Hilfe nur im Flüchtlingslager

Jemen
Viele Vertriebene im Jemen suchen in provisorischen Lagern Schutz. Dort geht es ihnen oft schlechter als zu Hause – und sie fühlen sich von internationalen Organisationen im Stich gelassen.

Abdul Wahid Abdu hat sein Haus in Taiz al-Wazeya im Juni 2017 verlassen. Er wollte sich und seine Familie in Sicherheit bringen vor den Kämpfen zwischen der jemenitischen Armee und den Huthi-Rebellen und suchte Schutz im Lager al-Kadaha, 20 Kilometer südlich von Taiz. Dort leben mehr als 300 Familien, insgesamt rund 500 Menschen. „Ich wollte einen sicheren Unterschlupf finden für meine Familie. Die Kämpfe hatten schon unsere Nachbarschaft erreicht und wir hatten Angst, jeden Moment zu sterben“, sagt Abdu. Der 35-Jährige verkaufte seine Schafherde und mietete ein Auto, um nach al-Kadaha zu fahren.

Am ersten Tag war der Familie noch nicht klar, wie schlecht die Lebensbedingungen im Lager sind. Sie war froh, in Sicherheit zu sein. Doch gleich am nächsten Tag begann ihre Not. „Ich war schockiert zu hören, dass es keine überdachten Toiletten und Waschgelegenheiten gibt“, erinnert sich Abdu. Die Familien leben in instabilen Zelten und Hütten aus Holz und Plastikplanen, die keinen Schutz vor dem Regen bieten. „Wenn es regnet, nehmen die Leute ihre Decken und Matratzen und gehen in ein Haus in der Nähe des Lagers“, erzählt Abdu.

Die Lage der Familie verschlechterte sich von Tag zu Tag, vor allem als das Geld ausgegeben war und niemand sie mit Lebensmitteln versorgte. Einen Job konnte Abdu nicht finden, weil viele wie er in der Region auf der Suche nach Arbeit sind. „Ich musste meine Kinder zwingen, betteln zu gehen, sonst wären wir verhungert“, gibt er mit Bedauern in der Stimme zu. Die meisten Kinder in den provisorischen Vertriebenenlagern im Jemen gehen nicht zur Schule. Ihre Eltern sind zu arm, um Schulgeld zu bezahlen, und sie müssen betteln, um ihre Familien über Wasser zu halten.

Zu wenige Lebensmittel in den Lagern

Laut Unicef haben fast eine halbe Million Kinder die Schule abgebrochen, seit der Konflikt im Jemen mit dem Eingreifen einer von Saudi-Arabien geführten Militärallianz 2015 eskaliert ist. Insgesamt nehmen dort rund zwei Millionen schulpflichtige Mädchen und Jungen nicht am Unterricht teil.

Autor

Nasser Al-Sakkaf

schreibt als freier Journalist im Jemen für mehrere internationale Zeitungen, Zeitschriften und Webseiten wie Middle East Eye, IRIN, Al Jazeera English und Newsweek Middle East.
Im Lager al-Kadaha seien zwar nationale und internationale Hilfsorganisationen tätig, bestätigt Abdu. Sie hätten einige Lebensmittel verteilt, doch viel zu wenige. Außerdem habe sich keine Organisation darum gekümmert, das Lager ordentlich aufzubauen und zu managen. Nach mehr als zehn Monaten in al-Kadaha beschloss Abdu deshalb im April, wieder nach Hause zurückzukehren – obwohl die Kämpfe noch anhielten. „Das ist trotzdem besser als das Leben im Lager, wo es nicht einmal die grundlegendsten Dienste für eine menschenwürdige Existenz gibt.“

Er ist froh, dass er seine frühere Arbeit als Schäfer wieder aufnehmen konnte. Weil er seine Herde verkauft hat, hütet er nun die Schafe seiner Nachbarn und bekommt Geld dafür. Seine Kinder gehen wieder in die Schule – aber der Krieg macht die Gegend noch immer gefährlich. „Die Hauptgefahr geht nicht von den Kämpfen aus“, sagt Abdu. „Es sind die Landminen. Sie haben schon viele Schäfer und Schafe in den Bergen getötet.“ Dennoch ist er zufrieden, wieder in seinem Haus zu wohnen statt in einem wackeligen Zelt.

Abdu ist nur einer von Tausenden, die sich trotz der andauernden Kämpfe für eine Rückkehr entschieden haben, weil die Lebensbedingungen in den Lagern so schlecht sind. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt es derzeit im Jemen mehr als zwei Millionen intern Vertriebene, und rund 950.000 Menschen sind in ihre Häuser und Wohnungen zurückgekehrt. Die Jagd nach Lebensmitteln gehört zum Alltag der vertriebenen Familien in den Lagern, weil die Hilfsorganisationen nicht genug Lebensmittel verteilen.

Das WFP unterstützt keine informellen Camps

Aidarous al-Haneq lebt mit seiner fünfköpfigen Familie in zwei kleinen Zelten im Lager al-Safia, 40 Kilometer von Taiz entfernt. Ihr Überleben ist abhängig von den Kindern, die betteln, und von den Gaben wohltätiger Jemeniten. „Hilfsorganisationen stellen uns Trinkwasser, Seife und Decken zur Verfügung. Aber sie helfen uns nicht dabei, ein ordentliches Lager mit Waschgelegenheiten aufzubauen“, beschwert sich al-Haneq. Die Lager sind schmutzig, die Kinder spielen in der Nähe der Toiletten unter freiem Himmel, die Frauen kochen im Freien in der Nähe der Schafpferche. Die Menschen fühlen sich dort nicht wohl, aber viele von ihnen haben keine andere Wahl.

„Ich habe mehr als einmal darüber nachgedacht, in mein Haus in Mawza zurückzugehen“, sagt al-Haneq, dem die Trauer über seine Lage anzumerken ist. „Aber meine Familie wollte nicht, weil wir dort nicht arbeiten können. Vor dem Krieg war ich Bauer, aber nun sind meine Felder zerstört und ich weiß nicht, wie ich Geld verdienen soll.“

Ein Vertreter des Welternährungsprogramms (WFP) sagt im Gespräch mit „welt-sichten“, seine Organisation unterstütze keine Vertriebenen in provisorischen Camps, weil diese nicht professionell gemanagt werden. Dasselbe gilt für andere internationale Hilfsorganisationen, wie einer ihrer Mitarbeiter, der der anonym bleiben will, bestätigt. „Unser System sieht vor, dass wir nur den Menschen in den offiziellen Flüchtlingslagern mit Lebensmitteln und anderen Dienstleistungen helfen. Allerdings gibt es nicht genug solcher Lager in Taiz, um alle Vertriebenen aufzunehmen. Sie müssen dann in provisorischen Camps Schutz suchen. Das ist ja nicht ihre Schuld, sondern ein Versagen der internationalen Organisationen.“

Die Flucht ins Ausland ist kaum möglich

Nur der UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) könnten offizielle Lager errichten, aber ihre Arbeit in Taiz sei sehr begrenzt. „Die Vertriebenen sind zweifache Opfer“, so der humanitäre Helfer. „Der Krieg zwingt sie, ihre Häuser zu verlassen, und dann erhalten sie keine Unterstützung von den internationalen Organisationen.“ Auch wenn es verboten sei, Menschen in den provisorischen Lagern zu helfen, müssten diese Organisationen eine Lösung finden.

Jemeniten, die dem Krieg in ihrer Heimat entkommen wollen, können nicht einfach in ein Nachbarland fliehen. Saudi-Arabien, der Oman oder Dschibuti verlangen Einreisevisa, und das ist für viele zu teuer. Ga’far Mohammed aus Taiz hofft, dass er den Jemen dennoch verlassen kann – aber das ist schwierig, denn es würde ihn 2000 US-Dollar kosten. „Die meisten jungen Leute wollen weg, aber sie haben nicht genug Geld für Ausweise, Visa und Transport“, meint der 33-Jährige. Er hat früher in einer Buchhandlung in der Hafenstadt Hodeida gearbeitet und rund 100 US-Dollar im Monat verdient. Dann ist er mit seiner Familie nach Taiz geflohen, jetzt ist er arbeitslos. „Ich habe nur noch zehn Dollar in der Tasche“, sagt Mohammed. „Syrer können zu Fuß in die Türkei oder nach Jordanien gehen. Wir können das nicht“, fügt er hinzu. „Nur reiche Leute können den Jemen verlassen.“

Der Schäfer Abdul Wahid Abdu rät allen, die in umkämpften Gebieten leben, ihre Häuser nur aufzugeben, wenn sie eine gute Unterkunft in einer sichereren Region finden. „Wohlhabende Leute können überall ein Haus mieten oder aus dem Land fliehen.“ Arme Menschen seien besser beraten, zu Hause zu bleiben – selbst wenn dort gekämpft werde, meint Abdu.

Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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