Von Brasilien lernen

Neuer Weltbank-Bericht
Der Kampf gegen die Ungleichheit steht ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Wie kann er gewonnen werden?

Die Weltbank hat geteilten Wohlstand zu einem ihrer Ziele erklärt, die Vereinten Nationen haben die Verringerung von Ungleichheit als Nachhaltigkeitsziel Nummer zehn ausgerufen. Der neue Fokus ist richtig und wichtig. Ungleichheit erscheint an sich falsch – wie lässt sich rechtfertigen, dass die Wahrscheinlichkeit für arme Kinder in Entwicklungsländern, eine Grundschule zu besuchen, vier Mal geringer ist als für die Töchter und Söhne wohlhabenderer Eltern?

Darüber hinaus verursacht Ungleichheit hohe ökonomische Kosten, belastet das Wirtschaftswachstum und schafft politische und soziale Hürden, die zu Unruhen führen können. Sie kann auch die Verringerung von Armut bremsen und das Wohlergehen der ärmsten Menschen in allen Ländern nachteilig beeinflussen. Ist der Kampf gegen Ungleichheit hoffnungslos? Mit Sicherheit nicht.

Ungleichheit ist nicht vorherbestimmt

Ein neuer Bericht der Weltbank will den Beweis dafür antreten. Beispiele aus verschiedenen Ländern und Politikgebieten zeigen, dass hohe Ungleichheit nicht vorherbestimmt ist. Sie zu verringern ist notwendig, um die extreme Armut bis 2030 zu beseitigen.  Die weltweite Ungleichheit – gemessen zwischen allen Menschen auf der Welt, egal in welchem Land sie leben, – ist seit 1988 stark gesunken. Das ist der erste derartige Rückgang seit der industriellen Revolution; in jüngster Zeit erfolgte er besonders zügig: Der Gini-Koeffizient fiel von 66,8 im Jahr 2008 auf 62,7 im Jahr 2013. Er ist das gebräuchlichste Maß für die Verteilung von Einkommens- und Vermögensverteilung. Ein Wert von Null bezeichnet eine gleichmäßige Verteilung, 100 bedeutet maximale Ungleichverteilung.

Dieser Erfolg liegt vor allem daran, dass sich die Ungleichheit zwischen Ländern verringert hat: Ärmere Länder schließen zu den wohlhabenderen auf. Die Ungleichheit zwischen Ländern war seit jeher größer als die innerhalb der Länder. Das Aufholen armer Staaten, darunter Indien und China, wirkt sich deshalb besonders auf die weltweite Ungleichheit aus.

Innerhalb der Länder stellt sich das Bild jedoch anders dar: Ungleichheit hält sich hartnäckig und ist im Durchschnitt heute größer als vor 25 Jahren. Im Blick auf das Ziel, die Armut bis 2030 zu beenden, ist das ein spezielles Problem. Denn selbst wenn die Länder mit derselben Geschwindigkeit wachsen wie in den vergangenen zehn Jahren  – und das dürfte angesichts des rauen ökonomischen Klimas schwierig sein –, wird die weltweite extreme Armut wahrscheinlich nicht unter drei Prozent fallen, wenn nicht die Ungleichheit deutlich vermindert wird. Die Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung müssen schneller und vor allem schneller als der Durchschnitt wachsen. Das gilt besonders für Länder, in denen der Bevölkerungsanteil der extrem Armen besonders groß ist.  

Manche Länder haben sich gut darin geschlagen, Ungleichheit abzubauen und den Wohlstand gerechter zu verteilen. Stellvertretend für andere sollen die Erfahrungen von Brasilien, Mali, Peru und Tansania stehen. Im internationalen Vergleich ist es ihren Regierungen gelungen, die Ungleichheit am besten zu bekämpfen und die extreme Armut zu verringern. Sie sind überdies ausreichend verschieden, um unterschiedliche Entwicklungsstrategien und historische Umstände zum Ausdruck zu bringen.

Die Bedeutung der Arbeitsmärkte

Alle vier Länder haben ihre Volkswirtschaft vernünftig verwaltet, sind mit externen Erschütterungen angemessen umgegangen und haben mehr oder weniger langwierige und kohärente wirtschaftliche und soziale Reformen umgesetzt. Diese haben schnelles, nachhaltiges und umfassendes Wachstum befördert. Deutlich ist in diesen Ländern zudem die Bedeutung der Arbeitsmärkte. Mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Einkommen haben dazu beigetragen, dass wirtschaftliches Wachstum zum Abbau von Ungleichheit geführt hat. Menschen, die zuvor keine Chancen hatten, wurden in den Arbeitsmarkt eingegliedert; die Kluft zwischen Beschäftigten aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Arbeitsbereich wurde verringert.

Zwar haben diese Länder zusätzlich von außergewöhnlich günstigen, externen Bedingungen profitiert, die wenig mit innenpolitischen Entscheidungen zu tun haben: hohe Rohstoffpreise, niedrige Zinssätze und ein florierender internationaler Handel. Andere Länder haben dieselben Vorteile jedoch nicht genutzt.

In Brasilien waren die Einführung eines Mindestlohns sowie soziale Sicherungsnetze entscheidend, um die Ungleichheit zu verkleinern. Doch weitere Faktoren haben dazu beigetragen, dass Brasilien seinen Gini-Index in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten von 61 auf 32 nahezu halbieren konnte. Die Verfassung von 1988 garantiert soziale Grundrechte wie freie öffentliche Bildung, freie allgemeine Gesundheitsfürsorge, Renten und Sozialhilfe. Sie hat die Basis gelegt, historisch gewachsene Ungleichheiten zu beseitigen.

Makroökonomische Rahmenbedingungen, die in den 1990er Jahren geschaffen wurden, haben die Inflation gedrosselt und ein umsichtiges Management der Haushaltsbilanzen sowie ein gutes Umfeld für Politikansätze gefördert, der Ungleichheit zu begegnen. Während der 2000er Jahre führte der Aufschwung der Rohstoffpreise zu einer positiven Handelsbilanz. Makroökonomische Stabilität, verbunden mit diesen günstigen äußeren Faktoren, hat das wirtschaftliche Wachstum angetrieben. Dynamiken am Arbeitsmarkt – einschließlich steigender Löhne für weniger qualifizierte Arbeitskräfte, mehr formale Beschäftigung und ein steigender Mindestlohn – und die Ausweitung der Sozialpolitik haben geholfen, das Einkommen der Armen zu erhöhen. Der Rückgang des Gini-Indexes zwischen 2003 und 2013 ist zu 41 Prozent auf Arbeitseinkommen zurückzuführen und zu 39 Prozent auf andere Einkommensquellen wie Transferleistungen des Staates.

Bolsa Familia hat die Einkommenskluft verkleinert

Laut manchen Schätzungen ist allein Brasiliens Vorzeigeprogramm zum bedingten Bargeldtransfer, Bolsa Família, für zehn bis 15 Prozent der in den 2000er Jahren beobachteten Verkleinerung der Einkommenskluft verantwortlich. Derzeit bedrohen allerdings Veränderungen in der Weltwirtschaft, das Ende des Rohstoffpreisanstiegs und politische Entscheidungen wie die Abschwächung der Haushaltsdisziplin Brasiliens frühere Erfolge.   

Auch in Mali sind die Erfolge der Vergangenheit gefährdet, jedoch nicht durch Entscheidungen der Politik, sondern durch die jüngsten Konflikte in dem afrikanischen Land. Vor dem Ausbruch des Konflikts 2012 hatte Mali wichtige Schritte unternommen, um die Ungleichheit zu reduzieren. Zwischen 2001 und 2010 fiel der Gini-Index um sieben Punkte. Das Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung wuchs, während das Durchschnittseinkommen schrumpfte.

Die Landwirtschaft war der entscheidende Einflussfaktor, um die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. Etwa drei Viertel der Malier und 90 Prozent der Armen leben in ländlichen Gebieten. Sie können vom Ertrag ihrer Felder nicht leben und müssen ihr Einkommen mit Gelegenheitsjobs und privaten Transferleistungen aufbessern. Die höhere Getreideproduktion in den 2000er Jahren wirkte sich günstig auf das Arbeitseinkommen der Armen aus: Sie steigerte sowohl den eigenen Ertrag als auch das Zusatzeinkommen, weil kommerzielle Getreideproduzenten mehr Arbeitskräfte einstellten.   

Während die verarbeitende Industrie in den späten 2000er Jahren stagnierte, florierte die landwirtschaftliche Produktion, begünstigt durch gute Wetterbedingungen. Das verringerte die Ungleichheit. Seit 2012 bremst der Konflikt im Norden Malis den Fortschritt des vorangegangenen Jahrzehnts. Die Krise hat das Bildungs- und Gesundheitssystem im Norden zum Erliegen gebracht. Vertriebene, die vom Norden in den Süden des Landes geflohen sind, belasten die Versorgung durch den Staat zusätzlich. Dieses Wiederaufleben des Konflikts folgt auf zwei Jahrzehnte relativer Stabilität mit Wahlen in einem Mehrparteiensystem. Die Regierungsführung verschlechtert sich und die Armee ist nur eingeschränkt fähig, die wachsende Unsicherheit einzudämmen.

Kluge politische Konzepte

Auch in Peru bleibt es schwierig. Dort ist der Gini-Index zwischen 2004 und 2014 von 51 auf 44 gefallen – eine bemerkenswerte Leistung. Verantwortlich dafür waren das außerordentliche Wirtschaftswachstum von jährlich 6,6 Prozent in diesem Zeitraum in einem Umfeld makroökonomischer Stabilität, günstige äußere Faktoren und wichtige Strukturreformen. Zu Beginn der 2000er Jahre zogen kluge politische Konzepte und hohe Rohstoffpreise ausländische Direktinvestitionen an, insbesondere im Bergbau.

Der wichtigste Weg zur Umwandlung des Wachstums in geringere Ungleichheit verlief über den Arbeitsmarkt. Seine Entwicklung während des vergangenen Jahrzehnts erklärt 80 Prozent der Senkung des Gini-Index’ und drei Viertel der Verringerung an extremer Armut. Entscheidend waren eine sich schließende Lohnschere zwischen formellen und informellen Arbeitern und eine niedrige Arbeitslosigkeit.

Indes bezweifeln Analysten die Qualität öffentlicher Ausgaben, besonders im Bildungsbereich. Obwohl die Zahl der Einschulungen zugenommen hat, hinkt Peru im internationalen Vergleich bei der Qualität der Ausbildung hinterher, wie die Punktzahlen bei Prüfungen belegen. Das ist eine ernst zu nehmende Kritik, denn die günstigen äußeren Bedingungen, die Perus Wachstum gestützt haben, verschlechtern sich in jüngster Zeit wieder.

Tansania hat wie Peru zwischen 2004 und 2014 ein stabiles Wirtschaftswachstum erzielt: im Durchschnitt 6,5 Prozent jährlich. Die nationale Armutsquote ist zwischen 2007 und 2012 von 34,4 Prozent auf 28,2 Prozent gesunken, der Gini-Index im selben Zeitraum von ungefähr 39 auf 36. Das jährliche Wachstum der Konsumausgaben von 3,4 Prozent bei den „unteren 40 Prozent“ war mehr als dreimal so hoch wie das Wachstum bei den „oberen 60 Prozent“ mit einem Prozent.

Die Armen blieben arm

Seit Beginn der 2000er Jahre wurde die wirtschaftliche Expansion des Landes hauptsächlich von schnell wachsenden Bereichen wie den Finanzdienstleistungen, dem Kommunikations- und Bausektor getragen. Das Wachstum hat jedoch nicht die Lebensbedingungen der Armen, der weniger gut Ausgebildeten und der Landbevölkerung verbessert.

Nach 2007 verzeichneten der Einzelhandel und die verarbeitende Industrie einen plötzlichen Aufschwung, besonders bei der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte zu Lebensmitteln, Getränken und Tabakwaren. Auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte konnten eingebunden werden. Der Einsatz der Regierung für Politikansätze, die auf eine ausgewogenere Einkommensverteilung zielten, trug zu weiteren Fortschritten bei.

Ein Schlüsselinstrument ist der „Tanzania Social Action Fund“, der ein Programm für bedingten Bargeldtransfer, öffentliche Beschäftigungsmaßnahmen und eine Spar-Komponente umfasst. Letztere soll die Ärmsten in die Lage versetzen, ihre Ersparnisse sowie ihre Investitionen in Nutztiere zu erhöhen und so widerstandsfähiger gegenüber Krisen zu werden.

Autoren

Mario Negre

ist Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) und arbeitet derzeit auch für die Weltbank.

Jose Cuesta, Maura Leary und Maika Schmidt

sind Mitarbeitende der Weltbank.
Trotz dieses Fortschritts bleibt viel zu tun, um Unterschiede in den Regionen auszugleichen und angesichts eines wachsenden Zuzugs in die Städte den Zugang zu den wesentlichen Sozialleistungen auszuweiten. Tatsächlich gibt es in Tansania noch immer kaum Wettbewerb in der Privatwirtschaft, das ökonomische Umfeld ist stark reguliert und das wirtschaftliche Wachstum bleibt aus.

Die Beispiele der vier Länder zeigen, dass sich zeitweise Erfolge im Kampf gegen die Ungleichheit nicht automatisch auf Dauer garantieren lassen. Der Konflikt in Mali brach nach einer Periode des Abbaus von Ungleichheit vor allem aufgrund von Schwierigkeiten mit der Regierungsführung aus. Politische Entscheidungen über die steuerliche Konsolidierung, die Kontrolle der Inflation und die Investitionen in Brasilien und Peru erklären die Unterschiede in den Wachstumsmustern in diesen beiden Ländern in jüngster Zeit: graduelle Erholung in Peru, Rezession in Brasilien. In Tansania wiederum stellt der unvollendete Übergang zu einer marktbasierten Wirtschaft den dauerhaften Abbau von Ungleichheit infrage.

Aus dem Englischen von Christopher Reil.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2016: Welthandel: Vom Segen zur Gefahr?
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