Der Völkermord ist bis heute ein Trauma

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Devex/Will Swanson
Jean-Baptiste hat Schizophrenie. Wenn die Symptome auftreten, verschwindet er oft tagelang und wird dann für einen Monat in ein neuropsychiatrisches Krankenhaus eingewiesen.
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In Ruanda leiden überdurchschnittlich viele Menschen an psychischen Erkrankungen. Es fehlt an Psychiatern, Medikamenten und kommunalen Gesundheitszentren. Die Regierung will die Situation verbessern – mit Hilfe der Pharmaindustrie.

Der Weg zum Dorf Burema am Rand von Ruandas Hauptstadt Kigali ist holprig, schmal und steil. In einem kleinen Haus mit zwei Zimmern lebt eine sechsköpfige Familie. Aus ihrem Fenster blicken sie auf das üppige Grün des darunter liegenden Hangs. Doch so schön wie dieser Ausblick sind die Aussichten für die Familie nicht immer. Marie-Jeanne, 32 Jahre alt und Mutter von vier Söhnen, ist arbeitslos. Ihr Mann Jean-Baptiste, 40 Jahre, verdient zwar Geld, aber nicht regelmäßig. „Er hat psychische Probleme und schafft die Arbeit manchmal nicht. Weil ich auch nicht arbeite, haben wir dann noch nicht einmal etwas zu essen für unsere Kinder“, erklärt Marie-Jeanne, die im Wohnzimmer sitzt und sich ihr jüngstes Kind auf den Rücken gebunden hat.

Jean-Baptiste hat Schizophrenie. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind weltweit 20 Millionen Menschen von der chronischen psychischen Erkrankung betroffen, die zu Denkstörungen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen führt. Wenn die Symptome auftreten, verschwindet Jean-Baptiste oft tagelang. Meist wird er irgendwann von der Polizei gefunden und jeweils für einen Monat ins neuropsychiatrische Krankenhaus Caraes Ndera eingewiesen – die nationale Fachklinik für psychische Erkrankungen.

Viele Ruander leiden an posttraumatischer Störung

Ungefähr 12 Prozent der Menschen in Subsahara-Afrika leben mit einer psychischen Krankheit wie einer Depression, Angststörung, bipolaren Störung, Essstörung, Schizophrenie oder Alkohol- und Drogensucht. Diese Zahl wird infolge der Corona-Pandemie wahrscheinlich steigen. Die WHO und ihre Partner haben deshalb eine neue Kampagne ins Leben gerufen, die deutlich höhere Investitionen in die psychische Gesundheit fordert. 

Laut Schätzungen liegt der Prozentsatz der Menschen mit einer psychischen Erkrankung in Ruanda über dem regionalen Durchschnitt. Der Völkermord an den Tutsi im Jahr 1994 könnte wesentlich dazu beigetragen haben, meinen Experten. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge leiden 29 Prozent der Bevölkerung an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Laut Dr. Bizoza Rutakayire, Psychiater und Chefarzt der Psychiatrie im Caraes-Ndera-Krankenhaus, ist das Psychotrauma des Völkermords mit dem Auftreten bestimmter psychischer Störungen verbunden. Während der landesweiten Gedenkwoche, die jedes Jahr im April stattfindet, litten zahlreiche Menschen an Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer allgemeinen Angststörung mit Panikattacken, erklärt er.

Seelische Gesundheit wird weltweit vernachlässigt 

In der Klinik Caraes Ndera – in der vor Covid-19 täglich mehr als 70 ambulante und ungefähr 110 stationäre Patienten betreut wurden – stellte man bei vielen eingewiesenen Patienten Schizophrenie fest. Was möglicherweise als posttraumatische Belastungsstörung beginne, könne ein Zeichen für eine schwerere psychische oder psychotische Störung sein, sagt Rutakayire und fügt hinzu, dass zwar einige Patienten eine erbliche Veranlagung zur Schizophrenie hätten, ein Trauma jedoch die Symptomatik auslösen könne.

Marie-Jeanne ist Jean-Baptistes Frau. Wenn ihr Ehemann verschwindet und kein Geld verdient, kann sie sich kaum das
Essen für ihre vier Söhne leisten.

Angesichts der zahlreichen Familien, die wie die von Jean-Baptiste seit dem Völkermord von psychischen Erkrankungen betroffen sind, hat Ruandas Regierung die Versorgung mit Dienstleistungen im Bereich psychische Gesundheit zur Priorität gemacht. Zwar findet das Thema jetzt weltweit mehr Beachtung, dennoch kann laut Dr. Yvonne Kayiteshonga, Leiterin der Abteilung psychische Gesundheit im Rwanda Biomedical Center, mehr getan werden. „Die psychische Gesundheit scheint weltweit vernachlässigt zu werden. Unsere Forschung ist unzureichend, es fehlt uns an Personal“, sagt sie und fügt hinzu, die psychische Gesundheit müsse die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie die körperliche Gesundheit.

Psychische Gesundheit und Wohlbefinden gehören zwar zu den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung, doch eine wissenschaftlich erprobte Behandlung erhält in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen weniger als eine von 50 Personen mit schweren psychischen Erkrankungen.   

Kooperation zwischen Ministerium und Pharmafirma

Ein Jahr nach dem Völkermord versuchte die ruandische Regierung, dies zu ändern, und entwickelte ein Konzept zur psychischen Gesundheit. Damit gehörte Ruanda zu den ersten Ländern in Subsahara-Afrika mit einem solchen Konzept. 2018 setzte man mit dem aktualisierten strategischen Plan ehrgeizige neue Ziele für den Ausbau der psychiatrischen Versorgung in den Kommunen, unter anderem durch Dezentralisierung und Eingliederung in die medizinische Grundversorgung.

Eine auf fünf Jahre angelegte Zusammenarbeit zwischen dem ruandischen Gesundheitsministerium und der Unternehmensgruppe Johnson & Johnson unterstützt die Bemühungen, ein Modell für eine erschwingliche und qualitativ hochwertige Versorgung zu entwickeln.

Die 2018 gestartete Kooperation verfolgt einen dreigleisigen Ansatz. Wenn sie erfolgreich ist, könnten die hierbei gewonnenen Erkenntnisse anderen Ländern in der Region und möglicherweise weltweit als praktikables Modell dienen, erklärt Dr. Kivwanga Mwaniki, weltweit zuständiger Leiter des Bereichs psychische Gesundheit bei Johnson & Johnson.

Medizinische Versorgung dezentralisieren

In dem dreigleisigen Ansatz geht es zunächst darum, die Belastung durch psychische Störungen zu verstehen. Laut Dr. Kayiteshonga beschränkte sich die Forschung vor 2018 darauf, die Verbreitung psychischer Erkrankungen in wenigen Gebieten und bestimmten Gruppen der ruandischen Bevölkerung zu untersuchen. Doch „eine gute Politik und gute Gesundheitsstrategien basieren auf repräsentativeren Daten“, erklärt Dr. Kayiteshonga.

Deshalb habe man im ersten Schritt durch eine landesweite Befragung von Haushalten die Verbreitung von häufigen psychischen Störungen, Drogenmissbrauch und Suizidneigung in Ruanda ermittelt. Die Ergebnisse, die im Laufe dieses Jahres veröffentlicht werden sollten, würden in die politischen Entscheidungen im Bereich der psychischen Gesundheit und die Zuteilung von Ressourcen einfließen, sagt Dr. Kayiteshonga.

Zweitens soll die medizinische Versorgung stärker dezentral organisiert werden. Es fehlt zudem an Psychiatern im Land, noch nicht mal einer, sondern nur 0,06 kommt auf je 100.000 Einwohner. Laut Dr. Rutakayire gibt es 13 Psychiater in Ruanda. 

Mangels eines Psychiaters wenden sich viele Betroffene an traditionelle Heiler und religiöse Führer, erklärt Dr. Rutakayire. Er ist überzeugt, dass sich mit einer verstärkten Aufklärung über psychische Gesundheit mehr Menschen um eine professionelle medizinische Versorgung bemühen würden. Allerdings müsse dann auch die Möglichkeit bestehen, genaue Diagnosen zu stellen und Patienten zur Behandlung zu überweisen.

Personal schulen, um seelische Krankheiten zu erkennen

Medizinische Betreuung müsse nicht nur von Psychiatern, sondern auch auf örtlicher Ebene angeboten werden, so Dr. Mwaniki. „Wenn man als Patient in Afrika zu Fuß unterwegs ist, nicht nur bei einer psychischen Erkrankung, sondern auch jeder anderen Art von Krankheit, dann ist es ein langer Weg, bis man eine medizinische Einrichtung erreicht hat“, sagt er.
Für Jean-Baptiste ist das Caraes-Ndera-Hospital mehr als eine Autostunde entfernt, ohne Auto dauert die Fahrt noch länger. „Der erste Baustein ist deshalb eine Dezentralisierung“, erklärt Dr. Mwaniki. „Können wir die medizinische Versorgung in örtliche Gesundheitszentren bringen und so diese Belastung für den Patienten verringern?“

Die Regierung hat im Rahmen des Projekts eine neue Plattform für Fernschulungen (RTS) bereitgestellt, die es kommunalen Mitarbeitern des Gesundheitswesens ermöglicht, ihr Wissen darüber aufzufrischen, wie sie psychische Störungen erkennen können. Die Schulung, die kostenlos ist und mit Hilfe einer Audioaufnahme telefonisch durchgeführt wird, hat bisher ungefähr 60.000 kommunale Gesundheitshelfer erreicht und wurde kürzlich auf Wunsch der Regierung ausgeweitet, um die Bekämpfung von Covid-19 und damit zusammenhängende Fragen der psychischen Gesundheit einzubeziehen.

Prosper Ngendahayo, Lehrer und kommunaler Gesundheitshelfer im Bezirk Kicukiro in Kigali, hat an der Fortbildung teilgenommen. „Wir verstehen jetzt besser, was ein Trauma ist“, sagt Ngendahayo und erklärt, die Anrufe seien nicht zeitaufwendig. Die Audioaufnahme vermittle zuerst Informationen, auf die dann Fragen folgten, mit denen sich das eigene Wissen testen lasse. Dazu gehöre zum Beispiel die Frage, ob eine bestimmte Erkrankung durch Hexerei verursacht werden könne oder ansteckend sei. Dies, so fügt er hinzu, sei ein gängiger Irrglaube.

Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen

Schulungen auf lokaler Ebene könnten die Bevölkerung sensibilisieren und zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen beitragen, sagt Ngendahayo. Er erzählt von der Schule, in der er arbeitet: „Zuerst einmal setzen wir uns mit Menschen zusammen, die Symptome einer psychischen Erkrankung zeigen, und führen konstruktive Gespräche. Zweitens ermutigen wir die Menschen in ihrem Umfeld, ihnen mit Respekt und Akzeptanz zu begegnen, da das Gegenteil ihre Erkrankung verschlimmert.“ 

Autorin

Rebecca Root

ist Reporterin bei der Nachrichtenplattform „Devex“. Dort ist der Text zuerst als Multimedia-Reportage erschienen. Das Unternehmen Johnson & Johnson hat die Recherche gefördert.
Neben ihrer Beteiligung an der RTS-Plattform arbeitet die Johnson & Johnson Stiftung mit anderen Organisationen daran, Schulungen für Pflegepersonal anzubieten, bei denen es um Diagnostik, die Behandlung und die Überweisung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geht.

Zusammen sollen die beiden Schulungsarten dazu beitragen, dass mehr Mitarbeiter im Gesundheitswesen auf kommunaler Ebene in der Lage sind, bei Patienten wie Jean-Baptiste eine Diagnose zu stellen, sie aufzuklären, zu behandeln und zu überweisen.

„Letztes Jahr haben wir infolge unserer Gespräche in der Gemeinde über psychische Gesundheit drei Personen aus unserem Dorf zur Behandlung an das Gemeindegesundheitszentrum überwiesen“, sagt Ngendahayo. Zehn weitere Personen hätten die Hilfe, die sie brauchten, vom Gesundheitsmitarbeiter erhalten.

Statt Tabletten gibt es alle drei Monate eine Injektion 

In einem dritten Schritt im Rahmen der Kooperation der ruandischen Regierung mit Johnson & Johnson geht es darum, Zugang zu erschwinglichen, hochwertigen Medikamenten sicherzustellen. Erst wenn durch zugängliche Daten das Ausmaß des Problems klar ist und Gesundheitsfachkräfte entsprechend geschult wurden, können Patienten die Behandlung erhalten, die sie brauchen.

Bizoza Rutakayire ist Psychiater und Chefarzt der Psychiatrie im Caraes-Ndera-Krankenhaus.

Doch laut Rutakayire sind Psychopharmaka in Bezirkskrankenhäusern häufig nicht vorrätig, die Behandlungsmöglichkeiten sind dadurch eingeschränkt. In der Vergangenheit habe es Jahre gedauert, bis neue Medikamente in einkommensschwachen Ländern wie Ruanda verfügbar gewesen seien, sagt Mwaniki.

Als Patient in der klinischen Pilotstudie erhält Jean-Baptiste inzwischen ein Depot-Antipsychotikum. Statt zweimal täglich zwei Tabletten zu nehmen, bekommt er nun alle drei Monate eine einzige Injektion. Laut Rutakayire können Antipsychotika dazu beitragen, Rückfälle zu reduzieren. Außerdem komme es bei den Patienten möglicherweise zu weniger neurologischen Nebenwirkungen als bei Medikamenten der ersten Generation. „Die haben bei einigen Patienten dazu geführt, dass sie die Medikamente abgesetzt und danach vielleicht Rückfälle erlitten haben. Aber der zunehmende Einsatz von Neuroleptika der zweiten Generation wird diese Nebenwirkungen verhindern und die Lebensqualität unserer Patienten verbessern“, erklärt er.

Marie-Jeanne findet zwar, es sei noch zu früh, sich Hoffnungen für die Zukunft zu machen. Bisher aber hätten die Injektionen ihrem Mann geholfen. „Früher, als er noch Tabletten nahm, hat er immer einige Tage ausgelassen, ohne dass ich es gemerkt habe. Deshalb wurde er immer wieder krank“, sagt sie.

Depressionen Hauptursache für weltweite Krankheitslast

Laut Mwaniki ist für Anfang 2021 eine größere offene klinische Studie über Antipsychiotika in Ruanda geplant. Ziel sei, Daten zu sammeln, die der Regierung dabei helfen könnten, Patienten mit Schizophrenie mit neueren, innovativen Medikamenten zu versorgen und gleichzeitig klinische Forschungseinrichtungen im Land aufzubauen.

Schon vor der Pandemie lautete die Prognose, dass psychische Erkrankungen, vor allem Depressionen, bis 2030 die Hauptursache für die weltweite Krankheitslast sein und 16 Billionen Dollar kosten werden. Je mehr also heute dafür getan wird, den Zugang zu medizinischen Diensten zu verbessern und Menschen wie Jean-Baptiste zu behandeln, desto besser.

„Wir fangen an, über das Problem zu reden, aber ich denke, dass wir immer noch nicht an dem Punkt sind, an dem wir das Schweigen brechen. Und selbst da, wo wir es getan haben, haben wir das durch Gespräche und nicht durch medizinische Dienste erreicht. Es ist Zeit, das Schweigen durch Handeln zu brechen“, sagt Mwaniki. Die Covid-19-Pandemie habe all das noch dringlicher gemacht.

Den Ansatz aus Ruanda auf ganz Afrika ausweiten

Helfen könnte ein integriertes Modell einer hochwertigen psychiatrischen Versorgung, die in einem Land mit niedrigem Einkommen erschwinglich und ausbaufähig ist. Wenn wissenschaftlich fundierte Behandlungsansätze allgemein zugänglich gemacht und Datenlücken geschlossen würden, hätten andere Länder wichtige Instrumente, die sie brauchen, um ihre eigene psychiatrische Versorgung zu verbessern. Mwaniki ist der Überzeugung, dass Partnerschaft hierbei der Schlüssel zum Erfolg ist.

„Es gibt einen Grund, warum Partnerschaft ein zentrales Thema und ein zentrales Ziel in der Agenda für nachhaltige Entwicklung ist: Auch wenn sie sich möglicherweise schwer realisieren lässt, sie funktioniert und ist deshalb von größter Bedeutung“, sagt er.
Weniger als zwei Jahre nach Beginn der Zusammenarbeit denke man darüber nach, wie die Bemühungen in Ruanda auf den gesamten Kontinent ausgeweitet werden könnten, sagt Mwaniki: „Aufbauend auf dem Beispiel von Ruanda müssen wir jetzt global, in den Ländern und in den Regionen daran arbeiten, das Schweigen über das Thema psychische Gesundheit zu brechen und Patienten die Versorgung zukommen zu lassen, die sie verdienen. Wir müssen mehr tun, als einfach nur reden. Was wir brauchen, sind konkrete und länderübergreifende Maßnahmen mit mehreren Partnern, die einen tiefgreifenden Wandel bewirken.“

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner. 

Zur Multimedia-Reportage von Devex geht es hier.  

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