld für ihre Gesundheit auszugeben“, sagt sie. Die Regierungen müssten jedoch dafür sorgen, dass die Systeme aufrechterhalten und die Beiträge und Leistungen miteinander in Einklang gebracht werden.

Angesichts der vielen Mängel bei der Gesundheitsversorgung spielt die Vorbeugung eine wichtige Rolle – gezielte Programme und Kampagnen, die es erst gar nicht zu einem Herzinfarkt oder einer chronischen Atemwegserkrankung kommen lassen. Gemeinsam sind den vier nicht übertragbaren Krankheiten nämlich Risikofaktoren, die im Verhalten zu suchen sind: Rauchen, fettes, zu süßes oder zu salziges Essen, ein hoher Alkoholkonsum und zu wenig Bewegung. Mit Hilfe von Aufklärung könnten zumindest das Problembewusstsein gefördert und der Lebensstil ein wenig verändert werden, meint Schneider. Das sei auch eine Aufgabe für die gemeindebezogene Gesundheitsarbeit der Kirchen.

Insgesamt sei das DIFÄM dabei, sich mit seinen Partnern vor Ort auf die veränderte Lage einzustellen – ohne jedoch die Infektionskrankheiten außen vor zu lassen. Nötig sei unter anderem, Krankheiten besser zu dokumentieren, so dass auch andere Ärzte auf die Daten zurückgreifen können. Aber auch andere, nichtmedizinische Lösungen bieten sich an: „Es gibt viele Kleinigkeiten, auf die wir achten können“, sagt Schneider. So sollten Küchen mit Rauchabzug versehen werden. Denn viele Frauen litten unter Atemwegserkrankungen, weil sie beim Kochen im Rauch stehen müssen.

Die Ärmsten der Armen kämpfen stärker mit Malaria, Durchfall oder Aids

Winfried Zacher von Germanwatch sieht im Kampf gegen nicht übertragbare Krankheiten vor allem die Regierungen im globalen Süden in der Pflicht. In der Entwicklungszusammenarbeit spielten diese Krankheiten zu Recht noch keine große Rolle. Denn die Zielgruppe der Hilfe, die Ärmsten der Armen, habe noch immer weitaus stärker mit Malaria, Durchfall oder Aids zu kämpfen. Die Zunahme der chronischen Krankheiten sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Menschen insgesamt länger leben. „Das ist eine erfreuliche Entwicklung“, erklärt der Tropenmediziner. Weltweit sei die Sterblichkeit zwischen 1990 und 2010 deutlich gesunken – auch dank des medizinischen Fortschritts.

Schwellenländer wie Brasilien nehmen die Herausforderung an. Sie versprechen sich vor allem große Wirkung von Präventionskampagnen etwa im Kampf gegen das Übergewicht (siehe Beitrag Seite 28) und gegen den Tabakkonsum. Das südamerikanische Land folgt damit der Linie der WHO, die sich den Kampf gegen die nicht übertragbaren Krankheiten ganz oben auf ihre Fahnen geschrieben hat. 2012 haben sich ihre 194 Mitglieder darauf verpflichtet, den Anteil derjenigen, die vorzeitig an chronischen Krankheiten sterben, bis 2025 um ein Viertel zu reduzieren. Dazu wollte die Weltgesundheitsversammlung Ende Mai einen neuen globalen Aktionsplan verabschieden, der bis 2020 gelten soll. Im Entwurf werden die Mitgliedsländer aufgefordert, ihre Gesundheitssysteme zu stärken, bezahlbare Medikamente bereitzustellen und in ihrer Bevölkerung den Konsum von Alkohol, Salz und Tabak deutlich zu reduzieren und sportliche Betätigung zu fördern.

Eine große Rolle im Aktionsplan spielt der Tabakkonsum. Laut WHO rauchen weltweit ein Drittel der über 15-Jährigen, darunter weit mehr Männer als Frauen. An den Folgen wie Lungenkrebs, Herzinfarkt oder Schlaganfall sterben pro Jahr sechs Millionen Menschen. Eine Grundlage für die Tabakkontrolle bietet ein Rahmenübereinkommen der WHO von 2005. Es verpflichtet die Mitglieder unter anderem dazu, Tabaksteuern zu erheben, um die Nachfrage zu senken, die Werbung für Tabak zu verbieten und die Menschen an Arbeitsplätzen sowie in öffentlichen Gebäuden vor Tabakrauch zu schützen. In den vergangenen Jahren haben unter anderen die USA und europäische Länder strenge Gesetze zum Schutz von Nichtrauchern erlassen. In Deutschland ist das Rauchen in Einrichtungen des Bundes und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie in den meisten Restaurants seit September 2007 untersagt.

Und die lateinamerikanischen Länder ziehen nach: Im März hat Chile als vierzehntes Land auf dem Kontinent das Rauchen in öffentlichen Gebäuden verboten. Ein großer Schritt, denn mehr als 40 Prozent der Chilenen greifen regelmäßig zur Zigarette. Das Land steht damit in Lateinamerika an der Spitze der Tabakkonsumenten. Ein Viertel seines jährlichen Gesundheitsbudgets gibt es für die Behandlung der Folgeerkrankungen aus. Dass Rauchverbote wirken, zeigt wiederum Deutschland: Laut einer Studie des Kieler Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung ging nach dem Inkrafttreten 2007 die Zahl der Klinikaufenthalte wegen eines Herzinfarktes um 8,6 Prozent zurück, bei Angina pectoris, einer Vorstufe des Infarktes, sogar um 13 Prozent.

Die Lebensmittelindustrie fürchtet hohe Verluste 

Gesetzliche Regelungen wünscht sich Martin Leschhorn Strebel vom Gesundheitsnetzwerk „Medicus Mundi Schweiz“ auch für einen anderen Bereich: die Ernährung. Den Appell an die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen hält er für unzureichend. „Der Staat muss der Nahrungsmittelindustrie klare Vorgaben machen“, erklärt er und schlägt beispielsweise gesetzliche Grenzwerte für den Salzgehalt in Fertigprodukten vor. Auch auf einer weiteren Ebene sieht er Handlungsbedarf. So müsse etwa beim Abschluss von Freihandelsverträgen geprüft werden, ob sie gesundheitsschädliche Auswirkungen haben, fordert Leschhorn Strebel und verweist auf Mexiko. Dort sei die Menge an Softdrinks und Fertiggerichten nach Inkrafttreten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) stark gestiegen – und damit auch die Zahl der übergewichtigen und fettleibigen Mexikaner.

Die Nahrungsmittelindustrie allerdings hat wenig Interesse daran, sich staatlichen Regulierungen zu unterwerfen – zu stark ist die Furcht, Gewinne einzubüßen. An ihrer Lobbyarbeit ist etwa die Einführung der sogenannten „Lebensmittelampel“ in Deutschland gescheitert, die Verbraucher auf einen Blick über den Fett-, Eiweiß- und Kohlehydratgehalt von Lebensmitteln informieren sollte. Auch New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg musste kürzlich einen Rückschlag hinnehmen: Ein Gericht gab einer Klage der Getränkeindustrie Recht und verhinderte in letzter Minute das geplante Verbot von Süßgetränken in Bechern, die mehr als einen halben Liter fassen, mit dem Bloomberg der Fettleibigkeit den Kampf angesagt hatte.

Die WHO ruft die Regierungen in ihrem globalen Aktionsplan dazu auf, breite gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden, um die Ausbreitung von nicht übertragbaren Krankheiten zu bremsen – und meint damit auch die Pharma- und die Nahrungsmittelindustrie. Genau davor warnen Forscher um den australischen Gesundheitsexperten Rob Moodie auf das Heftigste. Mit dem Verkauf von Alkohol, Tabak, Süßgetränken und Fertiggerichten in Schwellen- und Entwicklungsländern seien multinationale Konzerne hauptverantwortlich für die Zunahme von „Zivilisationskrankheiten“, schreiben sie in einer Studie, die der britische „Lancet“ im Februar veröffentlicht hat. Die Industrie dürfe deshalb keinen Einfluss auf die Politik zum Umgang mit chronischen Krankheiten nehmen. Weder Selbstverpflichtungen noch öffentlich-private-Partnerschaften hätten die Menschen bislang vor ungesundem Essen schützen können. Gesetzliche Regelungen seien die einzige Möglichkeit, den von der Industrie verursachten Schaden einzudämmen, betonen die Wissenschaftler. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2013: Ungesunder Wohlstand
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