Über den Dächern von Hebron

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Jack Guez/AFP via Getty Images
Überwachung hat in Hebron Tradition: Kameras auf einem Haus, dessen Besitz umstritten ist, im November 2008.
Überwachungstechnologie
Israel erprobt und verbessert seine in alle Welt exportierte Überwachungstechnologie auf dem Rücken der Palästinenser. Das israelische Militär und die Industrie machen dabei gemeinsame Sache.

Drei Überwachungskameras spähen vom Dach des Hauses von Wijdan Ziadeh in Tel Rumeida, einem Viertel von Hebron im besetzten Westjordanland. Alte steinerne Häuser und neue Baracken drängen sich auf dem Hügel, der eine der heiligsten Stätten für Muslime und Juden überblickt. Anfang 2021 erstürmten junge Soldaten der israelischen Armee eine Wendeltreppe, um die Kameras auf ihrem Dach zu installieren. Laut Ziadeh kommen sie alle paar Wochen wieder, um ihr Funktionieren zu überprüfen. Wenn gerade niemand da ist, um ihnen die Haustür zu öffnen, brechen sie einfach das Schloss auf.

Dies ist kein Einzelfall. Ein Netzwerk von Überwachungskameras mit KI-basierter Gesichtserkennung, das die verschlungenen Straßen und Pfade der Stadt überzieht, hat aus Hebron nach den Worten von Israels Koordinator der Regierungstätigkeit in den besetzten Gebieten eine „Smart City“ gemacht. 

Ende 2021 schildert Ziadeh bei einem Kaffee auf den roten Polstersesseln ihres abgedunkelten Wohnzimmers, was das bedeutet. Neue Kameras starren auf ihre Veranda, zeichnen auf, wer zu ihr kommt, verfolgen ihre Wege durch das Viertel und sortieren ihre Familienmitglieder auf der Grundlage von Sicherheitsratings, die das Militär auf Palästinenser im Westjordanland anwendet. Ihre Fotos und ihre biografischen Informationen werden in einer Datenbank namens Blue Wolf gespeichert, auf die Soldaten in Hebron über Smartphones und Tablets Zugriff haben. „Ich fühle mich die ganze Zeit beobachtet, sogar in meinem Schlafzimmer“, sagt sie.

Für Spionage- und Kontroll­technik heute ein führendes Land: In Ostjerusalem bringt ein israelischer Techniker 2019 eine Überwachungskamera an.

Laut der „Washington Post“ wurden die neuen Kameras zusammen mit dem Blue-Wolf-System Ende 2020 installiert. Sie sind ein Beispiel für Israels Bestrebungen, die Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems „reibungslos“ zu gestalten, also sich auf eine automatisierte, oft KI-gestützte Überwachungstechnologie zu stützen, die direkte Interaktionen zwischen israelischen Soldaten und Palästinensern vermindert.

Ein Netz aus Checkpoints, Wachtürmen, Armeestützpunkten und Kameras

Hebron ist seit 1997 in zwei getrennte Zonen geteilt: H1 und H2. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übt begrenzte Kontrolle über die Sicherheit und die zivilen Belange in der Zone H1 aus, die die vier Fünftel der Stadt umfasst und in der 180.000 Palästinenser leben. Israel verfügt über militärische Kontrolle in der Zone H2, zu der der größte Teil der Altstadt Hebrons und der umliegenden Viertel wie Tel Rumeida gehören. In H2, einem heftig umstrittenen Gebiet, leben 33.000 Palästinenser, 750 jüdische Siedler und mehr als 800 israelische Soldaten. 

Zu dem Netz aus Checkpoints, Wachtürmen und Armeestützpunkten in H2 kommen nun noch neue Überwachungssysteme wie biometrische Kameras und das Blue-Wolf-System hinzu. Den Palästinensern wird das grundlegende Recht auf Privatsphäre vorenthalten; sie sind einer allumfassenden Überwachung durch israelische Soldaten ausgesetzt. Dies ermöglicht es Unternehmen, in Zusammenarbeit mit dem israelischen Militär in Orten wie Hebron neue Überwachungstechnologien an palästinensischen Zivilisten zu erproben, bevor sie ins Ausland exportiert werden. Die israelischen Streitkräfte behaupten, dieses neue Netzwerk an Überwachungssystemen sei eine humanitärere Form der militärischen Kontrolle. Palästinenser empfinden es als einen dystopischen Alptraum.

Jahrzehntelang war es die Strategie des Militärs, stets für ein gewisses Maß an „Reibung“ im Westjor­danland und Ostjerusalem zu sorgen, indem die Besatzungssoldaten ihre Präsenz durch ein Netz von Checkpoints, Wachposten, militärischen Sperrgebieten und nächtlichen Razzien spürbar machten. Doch Ende der 2000er Jahre änderten sie ihre Methoden. Fortschritte in der KI-gestützten biometrischen und digitalen Überwachung mit Gesichtserkennung, Cyberspionage und Nummernschildscannern boten diskretere Möglichkeiten.

Bequem und brutal

Israelische Offizielle sagen, die Verbreitung von Überwachungstechnik habe die Bewegungsfreiheit, die Zugangsmöglichkeiten und den Alltag der Palästinenser im gesamten Westjordanland und in Ostjerusalem verbessert. Der damalige israelische Premierminister Naftali Bennett gab dafür die griffige Formel vom „Schrumpfen des Konflikts“ aus. Biometrische Kameras an Checkpoints beschleunigen Grenzübertritte, für die man früher stundenlang anstehen musste. Drohnenaufnahmen sollen es überflüssig machen, dass israelische Soldaten mitten in der Nacht palästinensische Wohnungen für Razzien stürmen. Durch das Anzapfen der Telekommunikation können Geheimdienstmitarbeiter aus der sicheren Entfernung eines Armeestützpunkts Informationen sammeln.

Autorin

Sophia Goodfriend 

promoviert in Anthropologie an der Duke University in den USA. Zurzeit lebt sie in Jerusalem und arbeitet zu Fragen digitaler Rechte und Überwachung in Israel und Palästina. Ihr Beitrag ist zuerst in „Foreign Policy“ erschienen.
Doch die scheinbare Bequemlichkeit, die diese Technologien mit sich bringen, täuscht über ihre brutalen Effekte hinweg. Palästinenser wie Ziadeh haben nun Angst, dass Soldaten in ihre Häuser einbrechen, um die auf ihren Dächern installierten Kameras zu warten. Bewohner aus Hebron berichten, dass Soldaten ihre Kinder auf der Straße anhalten und sie ohne ihre Einwilligung fotografieren. Innovationen in biometrischer Überwachung, digitalem Tracking und automatisierter Datenverarbeitung geben vielen Einwohnern das Gefühl, rund um die Uhr bis in ihre eigenen vier Wände überwacht zu werden.

Diese Überwachungssysteme sind in der Altstadt von Hebron allgegenwärtig, wo israelische Siedler mit Unterstützung israelischer Soldaten in palästinensische Wohngebiete vordringen. Laut Amit Cohen, dem israelischen Leiter der Zivilverwaltung von Hebron, tragen solche Hightech-Überwachungssysteme dazu bei, die Gewaltprobleme in den Griff zu bekommen. Ein „Netzwerk von Sensoren, die das Gebiet in Echtzeit überwachen und ungewöhnliche Aktivitäten melden“, überziehe die Altstadt von Hebron und mache „alle Informationen“ den Soldaten zugänglich, erklärte Cohen gegenüber der israelischen Tageszeitung „Israel HaYom“.

Die Zivilverwaltung in H2 liegt zwar offiziell in den Händen der Palästinensischen Autonomiebehörde, doch die kann den Palästinensern dort wenig Schutz bieten. Israel überwacht seit Jahrzehnten intensiv das Westjordanland, selbst in Gebieten wie Ramallah, die angeblich voll unter Kontrolle der Autonomiebehörde stehen. Die israelischen Soldaten durchkämmen die digitale Kommunikation, hören Telefongespräche ab und bauen biometrische Datenbanken auf, mit deren Hilfe sich die Bewegungen palästinensischer Zivilisten im gesamten Gebiet nachverfolgen lassen. 

Die Palästinensische Autonomiebehörde unterdrückt und überwacht auch

Die PA ist inzwischen allerdings selbst wegen invasiver Überwachungspraktiken in die Kritik geraten. Sie konfisziert Mobiltelefone bei Protestveranstaltungen für Menschenrechte und durchkämmt Accounts der sozialen Medien, um anschließend friedliche Aktivisten zu verhaften. In den vergangenen Jahren haben Kritiker mehrfach darauf hingewiesen, dass die PA ihre Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen mit den israelischen Streitkräften in Hebron und im Westjordanland auch dafür nutzt, eigene Unterdrückung und Maßnahmen zu ihrem Machterhalt outzusourcen. Die PA hat seit 2006 keine Wahlen abgehalten; Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Palästinenser im Westjordanland ihre gegenwärtige politische Führung ablehnt. Ohne eine funktionierende Selbstverwaltung, die auch unter günstigsten Bedingungen der israelischen Militärherrschaft unterstellt bleibt, haben palästinensische Zivilisten keine Möglichkeiten, sich gegen eine invasive Überwachung zur Wehr zu setzen.

Issa Amro, ein von Gewaltfreiheit überzeugter Aktivist, der sein ganzes Leben in Tel Rumeida verbracht hat, sieht gerade in der fehlenden Kontrolle der palästinensischen Zivilisten über diese Systeme einen besonders entmenschlichenden Aspekt des israelischen Überwachungsapparats. „Wir wissen nicht, wie Soldaten diese Informationen nutzen, und wir wissen nicht, worauf sie Zugriff haben oder was sie gegen mich verwenden werden“, sagte er. „Wir haben keinerlei Einfluss auf das System. Wir entscheiden durch keine Wahl, wer es nutzen darf. Wir können vor kein Gericht ziehen, um irgendetwas an den Regularien zu ändern. Weder unsere Kultur noch unser Bedürfnis nach Privatleben finden darin Berücksichtigung.“

Das internationale Recht betrachtet die Privatsphäre als grundlegendes Menschenrecht. Doch laut Gil Gan-Mor, israelischer Anwalt der Gesellschaft für Bürgerrechte in Israel, erstrecken sich die strengen Datenschutzgesetze, die für israelische Bürger gelten, nicht auf Palästinenser, die unter der israelischen Militärherrschaft leben. „Es gibt keine Regularien, wenn es um Überwachung und Privatsphäre geht“, sagt er mit Blick auf das Westjordanland. „Das Problem besteht teilweise darin, dass alles unter dem Radar bleibt, wir wissen nicht einmal, welche Technologien es überhaupt gibt und wo deren Grenzen liegen.“

Versuchskaninchen der globalen Überwachungsindustrie

Amro sagt, Israels Weigerung, den Palästinensern in den besetzten Gebieten ein Recht auf Privatsphäre einzuräumen, habe Orte wie Hebron in Laboratorien der globalen Überwachungsindustrie verwandelt. „Wir sind die Versuchskaninchen für diese Technologie“, sagt er. Ein großer Teil der israelischen Überwachungssysteme stammt aus den besetzten Palästinensergebieten, wo israelische Unternehmen unter dem Schutz des Militärrechts Prototypen testen und Produkte weiterentwickeln. Das hat zu einem Drehtüreffekt zwischen den israelischen Streitkräften und dem Technologiesektor geführt: Vom Militär ausgebildete Ingenieure und Analysten erwerben auf diese Weise profunde technologische Kenntnisse, die ihnen nach dem Ende ihres Militärdienstes in Israels boomender privater Sicherheitsindustrie lukrative Jobs eröffnen. 

Welche Gefahren das für die Zivilgesellschaft rund um den Globus birgt, verdeutlicht das Beispiel des Unternehmens NSO Group Technologies. Seinen Platz auf dem privaten Sicherheitsmarkt sicherte es sich unter anderem durch aggressives Anwerben von Veteranen der israelischen Elite-Spionagedienste, die rasch das Know-how militärischer Überwachung an den privaten Sektor anpassen konnten. Seit 2018 arbeitet das Cyberspionage-Unternehmen eng mit dem israelischen Außenministerium zusammen, das im Rahmen seiner „Spyware-Diplomatie“ Überwachungstechnik ebenso in autokratische Regime wie in liberale Demokratien exportiert. 

Die von der NSO Group entwickelte Spyware Pegasus wurde inzwischen weltweit auf ungefähr 50.000 Telefonen gefunden. Jüngsten Berichten zufolge gibt es auch in den USA Überlegungen, es zu erwerben. Doch nach Warnungen von Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitikern Mitte 2021, dass mit Hilfe dieser Spionagesoftware auch Telefone von Journalisten gehackt wurden, hat das US-Handelsministerium die NSO Group auf eine schwarze Liste gesetzt.

Israelische Technologie für US-amerikanische Strafverfolgungsbehörden

Andere, weniger bekannte israelische Firmen verbreiten ebenfalls von den besetzten Palästinensergebieten aus weltweit ihre Technologien. Das auf Gesichtserkennung spezialisierte israelische Unternehmen Oosto (früher AnyVision) stattete 2019 im Westjordanland Checkpoints mit biometrischen Scannern aus und begann wenige Monate darauf, diese Technologie ins Ausland zu exportieren. Sie wird inzwischen von 43 Ländern im Eingangsbereich von Einkaufszentren, Sportstadien und Bürogebäuden genutzt. Das israelische Spionageunternehmen Cellebrite hat für die israelische Polizei Pionierarbeit bei der Überwindung der Zugangssperren von iPhones geleistet. Seine Datenschnüffel-Technologie ist inzwischen bei Strafverfolgungsbehörden in den gesamten USA im Einsatz.

Die Erfolgsprodukte der israelischen Überwachungsindustrie beeinträchtigen inzwischen allerdings auch die Rechte israelischer Zivilisten. Anfang 2022 berichtete die israelische Presse, die israelische Polizei setze schon seit acht Jahren die Pegasus-Spyware der NSO Group insgeheim und ohne Durchsuchungsbeschluss gegen die eigene Bevölkerung ein. Die Enthüllungen offenbarten das Ausmaß, in dem Israels politisches Establishment sich mit den privaten Überwachungsunternehmen zusammengetan hat. Anstatt die Tätigkeit der NSO Group gesetzlich zu regulieren, erleichtert die Regierung seine Expansion in den zivilen Bereich des eigenen Landes und der ganzen Welt. 

Inzwischen wird zunehmend kontrovers über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Spionageprogrammen der NSO Group gegen israelische Bürger diskutiert. Während die Politik insgesamt die Verwendung invasiver Überwachungstechnik zu legalisieren versucht, verlangen israelische Anwälte und einzelne Abgeordnete Schutzvorkehrungen gegen ihren Missbrauch. Doch ganz gleich, wie Israel auf die jüngsten Enthüllungen über die NSO Group letztlich reagieren wird: Auf die Entwicklung und Anwendung ähnlicher Technologien in den besetzten Palästinensergebieten wird das keinen Einfluss haben. Palästinensische Zivilisten unter dem Besatzungsregime, denen grundlegende staatsbürgerliche und politische Rechte vorenthalten bleiben, sind von diesen Debatten ausgeschlossen.

Hohes Innovationstempo

Im August 2021 haben Experten der Vereinten Nationen ein Moratorium für den Verkauf und die Weitergabe von KI-gestützter Überwachungstechnologie gefordert. Menschenrechtsaktivisten erhoffen sich davon, dass die Entwicklung neuer Technologien von Spyware bis zu biometrischen Erkennungsgeräten so lange auf Eis gelegt wird, bis umfassende und wirksame internationale Regelungen über ihren Verkauf und ihre Anwendung etabliert sind.

Allerdings ist kaum zu erwarten, dass sich Israel auf diesem Feld irgendwelchen internationalen Bestimmungen unterwerfen wird. Der palästinensische Aktivist für digitale Rechte Nadim Nashif glaubt dennoch, dass ein von der UN beschlossenes Moratorium die Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten privater israelischer Firmen in den besetzten palästinensischen Territorien einschränken würde. „Die Unternehmen, die hier operieren, haben stets den globalen Markt im Blick“, sagt er. „Aber wenn die Nachfrage nach ihren Produkten sinkt, dann lässt zumindest der Antrieb nach, dieses schädliche Tun fortzusetzen.“

Die Auswirkungen der Überwachung in Hebron sind ein Alarmzeichen. Denn Regierungen in aller Welt rufen laut nach immer mehr invasiven Technologien, und der private Markt befriedigt ihre Nachfrage. Die Innovationen in der KI-gestützten Überwachung entwickeln sich so rasch, dass Gesetze zur Regulierung nicht hinterherkommen. Der privaten Industrie Zügel anzulegen, ist ein kleiner, aber unverzichtbarer Schritt, wenn man den Missbrauch neuer Technologien verhindern will – in Palästina und anderswo.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2022: Schlaue Maschinen
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