Die Hirten und das Kapital

Ein Hirte vom Volk der Fulani steht in einer wüstenartigen Landschaft in Mali vor einer Herde magerer Kühe. Er trägt ein einfarbiges Gewand und ein Tuch als Kopfschutz gegen die Sonne.
Michele Cattani/AFP via Getty Images
Ein Hirte vom Volk der Fulani in Mali treibt seine Kühe auf die Weide.
Viehhaltung im Sahel
In der herkömmlichen Tierhaltung in Sahelländern ziehen Hirtenfamilien in Trockengebieten mit ihrem Vieh von Weide zu Weide. Aber reiche Hirten gehen zu kapitalistischer Viehwirtschaft über und möchten Land privatisieren.

Weidende Tiere im grünen Gras der Regenzeit und ein Hirte, der über die Weide spaziert und nicht zu arbeiten scheint, sondern seinen Herden zuschaut – diese Szene, die ich 1988 in Mali beobachtet habe, konnte den Eindruck einer friedfertigen Schäferidylle erwecken. Das ist nicht falsch, aber unvollständig. Tatsächlich arbeitete der Hirte; er überwachte nicht jedes einzelne Tier, sondern die Gesamtheit der Herde und griff erst bei einer Störung ein. Interessant war auch: Der Hirte war nicht bewaffnet; die Hütearbeit fand in einem politischen Rahmen statt, der vor Gewalt schützte. Dafür sorgten 1988 der malische Staat unter Präsident Moussa Traoré und die Häuptlingsgruppe der Kal-Adagh Tuareg, die Polizeiaufgaben übernahmen; der Staat hatte ihr zu diesem Zweck einige Karabiner überlassen. 

Meine Erfahrungen mit der Sahara-Sahel-Region reichen bis in die 1970er Jahre zurück, als ich in einem Projekt der integrierten ländlichen Entwicklung gearbeitet habe. Danach habe ich an Forschung teilgenommen, die den Arbeitsbegriff bei drei pastoralen Gruppen verglich: den Kawahla im Sudan, den Kel-Ewey im Niger und den Kal-Adagh im Norden Malis. Die Kawahla züchteten ihre Tiere vor allem zur Fleischproduktion, die Kel-Ewey vor allem als Tragtiere für Karawanen und die Kal-Adagh vor allem zur Milchproduktion. Die unterschiedlichen Ziele hatten Auswirkungen auf die Arbeit und die Art der Tierhaltung. Allerdings war den drei Gruppen gemeinsam, dass die Produktion und insgesamt das wirtschaftliche Handeln auf den Haushalt ausgerichtet war und im Haushalt organisiert wurde, auch wenn es Kooperation mit anderen viehhaltenden Haushalten gab. Diese Art des Wirtschaftens nennt die Anthropologie Familienwirtschaft oder häusliche Produktionsweise.

In Dürrezeiten kauften Großhändler die abgemagerten Tiere auf

Schon während der Dürren der 1970er und 1980er Jahre im Sahel investierten aber Großhändler in die Ökonomie der Hirten. Verarmte Viehhalter verkauften damals viele ihrer abgemagerten Tiere, das große Angebot ließ die Preise auf ein Zehntel des üblichen Wertes fallen. Die Händler kauften die Tiere auf, ließen sie jedoch bei ihren ursprünglichen Besitzern; fiel die nächste Regenzeit gut aus, konnten die Tiere wieder zum ursprünglichen Preis verkauft werden. 

Das war Spekulation auf ein Naturereignis, nämlich Regen. Selbst bei einem Verlust von vier Fünfteln der Tiere konnten nach einer guten Regenzeit mit dem verbleibenden Fünftel Gewinne von 100 Prozent oder mehr erzielt werden. Das Besondere an diesem Spekulationskapitalismus war, dass Investitionen in die pastorale Produktion nur dann getätigt wurden, wenn hohe Gewinne in Aussicht standen, vornehmlich also in Krisenzeiten. Sanken die Gewinnaussichten, wurde das Kapital wieder abgezogen. Die vorwiegend häusliche Produktionsweise der Hirten war also zeitweilig verflochten mit Spekulationskapital von außerhalb. 

Autor

Georg Klute

ist emeritierter Professor für Sozialanthropologie und Ethnologie Afrikas an der Universität Bayreuth und Vorstandsvorsitzender des Vereins TAMAT, der Projekte zur Selbsthilfe in der Sahelzone unterstützt.

Dieses Muster änderte sich grundlegend ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Nach Ende der Rebellionen der Tuareg in Mali und im Niger 1996 begannen auch Mitglieder von Hirtengemeinschaften in der Sahara-Sahel-Region selbst – Araber, Tuareg, Fulbe und Tubu –, nennenswert in die pastorale Ökonomie zu investieren. Die Programme zur Integration der Ex-Rebellen in die Streitkräfte, den öffentlichen Dienst oder das zivile Leben waren mit vergleichsweise großen Summen ausgestattet, von denen vor allem die Anführer der verschiedenen Rebellengruppen profitierten. Ein Teil dieser Friedensdividenden wurde in die pastorale Ökonomie investiert und ebenso bis heute Gewinne aus dem grenzüberschreitenden Handel und Transport, die großenteils in den Händen von Mitgliedern pastoraler Gruppen sind und enorme Gewinne abwerfen.

Lohnhirten, Tankwagen und solarbetriebene Pumpen

Ähnlich wie die Spekulationskapitalisten lassen auch einige der Investoren aus Hirtengesellschaften die gekauften Tiere bei ihren ehemaligen Besitzern. Andere rekrutieren aber Lohnhirten, vorzugsweise unter Migranten. In solchen Fällen handelt es sich also nicht mehr um häusliche Produktionsweise oder Spekulationskapital, sondern um einen kapitalistischen Viehhaltungsbetrieb. 

Dies wirft zunächst die Frage nach Veränderungen im Mensch-Tier-Verhältnis auf. Während der Hirte in einer häuslichen Familienwirtschaft mit den Tieren vertraut ist, mit ihnen aufwächst, mit ihnen spielt und sie dann betreut, mag ein Lohnhirte den Tieren seines Arbeitgebers stark entfremdet sein. Wird er sie deshalb nachlässig behandeln oder so sorgsam, als wären es seine eigenen?

Ein weiterer Unterschied zum Spekulationskapital ist, dass die Investitionen seit Mitte der 1990er Jahre nicht Krisensituationen spekulativ ausnutzen, sondern auf Dauer angelegt sind. Sie sollen nicht über Kauf und schnellen Verkauf Geld bringen, sondern die Reproduktionsfähigkeit der Tiere langfristig zur Kapitalvermehrung nutzen. Daher wird heute in alle Bereiche der pastoralen Produktion investiert: Es werden künstliche Teiche angelegt oder Tankwagen zum Tränken eingesetzt; es werden Tiefbrunnen gebohrt und mit solarbetriebenen Pumpen ausgestattet; Motorräder und Telefone werden zum Hüten und Suchen verlorener Tiere genutzt; Tierfutter wird gekauft oder selbst angebaut. 

Die Hirten-Investoren wollen exklusiven Zugriff auf Land und Weiden

Eine der wichtigsten Veränderungen ist jedoch, dass die neuen Hirten-Investoren versuchen, exklusiven Zugriff auf Land und Weiden zu erhalten. Das Bodenrecht in der Sahara-Sahel-Region ist plural und komplex. Verschiedene Versuche, traditionelle Zugangsrechte zu Land zu kodifizieren und damit rechtlich abzusichern, haben die Lage eher kompliziert. De facto jedoch wird Land heute ge- und verkauft, als gelte ein Privateigentum an Grund und Boden.

Hier kommen natürlich nur die zum Zuge, die über genug Kapital verfügen wie Ex-Rebellenführer, Politiker und Vieh-Großhändler. Land wird eingezäunt, Tiefbrunnen werden gegraben, der Zugang zu Weide und Wasser auf die eigene Herde beschränkt. Zwar hat zum Beispiel die Regierung des Niger erkannt, dass mit der faktischen Privatisierung von Land Gefahren für kleine Familienbetriebe verbunden sind. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die Entwicklung von der häuslichen zur kapitalistischen Produktionsweise auf Dauer aufgehalten werden kann.

In Nordmali stoppen Islamisten die Privatisierung

In Nordmali allerdings, in der Region Kidal, gibt es einen bemerkenswerten Versuch, die Entwicklung hin zu Privateigentum an Boden und zu einer kapitalistischen Produktionsweise zu stoppen. Dort hat zwar der malische Staat, unterstützt vom russischen Afrikakorps (ehemals Gruppe Wagner), den Hauptort Kidal und die übrigen Ortschaften Ende 2023 von Tuareg-Rebellen zurückerobert, aber das Land außerhalb der Städte kontrolliert die Al-Qaida nahestehende „Vereinigung zur Förderung des Islam und der Muslime“ (Jama’at Nusrat al-Islam wal-Muslimin, JNIM). Sie übt staatliche Funktionen aus: Sie zieht Steuern ein, erhebt Durchgangszölle für den Handel sowie Lizenzen zum Goldabbau, kontrolliert den Ex- und Import aus Algerien, organisiert das Schul- und das Gesundheitswesen und hat ein Rechtssystem nach der Schari’a aufgebaut.

Dazu hat JNIM die Region in Bezirke gegliedert, die von Komitees geführt werden. Die Gliederung ist nicht willkürlich, sondern folgt einer pastoralen Logik: Ein Bezirk umfasst einen Hauptbrunnen, die dazu gehörigen Weiden und die dazu gehörenden Menschen. Und JNIM widersetzt sich allen Versuchen von reichen Viehbesitzern, Allmende-Weiden zu privatisieren, wie das in anderen Teilen der Sahara-Sahel-Region vermehrt geschieht. Die Absicht dahinter scheint zu sein, mit den Weiden und den Brunnen eines Bezirks die Herrschaft der JNIM auch materiell abzusichern.

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