Opfer, Mörder, Sündenbock

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Peter Dejong/Reuters 
Dominic Ongwen (Mitte) während seines Prozesses in Den Haag Ende 2016. Zu den Vorwürfen gegen ihn hat er zumeist geschwiegen.
Strafgerichtshof
Im Mai hat der Internationale Strafgerichtshof den Ex-Kommandeur der Lord’s Resistance Army Dominic Ongwen wegen Gräueltaten in Norduganda zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Unter Opfern, die weiter unter den Kriegsfolgen leiden, sind die Meinungen darüber geteilt. 

Dieser Text ist zuerst auf Englisch bei "The New Humanitarian" erschienen. Hier geht's zum Originaltext

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat im Mai Dominic Ongwen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sprach den ehemaligen Kommandeur der berüchtigten Miliz Lord’s Resistance Army (LRA) aus Uganda wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in mehr als 61 Anklagepunkten schuldig. Das Urteil ist ein Meilenstein. Es war der erste Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen ein Mitglied der für ihre Brutalität bekannten LRA und das erste Mal, dass ein internationales Gericht erzwungene Schwangerschaft als Kriegsverbrechen eingestuft hat.

Doch die Überlebenden der drei Jahrzehnte währenden Gräuel der LRA-Miliz leiden nach wie vor unter vielschichtigen ungelösten Traumata, und die Frage von Reparationen, die ihnen bei einem Neustart helfen könnten, ist noch ungelöst. All dies wird erneut hochkommen, da die Verteidigung Ongwens bereits die Berufung vorbereitet.

Was hat der sechsjährige Prozess am IStGH zu Versöhnung im nördlichen Uganda beigetragen? Darüber hat „The New Humanitarian“ mit Überlebenden der LRA-Massaker, mit für Frieden eintretenden Gruppen und mit einigen von Ongwens Ehefrauen gesprochen. Diese waren als Mädchen entführt worden und sind nun in Gemeinschaften zurückgekehrt, in denen die Narben aus dem Bürgerkrieg noch frisch sind.

"Dominic ist nun wie Jesus" 

Ein dicht gedrängtes Publikum verfolgt in Gulu, einer Stadt im Norden Ugandas, am 6. Mai im Schatten einer Plane die Radioreportage von Ongwens Verurteilung. Die meisten Anwesenden wollen ihn zwar hinter Gittern sehen, aber „im Gefängnis sterben“ solle er dann doch nicht. Als die Richter erläutern, dass sie auch eine lebenslange Haft erwogen hätten, reagieren einige in der Menge mit zynischem Grinsen, auch wenn viele selbst LRA-Opfer sind. Immer wieder wird vehement vorgebracht, Ongwen müsse als Sündenbock herhalten, während andere, nicht weniger mordgierige LRA-Kommandeure von einer Amnestie der ugandischen Regierung profitierten. Und Mitglieder der staatlichen Sicherheitskräfte, denen ebenfalls

Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden, entgingen der Strafverfolgung ganz. Als die Organisatoren der Veranstaltung, die Foundation for Justice and Develop­ment Initiatives (FJDI) – sie ist der Partner des Strafgerichtshofs in der hiesigen Zivilgesellschaft –, das Mikrofon herumgehen lassen, sagt Walter Ochora: „Dominic ist nun wie Jesus: Er trägt das Kreuz für alle und für all ihre Taten. Er sollte eine milde Strafe erhalten.“ 

Jackline Aol kämpft immer noch mit der Erinnerung an den furchtbaren Abend im Mai 2004, als LRA-Kämpfer unter dem Befehl von Ongwen durch ihr Dorf Lukodi zogen, ungefähr 20 Kilometer von Gulu entfernt. Als sie den Urteilsspruch im Radio hört, schlägt sie die Hände vors Gesicht. Die LRA wollte damals das Dorf für angebliche Kollaboration mit den Regierungssoldaten bestrafen und gerade angelieferte Nahrungsmittelhilfe plündern. Als die zahlenmäßig unterlegene Bürgerwehr und die wenigen Soldaten die Flucht ergriffen, lebte die LRA ihre Rachegelüste aus: Menschen wurden auf offener Straße erschossen, andere aus ihren Verstecken gezerrt und ermordet.

In Uganda müsste Ongwen in der Haft Zwangsarbeit leisten

Jackline Aol erinnert sich, dass man ihr befahl, „nicht zu zittern“, als alle anderen in dem Raum, in dem sie Zuflucht gesucht hatte, niedergemetzelt wurden. Sie schrie nur auf, als man ihre einjährige Tochter tötete. Dafür schlug man sie zu Boden und stieß ihr ein Bajonett in den Rücken. Anschließend riss man sie auf die Beine und zwang sie im Gewaltmarsch tief in den Busch. Dort übergab man sie zwei „Ehemännern“. Sie war damals 14 Jahre alt. „Die 25 Jahre Haft können nicht im Geringsten die klaffende Wunde schließen, die er in mein Leben, meine Familie und die Dorfgemeinschaft gerissen hat“, sagt Jackline. „Wenn Ongwen zu 70 Jahren Haft verurteilt würde und zusätzlich an alle, die seinetwegen zu leiden hatten, Entschädigung gezahlt würde, ja, das wäre etwas anderes.“

Frauen in Norduganda ­verfolgen die Radioübertragung des Urteils gegen Ongwen. Viele halten die Strafe für zu milde.

Janet Akono hat in Lukodi zwei Söhne verloren. Sie kam gerade ins Dorf, als der Überfall begann, und verbarg sich in einer Latrine, bis die Schießerei aufhörte. Als sie herauskam, stellte sie fest, dass ihr ältester Sohn Dennis entführt und der neunjährige Christopher erschossen worden war. „Das Urteil bringt mir meine Söhne nicht zurück“, erklärt sie. Doch sie fügte hinzu: „Wir wollen nicht, dass Ongwen zu lebenslanger Haft verurteilt wird. 25 Jahre sind genug.“

Autorin

Jazzmin Jiwa

ist Journalistin und Produzentin von Dokumentarfilmen. Ihr Artikel ist zuerst auf Englisch erschienen bei „thenewhumanitarian.org“, einer auf Berichte über humanitäre Krisen spezialisierten Nachrichtenagentur. Für die Richtigkeit der Übersetzung ist „The New Humanitarian“ nicht verantwortlich.
Der Überfall auf Lukodi war eines von vier Massakern zwischen Juli 2002 und Dezember 2005, für die Ongwen verantwortlich gemacht wird. Ongwen, einst ein Kindersoldat mit Dreadlocks, ist schon seit 2015 in Haft. Die Opfer sehen nun von ihm Bilder, die einen befremdlich wohlhabend aussehenden Mann in tadellosem Anzug in einem teuren europäischen Gericht zeigen. 

„Manchen der Überlebenden geht es miserabel, sie haben kaum zu essen. Da sehen sie ihn – er bekommt drei Mahlzeiten am Tag, vielleicht vier. Seine Haut ist glatt, während sie Falten haben“, sagt Jackline Atingo, wissenschaftliche Beraterin des Firoz Lalji Institute for Africa an der London School of Economics, die sich seit über zehn Jahren mit den Problemen der LRA-Opfer beschäftigt. „In Uganda müssen Häftlinge jeden Morgen mit Schaufel und Spitzhacke losziehen. Die Menschen wollen, dass er dem Leben hier ausgesetzt wird, dieselben Probleme hat wie sie, sich um sein Essen sorgen muss und keine Arbeit findet.“

Viele Opfer wollen Entschädigung, um einen Acker zu kaufen

Reparationen sind nach wie vor ein brennendes Thema im Norden Ugandas, wo die Gewalt der LRA 1,8 Millionen Menschen vertrieben hat. Die Miliz hat mehr als 38.000 Kinder entführt und viele von ihnen zu Kindersoldaten oder Sexsklavinnen gemacht. Der IStGH hat die Opfer aufgefordert, Entschädigungsanträge zu stellen, und Geberländer aufgerufen, in einen speziellen Opferfonds einzuzahlen. Viele Überlebende, die „The New Humanitarian“ gefragt hat, sagen, sie wollten sich nur ein Stück Land für einen Neuanfang kaufen können.

Trotz Ongwens Brutalität ist vielen bewusst, dass er selbst auch ein Opfer war. Im Alter von neun Jahren wurde er auf dem Weg zur Schule von der LRA entführt. Seine Eltern wurden ein Jahr nach seiner Entführung von der LRA ermordet. Viele im Norden Ugandas legen es dem LRA-Führer Joseph Kony, der immer noch auf der Flucht ist, zur Last, dass Ongwen zum Verbrecher geworden ist. 

Während seiner mehr als 25 Jahre bei der LRA nahm Ongwen mindestens sieben versklavte Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren zur „Frau“. Mit ihnen zeugte er 17 Kinder. Die jungen Frauen, von ugandischen Medien „Dominics Ehefrauen“ genannt, haben mit ihren Erinnerungen zu kämpfen. Das ist noch komplizierter wegen des Stigmas, das ihnen im Norden Ugandas anhaftet. Für Dillis Akao war das Urteil des IStGH ein schwerer Schlag. „Es hat mir wehgetan“, sagt die Mutter zweier Kinder, die 2004 im Alter von 14 Jahren entführt worden war. „Ich dachte, sie würden ihn freilassen und er würde kommen und uns mit den Kindern helfen.“

Ongwens Frauen werden heute oft feindselig behandelt

Dillis macht einen Kurs in Modedesign bei Terra Renaissance, einer NGO, die Konflikt­opfer beim Aufbau eines selbstständigen Lebens unterstützt. Schüchtern erzählt sie in einem Schulungsraum ihre Geschichte, ihren kleinen Sohn – Ongwens Kind – auf dem Schoß, während draußen der Regen prasselt. „Ich hatte anfangs Angst vor Ongwen, aber später begann ich ihn zu lieben. Ich denke oft an ihn und fühle mit ihm.“ Dillis ist die einzige, die ihn in Den Haag in der Untersuchungshaft als Ehefrau besucht hat. Sie gebar danach einen Sohn, den sie nach Ongwens Hauptverteidiger benannt hat.

Ongwens erste Frau Eveline Aromorach, die 1996 entführt und zum Kampf an der Front gezwungen wurde, empfindet weniger Sympathie für ihn. Sie ist mit der Gefängnisstrafe einverstanden und findet das Urteil fair. Trotzdem ist sie erleichtert, dass die Richter keine lebenslange Haft verhängt haben: „Er ist der Vater unserer Kinder, wir können das nicht einfach auslöschen.“

Ongwens Frauen schlägt von manchen unverhohlene Feindschaft entgegen – ebenso wie anderen Entführungsopfern der LRA. „Viele glauben offenbar, dass die Entführten für alles verantwortlich sind, was bei der Miliz geschehen ist, ob nun die Mädchen oder die Jungen“, erklärt Jimmy Otema Fred von Terra Renaissance. Atingo, die wissenschaftliche Beraterin, meint, dass die Gesellschaft ihre Einstellung zu den Entführungsopfern der LRA ändern müsse. Sie selbst entging als Teenager nur knapp einer Entführung – dank einer Lehrerin, die um ihr Leben bettelte. „Die Menschen müssen akzeptieren, dass diese Kinder gegen ihren Willen fortgebracht wurden, es war nicht ihre Schuld. Sie wurden dazu gezwungen, Dinge zu tun, die falsch waren“, sagte Atingo. „Wir müssen sie annehmen, wie sie sind, mit allem, was sie getan haben. Darin besteht der Prozess der Versöhnung.“

Überlebende des Terrors können Hilfe erhalten wie Nähkurse; vier von Dominic Ongwens Frauen ­nehmen hier teil.

Die Wahrheit aussprechen, sich dem stellen, was man getan hat – das ist ein Eckpfeil der Versöhnung, wie sie in der Kultur der Acholi im Norden Ugandas gepflegt wird. Eine Zeremonie, die als Mato-Oput bekannt ist, bringt Täter mit ihren Opfern zusammen, um über die Verbrechen zu sprechen, um Vergebung zu bitten und sich über Wiedergutmachung zu einigen, damit dann das Leben weitergehen kann.

Das Ritual wurde in Verbindung mit einer formellen Regierungsamnestie genutzt, die LRA-Kämpfern, die der Miliz abschworen und die Waffen niederlegten, generelle Straffreiheit zusicherte. Das hat mehrere Kommandeure zur Aufgabe veranlasst. Sie blieben in Freiheit und erhielten obendrein eine Geldzahlung von der Regierung. Mehr als 26.000 ehemalige Kämpfer profitierten von dem im Jahr 2000 verkündeten Amnestiegesetz, das ihnen ermöglichte, ohne Angst vor Strafverfolgung nach Hause zurückzukehren. Dort nahmen sie am Ritual des Mato-Oput teil. „Danach geht man seinem normalen Leben nach und niemand kann einem etwas tun, weil der Mato-Oput-Prozess einen schützt“, erklärte Sarah Nkayimbi von der Programmleitung des FJDI, dem Partner des IStGH vor Ort.

Manche sehr brutale Täter sind amnestiert und bleiben frei

Im Jahr 2006 wurden per Gesetzesänderung einige Personen von der Amnestie ausgenommen. Ongwen gehört dazu, auch der nach wie vor flüchtige Kony sowie zwei seiner Stellvertreter, die beide inzwischen gestorben sind. Mehreren früheren LRA-Kommandeuren, die amnestiert sind, werden aber weitaus schlimmere Grausamkeiten nachgesagt als Ongwen. Noch dazu sollen sie ihre Frauen und Kinder im Busch zurückgelassen haben. „Die Frauen sehen sie jetzt jeden Tag frei herumlaufen, sehen, wie sie Geld verdienen. Es muss ihnen geradezu so vorkommen, als würden sie dafür bezahlt, sie vergewaltigt zu haben. So können sie keinen Frieden finden“, sagte Atingo. 

Während des Krieges wurde auch der Armee Ugandas vorgeworfen, Frauen in Lagern für Binnenvertriebene zu vergewaltigen – und die Opfer haben keine Anerkennung, Wiedergutmachung oder Hilfe erhalten. „Auch die Regierungssoldaten sind für Gräuel, Vergewaltigungen und Massaker verantwortlich“, sagt Sarah Nka­yimbi vom FJDI. „Darüber legt niemand offen Rechenschaft ab. Die Behörden schweigen einfach darüber.“ Nötig sei ein nationaler Gedenktag für alle Opfer des Krieges als Schritt zur Versöhnung. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die Regierung von Yoweri Museveni, einem ehemaligen Rebellenführer, der die Armee weitgehend straflos davonkommen lässt, diesen Schritt geht.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

This article was originally published by The New Humanitarian, a news agency specialised in reporting humanitarian crises. Read the article in English here. The New Humanitarian is not responsible for the accuracy of the translation.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2021: Die langen Schatten der Gewalt
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