„Frieden ist die Voraussetzung für Demokratie“

Der Kaukasus ist Schauplatz zahlreicher Konflikte. Der Christliche Verein junger Menschen (YMCA) Europa bemüht sich darum, den Austausch und die Zusammenarbeit von Jugendlichen über die Grenzen ihrer Heimatländer Georgien und Armenien hinweg zu verbessern. Damit soll zugleich ein Beitrag zum Aufbau der Zivilgesellschaft geleistet werden, erklärt der Regionalverantwortliche Vardan Hambardzumyan. Der Kontakt zu jungen Muslimen in Aserbaidschan gestaltet sich jedoch schwierig.

Sie fördern Versöhnung und Verständigung mit einem grenzüberschreitenden Programm für junge Leute. Wie sieht das aus?

Das Programm „Wurzeln der Versöhnung“ läuft seit 2007. Damit entwickeln wir die YMCAs als eine Bewegung in der Kaukasus-Region, weil sie ein wesentlicher Teil der demokratischen Gesellschaft sind. Zugleich organisieren wir Versammlungen und Aktivitäten für junge Leute aus verschiedenen Ländern. Auf diese Weise lernen sie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu schätzen. Zur Zeit arbeiten wir an der Konflikttransformation und planen, die brennenden Probleme in der Region aufzugreifen.

Welche sind das?

Wir konzentrieren uns vor allem auf den Konflikt zwischen Georgien und Russland. Ursprünglich wollten wir den Dialog zwischen Aserbaidschan und Armenien fördern. Aber das hat sich als wesentlich schwieriger erwiesen als erwartet.

Warum ist das so schwierig?

Bei Konflikten durchlaufen Gesellschaften in der Regel drei verschiedene Reaktionsstadien. Am Anfang bedauern die Menschen, was geschehen ist und wollen den Konflikt beenden. Nach einer gewissen Zeit jedoch mehren sich die Geschichten von Leid und Grausamkeit. Das gegenseitige Vertrauen geht verloren, die Gegenseite wird als Feind betrachtet. In diesem Stadium sind beide Seiten davon überzeugt, dass sie den Krieg unbedingt gewinnen müssen. Schließlich, wenn die Menschen durch den Konflikt und seine Folgen erschöpft sind, erkennen sie, dass er jeglichen Sinn verloren hat. Dann denken sie über die Vorteile eines Lebens in Frieden nach. Im Moment ist der Konflikt zwischen Georgien und Russland im ersten Stadium, der zwischen Aserbaidschan und Armenien noch im zweiten.

Dann ist es also ein guter Zeitpunkt, sich im Konflikt zwischen Georgien und Russland zu engagieren.

Ja, weil die Menschen dort sich an die Zeit erinnern, als sie gemeinsam im Frieden lebten. Im Fall von Aserbaidschan und Armenien sind ganze Generationen im gegenseitigen Misstrauen aufgewachsen. Bei Georgien und Russland sehen wir eine wirkliche Chance zur Konflikttransformation. Wir planen Ende August in Armenien ein großes Festival für Jugendliche aus beiden Ländern. Wir versuchen, ihnen zu zeigen, dass gegenseitiges Verständnis und Respekt möglich sind. Dabei sprechen wir nie direkt über den Konflikt. Wir führen keine Diskussionen darüber, wie er begann oder wer schuld ist. Wir bringen die Menschen zusammen und bieten Aktivitäten an, die sie interessieren. Das kann Musik sein aber auch die Organisation von Veranstaltungen und Camps. Sie gewinnen aus diesen Erfahrungen ihre eigenen Erkenntnisse. Wir bieten ihnen nur die Gelegenheit dazu.

Zeigt das Engagement bereits Wirkung?

Anfang August vergangenen Jahres versammelten sich rund 7.000 Jugendliche in Prag zu einem großen Europa-Festival. In dessen Rahmen organisierten wir einen „Wurzeln der Versöhnung“-Workshop, wir brachten 25 junge Leute aus Russland und dem russischen Teil Ossetiens zusammen. Dann brach zwischen Georgien und Russland der Krieg aus. Die Rückflüge nach Tiflis und Eriwan wurden gestrichen. Mehr als 80 georgische und armenische Festival-Teilnehmer steckten am Flughafen fest. Zuerst versuchten sie, ihre Probleme unabhängig voneinander zu lösen. Armenien ist ein strategischer Verbündeter Russlands und so fürchtete Georgien Feindseligkeiten auch von dieser Seite. Aber unserem Projektleiter gelang es, für alle gemeinsam eine Unterkunft und Visa zu organisieren. Vier Tage später flogen wir zusammen nach Eriwan, weil der Flughafen in Tiflis noch geschlossen war. Wir begleiteten die Georgier dann bis zur Grenze. Dadurch ist „Wurzeln der Versöhnung“ eine Bewegung geworden, die von allen YMCAs im Kaukasus getragen wird – viel mehr als ein reines Projekt.

Sind daraus verlässliche Beziehungen entstanden?

Ja. Wir haben außerdem eine wachsende YMCA-Bewegung in Berg-Karabach, der von Aserbaidschan abtrünnigen Republik. Wir haben gerade eine weitere Zusammenkunft von jungen Leuten aus Berg-Karabach, Armenien und Georgien abgehalten. Außerdem planen wir am Sevan-See in Armenien ein Camp für Kinder von Vertriebenen aus Georgien. Die Zusammenarbeit zwischen Georgien und Armenien ist das Herzstück der Arbeit. Aber wir sind offen für weitere Nachbarn, zum Beispiel Russland. Und warum sollten wir nicht auch beispielsweise die Türkei einbeziehen?

Welche Rolle spielt denn die Religion in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit?

Der YMCA ist eine ökumenische christliche Bewegung. Das ist manchmal förderlich, zum Beispiel zwischen Russen und Georgiern, weil beide orthodoxe Christen sind. Aber es ist hinderlich im Blick auf Aserbaidschan, wo vor allem Muslime leben. Meinem Eindruck nach sind zivilgesellschaftliche Organisationen in Aserbaidschan häufig zurückhaltend, mit uns zusammenzuarbeiten. Ich nehme an, christlich klingt für sie fundamentalistisch. Aber wir vertreten die Grundwerte unserer Gesellschaft – wir predigen nicht das Christentum, wir leben es durch Aufrichtigkeit, Respekt, Verantwortlichkeit und Nächstenliebe.

Ist der Dialog mit jungen Muslimen aus Aserbaidschan überhaupt möglich?

Wir sind noch auf der Suche. Dank unseren Partnern, dem Evangelischen Entwicklungsdienst und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz, wurde eine Reihe von Dialog-Begegnungen organisiert. Aber leider ging es darüber nicht hinaus.

Ermuntern Sie junge Leute auch zum politischen Engagement?

Wir wollen ihnen klar machen, wie wichtig das Gespräch zwischen Konfliktparteien ist. Wir brauchen Frieden, um die Demokratie in unseren Ländern zu stärken. Deshalb bereiten wir junge Leute auf Führungspositionen in der Gesellschaft vor. Sie sollen nicht unbedingt gute Politiker werden, aber gute Führer.

An welche Bereiche denken Sie da?

In unseren Ländern nehmen zivilgesellschaftliche Aktivitäten vor allem vor den Wahlen zu. Dann sprechen viele Leute über soziale und ökologische Probleme und bieten Lösungen an. Wenn die Wahlen vorbei sind, werden sowohl die Probleme als auch die Lösungen oft vergessen. Die Zivilgesellschaft muss darauf drängen, dass diese Dinge zwischen den Wahlen weiterverfolgt werden. Dafür brauchen wir verlässliche Führer, die nicht aus Machtinteresse handeln, sondern die Zukunft unserer Kinder im Blick haben.

Wie führen Sie die grenzüberschreitende Friedensarbeit weiter?

Unser Projekt läuft noch bis Ende 2010. Im Moment sind wir dabei, Stärken und Schwächen zu analysieren. Auf dieser Grundlage entscheiden wir über die Fortsetzung. Eins ist aber schon klar: In der nächsten Phase werden wir sehr viel mehr über das Internet machen. Es ist ein gutes Instrument für Kommunikation und Verbindungen ohne Einschränkung. Wir könnten mit Gruppen zusammenarbeiten, mit denen wir uns nicht persönlich treffen können. Zum Beispiel ist es zurzeit kaum möglich, einen Besuch junger Leute aus Berg-Karabach in Aserbaidschan zu organisieren oder umgekehrt. Viel zu kompliziert! Aber sie können sich über das Internet verständigen. Da brauchen sie keine Erlaubnis und keine Visa.

Das Gespräch führte Gesine Wolfinger.

Vardan Hambardzumyan ist der Regionalverantwortliche des Christlichen Vereins junger Menschen (YMCA) Europa für den Kaukasus im armenischen Eriwan.

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2009: Kaukasus: Kleine Völker, große Mächte
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