Fachleute fürchten „ethnische Säuberung“ 

AFP via Getty Images/TOFIK BABAYEV
Aserbaidschanische Soldaten stehen an einem Kontrollpunkt am Lachin-Korridor, der einzigen Landverbindung zwischen der armenisch besiedelten abtrünnigen Region Berg-Karabach und Armenien, Wache.
Bergkarabach
Aserbaidschan blockiert seit Ende letzten Jahres die einzige Verbindung der armenischen Enklave Bergkarabach nach Armenien. Kirchen und Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm und fordern mehr internationales Engagement. 

Es bahne sich eine „humanitäre Katastrophe von historischem Ausmaß“ an, die für die „Vernichtung des armenischen Volkes in Arzach“ geplant worden sei, schreibt Katholikos Aram I., eines der beiden Oberhäupter der armenisch-apostolischen Kirche, am 16. Dezember in einer Stellungnahme. „Arzach“ ist die armenische Bezeichnung für Bergkarabach, das seit Jahrhunderten zum allergrößten Teil von Armenierinnen und Armenier besiedelt ist und sich 1991 zum eigenen Staat erklärt hat, der international nicht anerkannt wird. Völkerrechtlich gehört es zu Armeniens Nachbar Aserbaidschan; das geht auf Entscheidungen der UdSSR in den 1920er Jahren zurück.

Um Bergkarabach hat es wiederholt Kriege zwischen den beiden Ländern gegeben, zuletzt im Herbst 2020. Der 44-Tage-Krieg forderte nach russischen Angaben rund 4000 Tote, davon mehr als 2300 armenische Soldaten. Russland verpflichtete sich damals im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens, mit rund 2000 Soldaten dafür zu sorgen, dass die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien für die mehr als 100.000 Bergkarabach-Armenier offenbleibt.

Eben dieser Latschin-Korridor wird nun seit dem 12. Dezember 2022 von Aserbaidschan blockiert. Nach aserbaidschanischen Angaben seien es Umweltaktivisten, die mit ihrer Blockade die Einhaltung von Umweltstandards im Bergbau in dieser Gegend einfordern. Dass diese Aktivisten enge Verbindungen zur Regierung in Baku haben und zudem von aserischen Sicherheitskräften unterstützt werden, ist international unbestritten. Seither sind die Menschen in Bergkarabach von allen Lieferungen an Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten. Aserbaidschan hatte anfangs auch die Gaslieferungen eingestellt. 

Angst der Armenier vor einem Genozid

Papst Franziskus hat wenige Tag vor Weihnachten das Thema aufgegriffen und vor einer „prekären humanitären Lage der Bevölkerung in Bergkarabach“ gewarnt. Stärkere Worte wählen der Ökumenische Rat der Kirchen und die Konferenz Europäischer Kirchen in einem gemeinsamen Brief an den EU-Beauftragen für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell: „Aserbaidschan schafft absichtlich eine humanitäre Notlage für die armenische Bevölkerung von Arzach und versucht, die ethnischen Armenier zu terrorisieren, damit sie ihre alte Heimat verlassen.“ Die Ängste der Armenier vor einem erneuten Genozid könnten nicht weggeredet werden, heißt es in dem Brief vom 19. Dezember.

Noch einen Schritt weiter geht eine internationale Gruppe von Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Hilfswerken, die am 21. Dezember eine gemeinsame „Genozid-Warnung für die Bevölkerung von Arzach“ veröffentlicht hat. Es seien alle 14 Faktoren vorhanden, die von den Vereinten Nationen als Anzeichen für Grausamkeitsverbrechen genannt werden, heißt es in der Warnung. Kurz vor Weihnachten hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Aserbaidschan aufgerufen, den Latschin-Korridor wenigstens für kranke und notleidende Armenierinnen und Armenier freizugeben. 

Situation in Bergkarabach wird durch Blockade "katastrophal"

Die humanitäre Situation in Bergkarabach „wird durch die Blockade katastrophal“, sagt Caroline Kruckow, Referentin für Frieden und Entwicklung bei Brot für die Welt, die sich seit mehr als 25 Jahren mit der Kaukasusregion befasst. Auch Kruckow sieht in dem Vorgehen Aserbaidschans die Absicht einer ethnischen Säuberung – als Druckmittel auf die armenische Regierung, um die weitergehenden Forderungen Aserbaidschans durchzusetzen. Die internationale Gemeinschaft müsse das verhindern. „Die russischen Schutztruppen sorgen nicht wirklich für Sicherheit“, sagt Kruckow. Aserbaidschan nutze, dass der Ukrainekrieg die internationale Aufmerksamkeit binde. 

Kenner der Region beobachten die Blockade des Latschin-Korridors nicht nur aus humanitären, sondern auch aus geopolitischen Gründen mit großer Sorge. Seit längerem fordert Baku einen eigenen Korridor über armenisches Kernland zur aserischen Exklave Nachitschewan; dies ist ein autonomer Teil Aserbaidschans zwischen Armenien und dem Iran mit einem kleinen Grenzabschnitt zur Türkei. Der sogenannte Sangesur-Korridor würde Aserbaidschan auf dem Landweg direkt an den Verbündeten Türkei anschließen. Daran hätte nicht nur Istanbul Interesse, sondern mittlerweile auch Russland, denn über einen solchen Korridor ließen sich Waffen aus der Türkei am internationalen Embargo vorbei nach Russland bringen. „Die Bergkarabach-Armenier sind jetzt das Faustpfand, mit dem Aserbaidschan offenbar Armenien erpressen will, damit es Zugeständnisse in der Frage des Sangesur-Korridors macht“, sagt Kruckow. 

Das sieht auch Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik so. „Russland ist in dem Bergkarabach-Konflikt nicht neutral“, sagt der Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie, der bis 2021 Direktor des Südkaukasus-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis war. Die EU müsse sich stärker im Kaukasus engagieren. Es brauche auch „robustere Elemente“, denkbar seien EU-Friedenstruppen oder sogar die Einrichtung eines internationalen Protektorats in der Region. Dass Aserbaidschan die Bergkarabach-Armenier vertreiben will, sieht auch Meister so. 

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erschienen in Ausgabe 1 / 2023: Im Protest vereint
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