„Wir wollen einen Ort, wo wir frei atmen können“

Seitliches Porträt einer 50-jährigen Afrikanerin in grauem Blazer, mit Sonnenbrille, an einen rostbraunen Pfeiler gelehnt; im Hintergrund eine Mauer und wenige Pflanzen.
Sofi Lundin
Caroline Omolo leitet eine Gemeinde in Kenia, in der queere Menschen ein spirituelles Zuhause finden.
LGBTQ in Kenia
In Kenia, wo queer und christlich sein oft als Widerspruch in sich gilt, sorgt Pastor*in Caroline Omolo im Verborgenen für Gemeinschaft, Akzeptanz und spirituelle Heilung.

Unweit des Stadtzentrums von Nairobi führt in einem mehrgeschossigen Fabrikgebäude aus Beton, das zweckmäßig und einigermaßen heruntergekommen aussieht, eine enge ­Treppe in Regenbogenfarben hinauf in den obersten Stock. Am Eingang zum Gebetsraum flattert stolz eine Regenbogenfahne, darauf die klaren Worte: „Hier ist jeder Mensch willkommen.“

Drinnen füllt sich der Raum langsam. Der Boden ist gefliest, die Wände sind mit Regenbogenflaggen und Affirmationen wie „Happy Pride“ geschmückt. Einige  Menschen sitzen still da; andere halten sich umschlungen. Junge Männer in frisch gebügelten Hemden und glänzenden Schuhen begrüßen sich mit langen, herzlichen Umarmungen. Aus einem Lautsprecher in der Ecke tönt leise Musik. Es ist Sonntag, und das hier ist nicht irgendein Gottesdienst – es ist eine Zuflucht für all jene, die von den meisten Kirchen in Kenia abgewiesen wurden. Es ist eine Kirche für queere Gläubige. 

Im Zentrum steht Pastor*in Caroline Omolo, die zur LGBTQ+-Community gehört und offen über ihre non-binäre Identität spricht. „Die meisten gläubigen sexuellen Minderheiten haben Ablehnung erfahren“, sagt Omolo. „Wir wollten einen Ort, wo wir frei atmen, glauben und uns zugehörig fühlen können.“

„Auch wenn wir voller Furcht waren, wir wollten Gott“

Zusammen mit anderen gründete Omolo im Jahr 2013 diese Kirche, eine unabhängige, inklusive, LGBTQ+ bejahende Gemeinde, die keiner festen Lehrmeinung oder traditionellen Glaubensstruktur folgt. Stattdessen mischen sich hier Elemente aus verschiedenen christlichen Traditionen; der Schwerpunkt liegt jedoch auf Gemeinschaft, Akzeptanz und spiritueller Heilung. Damals wurde die Region durch das in Uganda beschlossene brutale Antihomosexualitäts­gesetz erschüttert, und viele queere Menschen flohen von dort nach Kenia. „Die Menschen brauchten Obdach, Nahrung, Gemeinschaft – aber auch den Glauben“, erinnert sich Omolo. „Auch wenn wir voller Furcht waren, wir wollten Gott.“

Am Anfang kamen nur wenige verunsicherte Menschen zum Gottesdienst, der bis heute an einem geheimen Ort stattfand. „Wir trauten uns nicht einmal zu beten“, sagt Omolo. „Unser ganzes Leben lang hatte man uns erzählt, was für Abscheulichkeiten wir sind. Und dass Gott uns nicht will.“ Es brauchte Zeit und Orientierung durch einen weiteren bejahenden Pastor (der anonym bleiben möchte), ehe sie anfingen, sich die Bibel, das Gebet und ein Gefühl spiritueller Zugehörigkeit zurückzuerobern. „Wir mussten lernen, dass nicht die Bibel uns abgelehnt hatte“, sagt Omolo, „sondern Menschen.“

Seit ihrer Gründung ist die Kirche mehrfach umgezogen – vertrieben von Vermietern, Nachbarn und Drohungen. „Einmal hieß es, wir könnten nicht mehr zusammenkommen, weil wir zu laut seien“, erinnert sich Omolo. „Ein anderes Mal waren wir angeblich ‚Kriminelle‘. Man sagte uns: ‚Ihr könnt hier keinen Gottesdienst abhalten, wenn Homosexuelle dabei sind‘.“

Spirituelle Freiheit – aller Verfolgung zum Trotz

Die Verfolgung hat seither nicht abgenommen. Aber sie hat die Theologie dieser Kirche geformt: eine, die in Resilienz, selbst gewählter Familie und dem Recht auf spirituelle Freiheit wurzelt. „Wir queere Menschen haben uns immer selbst geschaffen, was die Welt uns verwehrt“, erklärt Omolo, „unser eigenes Zuhause, unsere eigenen Familien, unsere eigenen Kirchen.“

Autorin

Sofi Lundin

ist freie Journalistin und Fotografin in Uganda.

Obwohl die meisten Mitglieder sich als queer verstehen, ist die Gemeinde auch für Verbündete offen – Freund*innen, Partner*innen und Familienangehörige, die die Gemeinschaft unterstützen. Der Schwerpunkt liegt auf der Schaffung einer sicheren und liebevollen Umgebung für alle, die die inklusiven Werte der Kirche teilen.

Bei den Zusammenkünften mischen sich Gottesdienst und Zeugnis. Während an einem Sonntag Schriftlesung und Predigt im Mittelpunkt stehen, kommt an einem anderen vielleicht eine Therapeut*in, die über Trauma und seelische Gesundheit spricht. An besonderen Tagen wird gemeinsam gegessen oder auch gewandert. „Wir glauben an ganzheitliche Heilung“, sagt Omolo. „Spirituell, emotional, praktisch.“ Die Bibel wird dabei nicht gemieden, sondern intensiv und mit einem gewissen Trotz studiert. „Wir lesen genau die Geschichten, die andere benutzt haben, um uns zu verletzen“, sagt die Pastor*in. „Wir stellen neue Fragen. Was ist in Sodom wirklich passiert? Wer wurde ausgeschlossen? Was sagt Jesus wirklich?“

In der selbst gewählte Familie kümmert man sich umeinander

Sich heilige Texte wieder zu eigen zu machen und die lange zum Schweigen verurteilte Stimme zu erheben, hat viele verwandelt. „Menschen, die früher nicht gewagt haben, die Bibel auch nur anzurühren, predigen jetzt aus ihr“, sagt Omolo. „Das ist Heilung.“

Die Kirche ist auch Familie für die, die alles verloren haben. „Manche Menschen hier wurden von ihren Eltern vor die Tür gesetzt. Andere sind vor Missbrauch geflohen. Wieder andere sind obdachlos“, sagt die Pastor*in. Mitglieder unterstützen sich gegenseitig – mit Essen, Unterkunft, Geld für Schulgebühren oder einfach nur, indem sie da sind. „Manche Menschen kümmern sich um zehn oder fünfzehn andere. Das bedeutet selbst gewählte Familie.“

Omolo, die nächstes Jahr fünfzig wird, kennt dieses Leben nur zu gut. „Ich bin nicht bei meinen Eltern aufgewachsen“, erzählt sie. „Mit vier Jahren wurde ich zu anderen Leuten geschickt.“ Diese Erfahrung hat Omolo geholfen, ihre Berufung zu finden – und ihre Kraft. Heute ist sie mit fast 50 Jahren Pastor*in, Elternteil, Großelternteil und Psychologiestudent*in. „Wenn ich aus dem Berufsleben ausscheide“, sagt Omolo lachend, „gehe ich vielleicht nach Großbritannien. Einstweilen habe ich aber noch genug zu tun.“

„Pride ist Überleben“

Eine queer bejahende Kirche in Kenia zu leiten, ist immer noch gefährlich. Politiker bedienen sich oft einer LGBTQ+-feindlichen Rhetorik, um Unterstützung aus konservativen Kreisen zu bekommen. Manche Kirchen predigen offen gegen „westliche Sittenlosigkeit“. Doch Omolo lässt sich nicht beirren. Seit 2014 engagiert sich die Pastor*in auch bei der Schulung und Sensibilisierung von Geistlichen anderer christlicher Glaubensgemeinschaften, die inklusiver werden und normale Gemeinden in Orte verwandeln möchten, an denen queere Menschen offen, mit Würde und einem Gefühl spiritueller Zugehörigkeit leben können. 

Trotz des Drucks sieht Omolo Kenia an einem Wendepunkt. Gerichtsbeschlüsse hätten es LGBTQ+-Organisationen erlaubt, sich offiziell registrieren zu lassen. Und die Diskussion über LGBTQ+-Rechte nehme Fahrt auf. „Es ist immer noch ein Kampf. Aber wir sind da. Wir sind nicht unsichtbar.“ Auf die Frage, was Pride für sie bedeute, spricht Omolo nicht über CSD-Paraden oder Regenbogenkapitalismus. „Pride ist Überleben“, sagt die Pastor*in. „Pride ist die Tatsache, dass wir immer noch da sind – beten, organisieren, uns lieben. Pride ist, dass es uns gibt.“ Dabei würdigt sie die Aktivist*innen und Älteren, die den Weg geebnet haben. „Wären sie nicht mutig gewesen, würden wir heute nicht so gedeihen.“

Jeden Sonntag betreten zwischen 70 und 150 Menschen diese geheime Kirche in Nairobi. Die Gemeinde wächst schneller als ihre finanziellen Mittel. Oft gehen ihr die Stühle aus. Die Miete für den Raum ist hoch – und die Kirche ist auf Zuwendungen von Sympathisant*innen und Spendensammlungen innerhalb der Gemeinde angewiesen, um sich über Wasser zu halten. Doch die Pastor*in lässt sich nicht entmutigen. „Wir haben nicht viel, aber wir haben uns“, sagt sie. „Und das ist genug.“

Während die Musik langsam anschwillt und die letzten Nachzügler*innen ihre Plätze einnehmen, blickt Caroline Omolo sich in der Halle um. Die Regenbogenfahnen an den Fenstern flattern leicht im Wind. Heute wird die Predigt von Liebe handeln. „Unser ganzes Leben lang hat man uns erzählt, dass Gott uns hasst. Doch jetzt wissen wir: Wir können queer sein, wir können religiös sein und wir können immer noch mit Liebe die Bibel lesen.“

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

Sprachlich folgt dieser Text den Empfehlungen des Verbands Queere Vielfalt (https://www.lsvd.de).

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erschienen in Ausgabe 4 / 2025: Zeit für Widerspruch
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