Letzte Chance für die Weltmeere

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Schutz der Ozeane
Lärm, Müll und zu warmes Wasser: Das Ökosystem der Ozeane droht zu kollabieren. Größere Schutzgebiete würden helfen – selbst den Fischereiflotten.

Die Hochsee sei wie ein „failed state“, ein gescheiterter Staat, in dem „Gesetzlosigkeit, fast schon Anarchie herrscht“. Das war vor fünf Jahren die Erkenntnis der Global Ocean Commission GOC, die auf Initiative des Pew Charitable Trust eingerichtet wurde, um auf den Zustand der Ozeane aufmerksam zu machen. Mit ihrem Bericht hat die Kommission ein wichtiges Ziel erreicht: Die Ozeane sind seitdem nicht mehr am Rand der politischen Debatte.

Es ist auch dringend nötig, dass über sie gesprochen wird: Ozeane produzieren knapp die Hälfte des Sauerstoffs in der Luft. Sie liefern knapp ein Fünftel des tierischen Proteins, das die Menschheit isst. Strömungen im Ozean heizen die nördliche Hemisphäre. Zudem liefern die Ozeane einen wichtigen Beitrag zur Weltwirtschaft, wie die OECD ausgerechnet hat: Knapp drei Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts hängen von der „blauen Wirtschaft“ ab, etwa durch Fischerei, Tourismus oder die Schifffahrt.

Doch das Wohl der Ozeane ist bedroht. Der wichtigste Stressfaktor ist der wachsende CO₂-Gehalt in der Atmosphäre und die daraus resultierende Klimaerwärmung. Rund ein Viertel des vom Menschen emittierten CO₂ wird in den Ozeanen gebunden. Wie der Name „Kohlensäure“ für im Wasser gelöstes CO₂ vermuten lässt, wird das Meerwasser dadurch saurer.

„Heiß, sauer und atemlos“.

Gleichzeitig erwärmt sich das Oberflächenwasser. Dessen Temperatur ist in den vergangenen 100 Jahren um 0,7 Grad Celsius gestiegen und könnte in den nächsten 80 Jahren um bis zu drei Grad in manchen Weltgegenden steigen. Wärmeres Wasser bindet weniger Sauerstoff, was  Meerestieren das Leben schwermacht. Noch gibt es keine verlässlichen Studien, wie die Erwärmung den Sauerstoffgehalt verändert. Dennoch: Für tierische und pflanzliche Meeresbewohner summieren sich diese Stressfaktoren. Eine Studie der Weltwetterorganisation WMO kommt zum Schluss, die Ozeane seien „heiß, sauer und atemlos“.

Die Ozeane nähern sich einem gefährlichen Kipppunkt, wie der Bericht des Weltklimarats zum 1,5-Grad-Ziel zeigt. Bislang hat sich das Klima um ein Grad erwärmt. Selbst wenn die Erwärmung bei 1,5 Grad gestoppt werden kann, werden laut dem Weltklimarat die Korallenriffe weltweit um 70 bis 90 Prozent zurückgehen. Sollte die Temperatur um zwei Grad steigen, wird es demnach praktisch keine Korallen mehr geben.

Korallenriffe sind die artenreichsten Ökosysteme der Erde und dienen als Kinderstube für viele Fischarten. Das Verschwinden der Riffe hat daher verheerende Folgen auch für küstenferne Meeresgebiete. Ohne wirksamen Klimaschutz droht dem Ökosystem Meer der Kollaps.

Autor

Christian Mihatsch

ist freier Journalist und schreibt über globale Umweltthemen, Handel und Rohstoffe.
Neben der Erderwärmung gibt es weitere Stressfaktoren für die Ozeane und ihre Bewohner, etwa die Verschmutzung mit Müll und die Überfischung. Hier bieten sich immerhin Ansatzpunkte, um den Meeresbewohnern zumindest die Anpassung an ihre wärmere und saurere Umwelt zu erleichtern. Oder anders: Mit weniger Raubbau an den Fischbeständen und weniger Dreck im Wasser hätte das Ökosystem Meer zumindest eine Chance, sich an den Klimawandel anzupassen.
Es gibt erste Anzeichen, dass die Menschheit den Meeren diese Chance einräumen könnte. So soll etwa der Überfischung der Meere Einhalt geboten werden. Derzeit sind mehr als 20 Prozent der Fischbestände „kollabiert“: Die Fangmengen gehen Richtung null. Weitere 40 Prozent gelten als überfischt.

Die gemeinsame Ressource Ozean wird übernutzt

Die Ozeane sind damit ein Musterbeispiel für die „Tragödie der Allmende“. Weil jeder außerhalb der 200-Meilen-Zonen so viel fischen darf, wie er will, wird die gemeinsame Ressource übernutzt. Den Raubbau durch Schutzgebiete einzudämmen ist derzeit rechtlich aber nahezu unmöglich, und nur ein Prozent der Hochsee – das sind die Ozeane jenseits der 200-Meilen-Zone vor den Küsten – steht unter Schutz. Diese Lücke soll nun geschlossen werden, indem der UN-Seerechtskonvention UNCLOS die Kompetenz erteilt wird, Schutzgebiete in der Hochsee auszuweisen. Dazu hat im September 2018 eine erste Verhandlungsrunde zwischen den Mitgliedsländern stattgefunden; im Jahr 2020 wollen sie die UNCLOS-Ergänzung verabschieden.

Umweltorganisationen hoffen, dass langfristig der Fischfang außerhalb der 200-Meilen-Zone komplett verboten wird. Eine neue Studie von Laurenne Schiller von der kanadischen Dalhousie University zeigt, dass dies ohne Konsequenzen für die Versorgung mit Fisch möglich wäre. Nur 2,4 Prozent aller gefangenen und in Aquakultur gezüchteten Fische stammen aus der Hochsee. „Wenn wir aufhören, Hochseefisch zu essen, hätte das keinen großen Einfluss auf die globale Nahrungssicherheit“, sagt Schiller, die Hauptautorin. Der Fischereiexperte Daniel Pauly von der University of British Columbia in Kanada glaubt jedoch nicht, dass bald die komplette Hochsee für den Fischfang gesperrt wird. Anfangs würden wohl nur Schutzgebiete in besonders abgelegenen Meeresgebieten ausgewiesen. Trotzdem ist Pauly optimistisch: „Vor fünf Jahren hat noch keiner über ein Verbot der Hochseefischerei geredet. Jetzt ist es auf der Agenda und die Vereinten Nationen ziehen es in Betracht.“

Im Gegensatz zur Hochsee werden innerhalb der 200-Meilen-Zone seit einigen Jahren große Schutzgebiete ausgewiesen. 13 der 20 größten Meeresschutzgebiete wurden in den vergangenen zehn Jahren eingerichtet. Insgesamt stehen 24 Millionen Quadrat­kilometer unter Schutz; das entspricht der Fläche von Russland und China zusammen.

Ausserdem haben mehrere Länder in Aussicht gestellt, dieses und nächstes Jahr weitere 16 Millionen Quadratkilometer Meer zu schützen. „Es gibt jetzt mehr Schutzgebiete im Meer als an Land, was niemand vorhergesagt hätte, und ich glaube, wir werden weiterhin eine substanzielle Ausweitung sehen“, sagte Kathy McKinnon von der Umweltorganisation International Union for the Conservation of Nature (IUCN). Damit nähert sich die Welt dank der neuen Schutzgebiete in den 200-Meilen-Zonen dem UN-Ziel, bis zum Jahr 2020 zehn Prozent aller Meere zu schützen.

Forscher wollen die Schutzgebiete auf 30 Prozent der Meeresfläche ausdehnen

Aus wissenschaftlicher Sicht reicht das allerdings nicht. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass mehr als 30 Prozent geschützt werden sollten. Noch teilen aber nicht alle Regierungen diesen Konsens: China, Russland und Norwegen haben vergangenes Jahr ein Schutzgebiet im antarktischen Weddell-Meer mit 1,8 Millionen Quadratkilometern Fläche verhindert. Der Widerstand der drei Länder kam für viele überraschend, da selbst der internationale Verband der Krillfischer für das Schutzgebiet ist und bereits einen freiwilligen, permanenten Fangstopp verfügt hat.

Ein solcher Fangstopp nicht nur für Krill wäre durchaus zum kommerziellen Vorteil der Fischer. Im Auftrag der Umweltorganisation WWF haben Wissenschaftler nachgerechnet, wie sich Schutzgebiete wirtschaftlich auswirken. Eine Ausdehnung der Schutzgebiete auf zehn Prozent der Meeresfläche koste demnach über die Jahre 2015 bis 2050 rund 46 Milliarden Dollar. Darin enthalten sind die Kosten für das Management der Schutzgebiete sowie die entgangenen Erlöse der Fischer. Werden die Schutzgebiete auf 30 Prozent der Meeresfläche ausgedehnt, stiegen die Kosten auf 225 Milliarden Dollar, sagen die Wissenschaftler.

Diesen Kosten stehen aber Erträge entgegen. Die resultieren aus einem besseren Küstenschutz, größeren Fangmengen in angrenzenden Meeresgebieten und höheren Einnahmen aus dem Tourismus. Die Studie beziffert die Erträge bei einem 10-Prozent-Schutz auf 620 bis 920 Milliarden Dollar zwischen 2015 und 2050, bei einem 30-Prozent-Schutz auf 720 bis 1150 Milliarden Dollar – in beiden Fällen also deutlich mehr als die Kosten. Außerdem speichern Schutzgebiete mehr CO₂, weil auch Wasserpflanzen vom Schutz profitieren, stärker wachsen und Kohlenstoff aufnehmen.

Würde ein größerer Teil der Ozeane unter Schutz gestellt, würde das auch im Kampf gegen den Klimawandel helfen. Besonders wichtig sind Raubtiere, weil sie die Zahl der Pflanzenfresser unter Kontrolle halten. Ein Beispiel ist der Seeotter, der sich vorzugsweise von Seeigeln ernährt. Wegen seines dichten und feinen Fells wurden die Seeotter aber beinahe ausgerottet, bis im Jahr 1911 der Handel mit den Fellen verboten wurde. Seither hat sich der Bestand wieder erholt.

Algenwälder als Klimaschützer

Gleichzeitig haben sich auch die Kelpwälder – auch Tang- oder Algenwälder genannt – wieder erholt. Diese sind deutlich produktivere Klimaschützer als Wälder an Land: Kelp entzieht der Atmosphäre pro Hektar deutlich mehr CO₂ als ein normaler Wald. Indem Seeotter die kelpfressenden Seeigel in Schach halten, helfen sie daher dem Klima. In den Kelpwäldern entlang der 5400 Kilometer langen Westküste Kanadas und Alaskas sind geschätzt zwischen 16 und 32 Millionen Tonnen CO₂ gebunden. Könnten die Seeotter ihren Kohlenstoffschatz im EU-Emissionshandelssystem verkaufen, bekämen sie beim aktuellen CO₂-Preis von knapp 23 Euro pro Tonne daher zwischen 370 und 730 Millionen Euro für ihr Seeigelmanagement.

Ein ähnlicher Effekt ist auch für große Haiarten dokumentiert: Letztere „pflegen“ Korallenriffe, indem sie kleinere Haie in Schach halten. Riffe mit gesunder Haipopulation sind daher artenreicher und haben weniger Algenbewuchs. Doch die Großraubtiere stehen längst nicht mehr an der Spitze der Nahrungskette. Diesen Platz hat in nahezu allen Lebensräumen der Mensch übernommen, der in vielen Fällen eine Kaskade an Zerstörung über alle Stufen der Nahrungskette ausgelöst hat. Wenn die Natur genug Raum und Zeit hat, kann sie diese Kaskade wieder „rückabwickeln“, wie das Beispiel der Seeotter zeigt. Kombiniert mit ehrgeizigem Küstenschutz ließe sich der Nutzen sogar noch deutlich steigern: Mangrovenwälder oder Salzwiesen sind nicht nur artenreich, sondern binden auch große Mengen CO2 und schützen das Land dahinter vor Sturmfluten.

Schutzgebiete im Meer und an den Küsten allein reichen aber nicht aus. Auch außerhalb dieser Gebiete müssen die Stressfaktoren für Meeresbewohner reduziert werden. Dies gilt insbesondere für die Vermüllung der Meere mit Plastik, die Überdüngung entlang der Küsten und den Unterwasserlärm. Diesen Stress zu verringern, ist entscheidend für die Fähigkeit der Ozeane, mit dem Klimawandel zurechtzukommen. Dafür helfen die Ozeane dann auch dem Menschen, wie die Global Ocean Commission feststellt: „Das Meer ist der wichtigste Faktor des Erdsystems und einer unserer wichtigsten Alliierten im Kampf gegen den Klimawandel.“ Ein „gescheiterter Staat“ als Alliierter bringt allerdings nicht viel. Gut, dass das Bewusstsein dafür gerade wächst.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2019: Erde aus dem Gleichgewicht
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