Wo Google die Höhe der Fluten voraussagt

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Rafiqul Islam Montu
Die Frauengruppe des Dorfes Bera in Bangladesch tauscht sich über den Umgang mit dem Frühwarnsystem aus.
Fühwarnsystem in Bangladesch
Bangladesch liegt nur knapp über dem Meeresspiegel, Überschwemmungen gehören zum Alltag. Ein mit Hilfe künstlicher Intelligenz entwickeltes ­Frühwarnsystem hilft den Menschen, sich und ihren Besitz besser vor 
den Wassermassen zu schützen.

Anwar Hossain ist besorgt, als er im August 2022 auf die Wolken blickt, die sich im Westen zusammenbrauen. Er fürchtet, dass heftige Winde und Regenfälle aufkommen und dass der Fluss anschwillt. Dann könnte der Reisbauer seine Ernte nicht einbringen. Träte der Fluss gar vollends über die Ufer, würde die Ernte überdies zerstört. Seiner Familie stünde ein hartes Jahr bevor. Doch Hossains Sohn Omar Farooq kann den Vater beruhigen, indem er mit seiner Google-App auf dem Handy die Hochwassersituation checkt. Dort heißt es: Der Wasserpegel des Flusses wird steigen, aber erst nach weiteren vier bis fünf Regentagen. Bis dahin bleibt Zeit, den Reis auf den Feldern zu schneiden. Genau das tut die Familie und wendet damit großen Schaden ab.

Hossain lebt in Dighalkandi, einem Dorf auf einer Insel inmitten des Jamuna-Flusses im nordbengalischen Distrikt Gaibandha. Alle hier leben vom Reisanbau und alle fürchten den Monsun und seine Fluten. Bis 2020 schützten sich die Dorfbewohner allein mit dem Wissen ihrer Vorfahren vor den Fluten, berichtet Zitaul Haque Molla, der ebenfalls im Dorf wohnt. Ein Blick in den Himmel verriet ihnen, wo sich Wolken zusammenbrauten und aus welcher Richtung der Wind blies. „Wenn ein weißer Storch über die Felder flog, haben wir schnell Schutz gesucht, denn fliegende weiße Störche sind oft Vorboten schwerer Stürme.“

Wenn die Wolken von Westen nach Norden zogen, hätten die Menschen wiederum gewusst, dass das Wasser des Flusses ansteigen würde – und hätten Schutzvorkehrungen getroffen. Immer wieder aber kam es dann doch anders als erwartet und die Menschen verloren Hab und Gut oder sogar ihr Leben in den Fluten. „Nie hätten wir gedacht, dass wir eines Tages Flutwarnungen über Radio, Fernsehen oder Handy erhalten würden“, erinnert sich Zitaul. „Diese Warnungen helfen uns sehr, den Schaden durch Fluten zu begrenzen.“ 

„Heute kann mich vorbereiten“

Halima Begum baut in Dighalkandi verschiedene Feldfrüchte an und hält ein wenig Vieh. Ihre Familie lebt in ihrem kleinen, zum Schutz vor Fluten um 1,80 Meter erhöhten Haus vor allem von den Erträgen des Landes und der Kühe. „Früher bekamen abgelegene Dörfer wie unseres keine Flutwarnungen. Heute empfange ich über mein Mobiltelefon ein bis zwei Wochen vor möglichen Überflutungen Warnmeldungen und kann mich vorbereiten.“

Biplabi Begum zeigt, wie hoch ihr Haus im Dorf Bera in der jüngsten Flut unter Wasser stand.

Nicht nur Inseldörfer wie Dighalkandi werden regelmäßig von Hochwasser heimgesucht, auch viele Dörfer auf dem Festland sind in den nördlichen Distrikten Bangladeschs Jahr für Jahr betroffen. Dort helfen mit Hilfe künstlicher Intelligenz über mobile Geräte übertragene Flutwarnungen mittlerweile vielen Menschen, die Schäden in Grenzen zu halten. Diejenigen, die ein Smartphone besitzen, bekommen die Warnungen direkt von Google, die anderen bekommen sie als SMS. Sobald einige Menschen im Dorf alarmiert sind, verbreitet sich die Nachricht schnell im ganzen Dorf. 

Autor

Rafiqul Islam Montu

ist freier Journalist in Bangladesch. Er befasst sich vor allem mit Umweltthemen.
Auch im Dorf Bera, ebenfalls im Distrikt Gaibandha, hilft das Warnsystem, den Alltag angesichts der Fluten sicherer zu machen. So bringen die Einwohner ihre Ernten wenn nötig früher ein als geplant und haben nach einer rechtzeitigen Warnung noch Zeit, sich auf dem Dach ihres Hauses oder auch in einer höher gelegenen Schule für die Zeit der Überflutung eine Kochstelle einzurichten. 

Die bangladeschischen Behörden liefern der KI Messwerte

Die Regierung von Bangladesch startete das digitale Flutwarnsystem im Oktober 2021 unter der Aufsicht des Ministeriums für Wasserwirtschaft und der Behörde für Wasserentwicklung. Dessen Abteilung für Flutvorhersage und -warnungen arbeitet mit Daten von Google. Das Unternehmen gewinnt diese Daten mit Hilfe eines Programms für maschinelles Lernen. Die Software verarbeitet dabei verschiedene Messwerte, die die bangladeschischen Behörden zur Verfügung stellen. So gleicht sie beispielsweise Wasserstand oder Strömungsgeschwindigkeit an verschiedenen Stellen des Flusses mit dessen flächenmäßiger Ausbreitung ab. 

Jedes Jahr gibt es im Norden von Bangladesch Fluten; dieses Jahr waren sie hier in der Region Sylhet besonders schwer.

Auf Basis dieser Vergleichsdaten kann die künstliche Intelligenz beispielsweise berechnen, wie der gesamte Wasserstand des Flusses steigen oder sinken wird, je nachdem wie an bestimmten Stellen der Pegelstand oder auch die Strömungsstärke ist. Auch der Druck und die Ausbreitung der Wassermassen in der Folgezeit lassen sich so mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen. Diese Informationen finden sich dann – grafisch aufgearbeitet – auch in der App Google Maps wieder. Die Menschen im Distrikt Gaibandha können dort sehen, wie sich die Wasserstände entwickeln. Gleichzeitig alarmiert eine Warnmeldung so früh wie möglich – das kann drei Tage, aber auch drei Stunden vorher sein – vor einer anstehenden Flut. Die Firma betont, dass ihre Flutwarnungen seit Mai/Juni 2020 bis heute über 40 Millionen Menschen in Bangladesch mit Flutdaten versorgt hätten. 

Mit Hilfe von Google Maps immer auf dem neuesten Stand

Das bangladeschische Zentrum für Flutvorhersage und -warnungen betont, dass der Google-Flut­alarm für die Bevölkerung technisch gut zugänglich sei. Laut Google nutzen verschiedene ostasiatische Staaten, darunter Indien, die Technologie bereits seit einigen Jahren. Deshalb seien heute Informationen zu Überflutungsgebieten, zum Auf und Ab des Wasserstandes und zum Ausmaß der Wassermassen allgemein zugänglich. Mit Hilfe von Google Maps würden die Szenarien immer auf dem neuesten Stand präsentiert. Eine Google-Suche bietet dazu weitere Informationen und auch Ratschläge, etwa zu Schutzmaßnahmen oder zur Ernte. 

Zu sehen sind auch die Gebiete, die von der Flut betroffen sind, und die annähernde Wassertiefe dort, außerdem Kontaktnummern für Notfalldienste sowie wichtige Adressen. Auch arme oder benachteiligte Menschen bekommen diese Warnnachrichten, wenn sie die Suchdienste von Google nutzen, denn Google kooperiert dabei mit der bangladeschischen Regierung. Inzwischen erreicht der Google-Flutalarm (Google Flood Alert) die Bevölkerung aller 55 Distrikte des Landes. 

Arifuzzaman Bhuiyan, leitender Ingenieur des nationalen Flutvorhersage- und -warnzentrums, sagt: „Um den Google-Flutalarm zu empfangen, aktiviert man zunächst den GPS-Standort auf dem Handy. Dazu schreibt man den Namen des jeweiligen Distrikts in die Suchmaske, dahinter eine Leertaste und das Wort ,Flut‘. Dann bekommt man zwei Mal täglich aktualisierte Vorhersagen beziehungsweise Informationen darüber, wie weit die Wassermassen schon vorgedrungen sind, wann sie ein gefährliches Ausmaß erreichen könnten und wann die Region voraussichtlich komplett unter Wasser steht. Auf Google Maps kann die Nutzerin oder der Nutzer live verfolgen, wie sich die Wassermassen ausbreiten.“

Flutwarnungen per Smartphone oder SMS

Die Regierung und nichtstaatliche Organisationen arbeiten daran, mit derlei automatisierten Warnmechanismen auch Menschen am Rande der Gesellschaft zu erreichen und die Warn-App zu propagieren. So versuchen sie, über gezielte Kampagnen das öffentliche Bewusstsein über Möglichkeiten der Vorwarnung vor Überschwemmungen zu schärfen, so dass sich die Bevölkerung besser dagegen vorsehen kann.

Freiwillige des Roten Halbmonds in Bangladesch etwa organisieren örtliche Zusammenkünfte mit jungen Leuten und zeigen ihnen dann, wie sie technisch vorgehen müssen, um das Google-Flutwarnsystem zu nutzen. Für diejenigen, die kein Smartphone besitzen, gibt es auch die Möglichkeit, sich per SMS informieren zu lassen. Manchmal gehen die Freiwilligen auch selbst von Ort zu Ort, um die Meldungen weiter zu verbreiten.

Infolge des Klimawandels sind die Überschwemmungen heftiger geworden. Die Menschen in den Hochwassergebieten verlieren Jahr für Jahr vieles von ihrem Hab und Gut. Ein Alarmsystem mit Warnbotschaften kann die Resilienz steigern und Schäden und Verluste reduzieren. Das hat auch die nichtstaatliche Wohlfahrtsstiftung SKS Bangladesch im Sinn, deren Ehrenamtler in den nordbengalischen Distrikten Gaibandha und Bogra die Flutwarnmeldungen, die für jede und jeden über Google beziehungsweise über Handy zugänglich sind, auch über das Radio verbreiten. 

Informierte Frauen tragen ihr Wissen weiter

Bei einem Treffen der Frauengruppe im Dorf Bera im Gaibandha Distrikt sitzen 27 Frauen auf dem Spielplatz vor der städtischen Grundschule. SKS-Mitarbeitende beraten die Frauen, wie sie Überschwemmungsschäden vorbeugen können. Dieses Wissen tragen die Frauen zu weiteren Familien im Dorf. Auf diese Art sollen sich die Dörfer langsam, aber sicher besser auf Überschwemmungen einstellen. 

Biplabi Begum, Ehefrau von Abubakar aus dem Dorf Bera, ist auch bei dem Treffen dabei. Sie sagt: „Wir haben schon viel Eigentum verloren, weil wir von Überschwemmungen überrascht worden sind. Jetzt können wir unsere Ernten, unser Vieh und unsere Haushaltsgegenstände rechtzeitig in Sicherheit bringen, denn oft kommen die Warnungen schon eine Woche im Voraus.“ Früher dagegen hätten viele Familien durch plötzlich hereinbrechende Fluten ihren Besitz komplett verloren. 

Rowshan Alam, der am Projekt „Erhöhung der Sicherheit in Bangladesch durch Überschwemmungsprognosen und Schutzmaßnahmen“ mitarbeitet, fügt hinzu: „Durch die Vorabwarnungen können sich die Menschen in den Überflutungsgebieten nun viel besser auf die Wassermassen vorbereiten als früher. Sie können beispielsweise alte Leute und Kinder rechtzeitig an einen sicheren Ort bringen und ihre Haushaltsgegenstände sichern.“ 

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2022: Schlaue Maschinen
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