Mit dem Koran statt dem „Kapital“

Anadolu Agency/Getty images

Mit dem Segen islamischer Geistlicher: Nigerias Präsident Muhammadu Buhari (zweiter von rechts) betet im Juli 2015 in einer Moschee  in Abuja.

Nigeria
Gebildete Eliten in Nigeria und im Niger, unter denen früher der Marxismus beliebt war, machen heute strenge Auslegungen des Islams zum Leitbild. Damit verändert sich dort nicht nur die Politik, sondern auch die Religion.

Als der jetzige Präsident Nigerias, Muhammadu Buhari, 2015 gegen den damaligen Amtsinhaber Goodluck Jonathan in den Wahlkampf zog, boten ihm eine Reihe muslimischer Führer und Scheichs ihre Unterstützung an. Sie priesen in den Medien seine moralische Integrität und seine Fähigkeit, das Land von seinen schlimmsten Plagen zu befreien: der staatlichen Korruption und dem Terror der islamistischen Gruppe Boko Haram. Viele verwiesen dabei auf seine frühere Regierungszeit: Nach einem Putsch ergriff er 1983 die Macht und regierte Nigeria bis 1985 mit eiserner Faust; viele erinnern sich daran als die disziplinierteste Regierung, die Nigeria je hatte. Andere sahen in ihm vor allem einen guten Muslim und trauten ihm zu, dem Land, das damals in einer tiefen Krise steckte, neue Hoffnung zu geben und dem Recht wieder Geltung zu verschaffen.

Man kann darüber streiten, ob diese Unterstützung entscheidend für seinen Wahlsieg war. Fest steht aber, dass Geistliche eine wichtige Unterstützung für seine Führungsrolle leisteten. Fünf Jahre später, nachdem Buhari 2019 die Wiederwahl gewonnen hat, gehört seinem Kabinett mit Scheich Isa Pantami ein ranghoher muslimischer Prediger und scharfer Kritiker der grassierenden Korruption in Nigeria an. Pantami, ein Absolvent der islamischen Universität von Medina in Saudi-Arabien, gilt vielen als typischer Vertreter einer islamischen Geistlichkeit, die in zwei Welten mitmischt: im Wettbewerb der religiösen Strömungen im Norden Nigerias, aber auch in der Regierung, die es bitter nötig hat, Vertrauen  Unterstützung der Bevölkerung zurückzugewinnen.

Im Nachbarland Niger regiert seit 2011 Präsident Mahamadou Issoufou. Als der vor seiner ersten Wahl erklären sollte, was sein Programm war und warum man ihm vertrauen sollte, sagte er: „Vorbild meiner Regierung ist der Kalif Umar“ – ein Gefährte des Propheten Mohammed und der zweite Kalif des Islams  (634–644 nach Christus), der bis heute für viele Muslime das Muster eines guten Herrschers ist. Eine so offene Berufung auf die politische Geschichte des Islams hatte es bis dahin im Niger, wo nach französischem Vorbild Staat und Religion offiziell streng getrennt sind, noch nicht gegeben. Vor einigen Monaten hat Issoufou die Tochter eines in Niger und Mali populären Predigers, Khadidja Diallo, in sein Kabinett berufen. Sie ist eine aufstrebende Verwaltungsexpertin, die für eine an islamischen Grundsätzen ausgerichtete Regierung eintritt, insbesondere im Bankwesen, ihrem Fachgebiet.

Das alles heißt nicht, dass jetzt die Religion das Staatswesen durchdringt. Religion spielte in diesen Ländern immer eine große Rolle, auch in der öffentlichen Gewalt. Bemerkenswert ist aber, dass der Stellenwert der Religion in der gebildeten Elite gewachsen ist und dass in beiden Ländern die ins Kabinett Berufenen der salafistischen Richtung des Islams angehören. Diese distanziert sich von den traditionellen Sufi-Organisationen, die als tolerant und quietistisch gelten, und lehnt volkstümliche Sufi-Praktiken wie Heiligenverehrung ab; in den Augen der Salafisten zeigen allein der Koran und die Sunna des Propheten Mohammed den wahren Weg des Islams auf. So bildet sich in Westafrika eine Elite heraus, welche die Rolle des Islams in Staat und Politik neu definiert und zugleich Vorteile aus dem hohen Stellenwert der Religion zieht. 

Gleichzeitig verändert sich der Islam als Religion und als Fundament von Werten. Muslimische Gesellschaften in Westafrika sind von schnellen Veränderungen erfasst: Islamische Bildungseinrichtungen haben sich verbreitet, junge Leute und Frauen gewinnen an Einfluss, mehr Menschen lernen Arabisch zu lesen, die Verstädterung schreitet voran. Neue Ausdrucksformen und Deutungen des Islams bringen etablierte Ordnungen und traditionelle muslimische Lebensweisen ins Wanken. Der Aufstieg von salafistisch-dschihadistischen Gruppen, von Persönlichkeiten und Eliten, die sich gegen sufistische Traditionen und Organisationen wenden, hat den Islam verändert und beeinflusst, wie Menschen in diesen Ländern ihren Glauben verstehen.

Autor

Abdoulaye Sounaye

ist Leiter der Forschungsgruppe „Contested Religion: Between Religiosity, Morality, and Intellectual Culture“ am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin. Er stammt aus dem Niger und hat in den USA Anthropologie und Religionswissenschaft studiert.
Der Islam spielt heute eine größere Rolle als vor 30 Jahren, insbesondere für die gebildete Elite. In ganz Westafrika sind frühere Marxisten-Leninisten, Maoisten und Trotzkisten, die in ihrer Jugend Religion schlichtweg ablehnten, zu Fürsprechern des Islams geworden. Die Elite hat sich dem Islam geöffnet und dabei von lokalen Traditionen, Sufi-Orden und säkularen Ideologien abgewandt. In gewisser Weise hat sie so den Islam modernisiert: mit ihren politischen Überzeugungen, ökonomischen Einstellungen, ihrer Art, sich zu kleiden, und sogar ihrer Lektüre, speziell der wachsenden Bedeutung, die der arabischen Sprache und dem Studium des Korans beigemesen wird. In Nigeria kamen bereits Ende der 1990er Jahre viele Führer der Bewegung für die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, aus der bürokratischen Elite. Sie wollten die Massen für sich gewinnen und gegen die von ihnen als ineffizient und illegitim dargestellte Regierung aufwiegeln. Die Scharia-Bewegung bot der Elite, den Intellektuellen und Politikern Gelegenheit, den Islam als Mittel der politischen Mobilisierung und Erneuerung darzustellen. Viele, die heute Führungspositionen besetzen, bauen auf der Scharia-Bewegung auf.

Muslimische Prediger prangern Korruption an

In dieser Gesellschaftsschicht eröffnet der Islam heute Aufstiegs- und Karrierechancen. Frömmigkeit verschafft moralisches Kapital, vor allem wenn der Staat für die Korruption seiner Elite kritisiert wird. Tatsächlich ist es fester Bestandteil des religiösen Diskurses, die weitverbreitete Korruption, Veruntreuung, Misswirtschaft bei Rohstoffen und die Vetternwirtschaft anzuprangern. Muslimische Prediger sprechen bei öffentlichen Auftritten und als Förderer bürgerschaftlichen Engagements diese Probleme regelmäßig an und mahnen in ihren Predigten die Elite zu Gottesfurcht und Frömmigkeit.

So wird Frömmigkeit ein Pluspunkt; sie hilft, Einfluss und Privilegien zu wahren, und verschafft Legitimität. Im Niger werfen muslimische Gruppen und Organisationen regelmäßig Staatsdienern, insbesondere in höheren Positionen, zu wenig Beachtung des islamischen Glaubens vor. Immer wieder haben sie gefordert, die Regierung solle nur „gute Muslime“ ernennen. Ähnlich war die Anwendung der Scharia im staatlichen Recht im Norden Nigerias ein Versuch, Vertrauen und gute Regierungsführung zu fördern. Einen Höhepunkt erreichte diese Bewegung zu Beginn der 2000er Jahre mit der Einführung der islamischen Religionspolizei in Kano, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat Nigerias.

Auch mit dem Besuch von Gottesdiensten und der Teilnahme an Festen versuchen Staatsdiener, Einfluss zu erlangen und zu wahren. Bei Gebetsversammlungen habe ich beobachtet, dass hochrangige Regierungsvertreter und Amtsträger gewöhnlich Grußbotschaften und Spenden schicken, wenn sie nicht gar als Ehrengäste geladen sind. Auf einer Versammlung in Maradi im Niger im Jahr 2015, zu der der Provinzgouverneur, der Innenminister und andere hochrangige Persönlichkeiten nicht selbst anreisen konnten, schickten sie alle Spenden, wie ständig über Lautsprecher verkündet wurde.

Diese Führungsstrategie ist nicht ungewöhnlich. Regierungen versuchen, Bündnisse zu schmieden und Kommunikationskanäle zwischen Behörden und einflussreichen muslimischen Organisationen herzustellen. Aber auch die Sufi bemühen sich nun um Präsenz bei religiösen Feierlichkeiten und Festen; sie organisieren sich ebenfalls neu, um der Herausforderung durch die Salafisten zu begegnen und politisches Terrain, das sie an Kritiker und Gegner verloren haben, zurückzugewinnen.

Tiefe Kluft zwischen der Elite und den Massen

Geschäftsleute haben in diesem Umfeld, in dem religiöse Reputation und ökonomisches Kapital oft eng verknüpft sind, traditionell islamische Institutionen unterstützt – sowohl der Sufis wie der Salafisten. Veranstaltungen oder Infrastrukturprojekte zu finanzieren, ist für einen erfolgreichen Geschäftsmann eine Möglichkeit, seine Verbundenheit mit der Gemeinde zu zeigen, und gilt zugleich als gutes Werk, das dem Seelenheil zugutekommt. Eine 73-jährige Frau in Niamey im Niger sagte mir zur Spendenfreudigkeit der Elite: „Es ist wirklich beeindruckend, wie viele Moscheen für das Freitagsgebet es heute in der Stadt gibt. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da mein Mann und die meisten Leute aus unserem Viertel mindestens eine halbe Stunde zu Fuß gehen mussten, um zu einer Moschee zu kommen. Damals gab es nur eine in der Stadt.“ Heute könnte nicht einmal das Ministerium für Religionsangelegenheiten die genaue Zahl der Moscheen in Niamey nennen. Dasselbe gilt für Kano und Kaduna, zwei Großstädte im Norden Nigerias, wo es in der Elite üblich ist, religiöse Infrastruktur wie Moscheen und Bildungszentren zu bauen.

Frömmigkeit erhöht das Vertrauen in diesem sozialen und politischen Umfeld, das von einer tiefen Kluft zwischen der Elite und den Massen geprägt ist und in dem die Autorität des Staates umstritten ist. Man schaue sich nur an, wie Boko Haram es geschafft hat, mit Anprangerung von Missständen, Anfechtung des Zentralstaats, der lokalen Behörden sowie der traditionellen politischen Führer und Kleriker die Jugend zu Gewalttaten aufzuwiegeln und für Utopien eines islamischen Staats zu gewinnen.

Ein Grund für die Hinwendung der Eliten beider Länder zum Islam ist, dass dies nicht nur beruflich und im Alltag Vorteile bringt, sondern auch Wege zum sozialen Aufstieg eröffnet. Das habe ich unter Studenten der Ahmadu Bello Universität in Zaria in Nigeria und der Université Abdou Moumouni in Niamey im Niger beobachten können. Ein guter Muslim zu sein, prägt die Sicht der Studierenden auf ihre Verantwortung als künftige Führer. Es ist von großer Bedeutung, welche Werte sie aus dem Campus mitnehmen. Vor wenigen Jahrzehnten war die Abdou Moumouni Universität von linkem Gedankengut geprägt, das aber allmählich gegenüber dem religiösen Aktivismus an Boden verloren hat, besonders dem salafistisch geprägten. Er setzt auf religiöse Normen und Werte, die über tugendhafte Führungspersönlichkeiten ihren Weg in die Staatsführung finden sollen.

In Westafrika hat der Islam großen Einfluss da–rauf, wie die Menschen sich selbst sehen, miteinander umgehen und sich ihre Zukunft vorstellen. Dies zeigt sich besonders in der Elite, die in ihrem Bestreben, die Gesellschaft zu verändern, den Islam zur Grundlage des Rechts und des staatlichen Handelns macht. Während die muslimische Elite ihre Stellung in Gesellschaft, Politik und Kultur zu bewahren sucht, verändert sie zugleich das Verständnis, was es heißt, fromm zu sein. Ein ähnlicher Trend ist in ganz Afrika auch unter Christen zu beobachten: Dort spricht ein Wohlstandsevangelium unterschiedliche Gruppen an und verändert das Verhältnis zwischen Elite und Religion. Ohne Zweifel ändern sich die Werte der Elite zugleich mit der Elite selbst. Wie das die Religion insgesamt verändert, ist in Westafrika eine Frage von größter Bedeutung.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2020: Der Plan für die Zukunft?
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