Ein Ombudsmann wird wenig helfen

Eine soziale Bewegung in Indien fordert, käufliche Beamte stärker zur Rechenschaft zu ziehen. Ob man so die Korruption eindämmen kann, ist fraglich. Vetternwirtschaft und Bestechung haben in Indien eine Reihe struktureller Ursachen – vom Wirtschaftswachstum über die politische Dezentralisierung bis zu den Eigenheiten des Wahlsystems und der Mobilisierung von Minderheitengruppen. Und viele Angehörige der Mittelschicht, die sich über die Beamten empören, dürften schon für die Umgehung der Gesetze bezahlt haben.

Korruption ist in Indien weit verbreitet und ein sehr altes Phänomen. In einer auf das 4. Jahrhundert vor Christus datierten Abhandlung über Staatskunst und Verwaltung mit dem Titel Arthashastra hat der Verfasser eine Menge zur Korruption zu sagen, darunter dies: „So wie es unmöglich ist, nicht den Honig (oder das Gift) auf der eigenen Zungenspitze zu schmecken, so ist es für den Staatsdiener unmöglich, nicht zumindest ein wenig von den Einnahmen des Königs selbst zu verbrauchen.“

Autor

Pranab Bardhan

ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Er hat unter anderem zu ländlichen Institutionen in armen Ländern und zur politischen Ökonomie von Entwicklungsstrategien geforscht und zuletzt 2010 das Buch „Awakening Giants, Feet of Clay. Assessing the Economic Rise of China and India“ vorgelegt.

Eine Reihe von Skandalen, in die Politiker, Beamte, Großindustrielle, Medienvertreter, Armeeoffiziere und andere verwickelt waren, haben Korruption in Indien in den vergangenen Monaten zu einem wichtigen öffentlichen Streitthema werden lassen. Sozialaktivisten unter der Führung von Anna Hazare haben eine Bewegung angeführt, die der Empörung zahlloser Inder über die grassierende Korruption eine Stimme gegeben hat. Sie hat das Parlament dazu gebracht zu versprechen, es werde echte Reformen im Sinne der Verfolgung und Bestrafung von Bestechung auf den Weg bringen.

Es lohnt sich jedoch, sich eingehender mit dem vielschichtigen sozioökonomischen Hintergrund des Korruptionsproblems in Indien zu beschäftigen. Mit Korruption meine ich, nach gängiger Definition, die „Nutzung eines öffentlichen Amtes zur Erlangung privater Vorteile“. Das ist offensichtlich nicht die einzige Form von Korruption: Es gibt auch Unternehmensskandale in Indien, bei denen Positionen in der Privatwirtschaft zur persönlichen Bereicherung missbraucht wurden – ähnlich wie in jüngster Zeit öfter in westlichen Ländern, von Enron in den USA bis hin zu Skandalen im Finanzsektor. Allerdings war der öffentliche Sektor indirekt beteiligt, da er das Vorgehen der Privaten zu lax regelte und beaufsichtigte.

In Indien herrscht allgemein der Eindruck, dass die Korruption im gängigen Sinn in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Das mag zwar stimmen – auch wenn man nicht sicher sein kann, weil wir dazu keine direkten Erhebungen haben. Aber man muss sorgfältig prüfen, was damit gemeint ist: Sprechen wir über die Zahl korrupter Geschäfte mit Beamten, die wir beobachten oder von denen wir hören, oder über die Summe der gezahlten Bestechungsgelder? Wenn man in Indien nur an einer Straßenecke steht, sieht man oft, wie ein Verkehrspolizist mit einer Hand den Verkehr lenkt und seine andere Hand ausstreckt. LKW-Fahrer legen häufig einige Münzen ein, um einer Kontrolle zu entgehen. Die Allgegenwart dieser „kleinen Korruption“ unter Polizisten und Beamten in Gerichten und Behörden erweckt den Eindruck einer extrem hohen Korruptionsrate. Doch die Summe aller Bestechungsgelder, die alle kleinen Beamten im Jahr erhalten, wird vielleicht kaum größer sein als der Betrag, der bei einer einzigen großen korrupten Transaktion verschoben wird – beispielsweise wenn ein Staat mit einem hinter geschlossenen Türen ausgehandelten Deal Kampfflugzeuge ordert, ganz zu schweigen von einem einzelnen Rüstungsauftrag etwas des US-Verteidigungsministeriums.

Transparency International stuft Indien bei der Korruption als sehr schlecht ein

Ein weiteres Problem bei der Messung von Korruption wird am Länder-Ranking deutlich, das Transparency International vornimmt – hier wird Indien sehr schlecht eingestuft. Diesen Einstufungen liegen Wahrnehmungen ausländischer Geschäftsleute zugrunde, deren Erfahrungen mit Korruption sich stark von denen einheimischer Geschäftsleute im selben Land unterscheiden können. Erstere haben vielleicht weniger Insiderwissen über die einheimische Bürokratie und noch weniger Geduld mit deren langsamem Vorgehen. Daher zahlen sie möglicherweise wesentlich mehr Bestechungsgeld, als einheimische Geschäftsleute es nach langen Verhandlungen auf vertrautem Terrain und unzähligen Tassen Kaffee am Ende tun.

Dennoch haben die meisten Inder den Eindruck, die Korruption – wie immer man sie misst – habe in den vergangenen Jahren zugenommen. Und viele wundern sich darüber. Denn nach der Liberalisierung der Wirtschaft und der Abschaffung vieler Genehmigungen und Lizenzen hätte man erwarten können, dass der Spielraum für bürokratische Willkür schrumpft. Um dieses Rätsel zu erklären, lassen sich mindestens vier Faktoren anführen.

Erstens sind trotz der Handelsliberalisierung und der Abschaffung vieler Beschränkungen für Unternehmen einige bedeutende staatliche Kontrollen geblieben, vor allem auf bundesstaatlicher Ebene. Zum Beispiel benötigt jeder, der eine Fabrik eröffnen möchte, Land, das oft von der Regierung erworben wird. Er braucht einen Wasser- und Stromanschluss von den zuständigen Behörden. Und er braucht eine Bestätigung über die Einhaltung von Arbeits- und Umweltvorschriften, für die er auf Fabrikinspektoren und Arbeitsschutzbehörden angewiesen ist.

Zweitens kann der Anstieg der Korruption in gewisser Hinsicht eine Folge des hohen Wirtschaftswachstums in Indien sein. Denn es hat den Marktwert knapper öffentlicher Ressourcen – Land, Öl- und Gasfelder, Bodenschätze, Mobilfunkfrequenzen und mehr – steigen lassen und damit die Möglichkeit der Behörden, aus der Vergabe dieser Güter Geld zu machen. Drittens sind Wahlen auf allen Ebenen des Staates im Laufe der Zeit teurer geworden – Kandidaten müssen Werbekosten, Sprit für Fahrzeuge sowie Alkohol und Geld für die vielen jungen Leute bezahlen, deren Aufgabe es ist, Wähler zu mobilisieren. Immerhin hat ein typischer indischer Wahlbezirk viel mehr Wähler als anderswo, mehr als eine Million für einen einzigen Parlamentssitz. Da Wahlkampfkosten nicht vom Staat bezuschusst werden, muss man Geld dafür aus allen möglichen privaten Quellen beschaffen, oft mit illegalen Mitteln. Als Gegenleistungen werden natürlich politische Gefälligkeiten zugesagt.

Viertens waren größere Reformen in den letzten Jahren mit dem Transfer großer Geldsummen von der Zentralregierung und von den Bundesstaaten an verschiedene lokale Programme verbunden. Diese Dezentralisierung und die Übertragung von Zuständigkeiten auf Distriktverwaltungen kann zum Beispiel zu mehr Korruption beitragen, weil die räumliche Nähe eine Einflussnahme auf örtliche Verwaltungen oder Absprachen zwischen Beamten und einflussreichen Kunden leichter macht als bei weiter entfernten Behörden auf höherer Ebene. Auch fließen jetzt große Summen in Sozialprogramme für die Armen. Hier lässt sich an den vielen örtlichen Versorgungsstellen nur schwer kontrollieren, ob das wirklich nur den Zielgruppen zugutekommt; auch Buchprüfungen sind schwierig. Die Übertragung von Befugnissen auf die lokale Ebene führt zu der allgemeineren Frage nach dem komplexen Verhältnis zwischen Demokratie und Korruption. Auf den ersten Blick scheint es, dass Korruption von Institutionen der Demokratie beseitigt werden sollte. Dazu zählen in Indien Mechanismen der gegenseitigen Kontrolle im Regierungssystem, die Justiz, der unabhängige Rechnungshof, die freien Medien, eine starke NGO-Bewegung sowie das kürzlich verabschiedete Gesetz, nach dem Bürger Informationen über die Tätigkeit von Behörden einfordern können. Tatsächlich wirkt das der Korruption entgegen – ohne diese Institutionen wäre die Lage wesentlich schlimmer. Man muss jedoch bedenken, auf welche komplizierte Weise demokratische Institutionen in bestimmten sozialen Kontexten funktionieren.

Erstens kann es vorkommen, dass eine lokal gewählte Regierung von der örtlichen Oligarchie gleichsam gekapert wird – vor allem in Gebieten, in denen hohe soziale und wirtschaftliche Ungleichheit herrscht. Zweitens sind die Gerichte in Indien dafür berüchtigt, dass sie mit Bergen von unerledigten Fällen im Rückstand sind, und unter Richtern der unteren Instanzen ist Korruption verbreitet. Drittens sind selbst die starken Medien abhängig von Firmenwerbung; ihre Beziehungen zu den Unternehmen bieten viel Raum für Mauscheleien. Viertens begrenzen Kontrollen im Regierungssystem zwar den Missbrauch von Macht, aber manchmal können sie dazu führen, dass in den Behörden bei einer Entscheidung mehrere Stellen ein Vetorecht haben. Eine Anekdote erzählt, dass ein hoher Beamter in Neu-Delhi einem Freund erklärte: „Wenn du möchtest, dass ein Fall schneller bearbeitet wird, bin ich nicht sicher, dass ich dir helfen kann. Aber wenn du möchtest, dass ich einen Fall einstelle, dann kann ich das sofort tun.“ In diesem System kann man selbst nach Zahlung von Schmiergeld nicht sicher sein, dass etwas getan wird – möglicherweise ist eine neue Zahlung erforderlich.

Fünftens kann Demokratie in einem Land mit stark ethnisch geteilter Bevölkerung unerwartete Wirkungen haben. In Indien hat sie geradezu eine soziale Revolution verursacht, weil sie zahlenmäßig große, aber zuvor unterdrückte oder benachteiligte Gruppen in die Lage versetzt hat, in der Politik ihr Gewicht zur Geltung zu bringen. Das hat die demokratische Beteiligung über die engen sozialen Grenzen ausgeweitet, die in der ersten Zeit nach der Unabhängigkeit trotz des allgemeinen Wahlrechts bestanden. Zugleich kann der zunehmende Spielraum für auf Ethnien gegründete Politik zu mehr Korruption beitragen.

Zwei Möglichkeiten dafür sollen genannt werden auf die Gefahr hin, als politisch inkorrekt zu gelten: Erstens kann eine ehrgeizige Person aus einer niedrigen Kaste, der das Netzwerk fehlt, das Mitglieder höherer Kasten haben, stattdessen Geld einsetzen, um den sozialen Aufstieg zu schaffen. Zum anderen ist für Angehörige niedriger Kasten und ethnischer Minderheiten die Würde der eigenen Gruppe in der Politik oft wichtiger als andere Gesichtspunkte, und sie wählen Führer aus der eigenen Gruppe – auch wenn die korrupt sind. Die Geschichte Südindiens, wo es schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu solch einem ethnischen Erwachen kam (viel früher als in Nordindien), nährt eine gewisse Hoffnung, dass die anfängliche „Status-Politik“ sich erschöpft und die Wähler danach beginnen, auch von Führern ihrer eigenen Gruppe eine effizientere und ehrliche Regierungsführung einzufordern.

Um auf die Bewegung von Anna Hazare zurückzukommen: Ihr ist es gelungen, der Forderung nach Ombudsleuten auf zentraler und bundesstaatlicher Ebene Nachdruck zu verleihen. Die sollen weitgehende Befugnisse haben, Korruption zu bestrafen. Viele in Indien stimmen zu, dass solche Ombudsleute nötig sind, sind aber nicht einverstanden mit den Methoden, mit denen die Hazare-Bewegung ihre Forderungen vertritt. Dazu gehören zum Beispiel der Hungerstreik bis zum Tod als Mittel der politischen Erpressung gegenüber einer gewählten Regierung und die Art, wie die Bewegung Institutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie öffentlich in Verruf gebracht hat.

Es sollten Sondergerichte zur schnellen Bearbeitung eingerichtet werden

Doch man kann schon die Forderung nach allmächtigen Ombudsleuten als entscheidende Lösung für das Problem fragwürdig finden. Erstens gibt es in Indien bereits Einrichtungen und Gesetze zur Bekämpfung von Korruption wie die Central Vigilance Commission, das Anti-Korruptionsgesetz von 1988 und das Geldwäschegesetz von 2002. Statt einen weiteren bürokratischen Apparat darüberzustülpen, wäre es wichtiger zu prüfen, warum die bestehenden Vorkehrungen nicht wirken, und darüber hinaus ihre Befugnisse zur Strafverfolgung zu stärken. Beispielsweise muss die Regierung zur Zeit Verfahren gegen Beamte vorher genehmigen, was schwer zu erreichen ist.

Zweitens gibt es wie erwähnt strukturelle Gründe dafür, dass die Korruption möglicherweise zunimmt. Wenn man gegen sie nichts unternimmt, dürfte es nicht ausreichen, nur die Befugnisse zur Strafverfolgung auszuweiten. Schließlich haben in China auch extrem harte Strafen bis zur Hinrichtung die Korruption nicht beseitigt. Die Hazare-Bewegung richtet ihre Aufmerksamkeit allein auf käufliche Politiker und Beamte, nicht aber auf die zuweilen sehr reichen Schmiergeldzahler.

Drittens legt die Hazare-Bewegung nicht genügend Nachdruck auf notwendige Wahlrechtsreformen. So sollten Wahlen öffentlich finanziert, die Konten politischer Parteien regelmäßig geprüft und Personen, gegen die Strafanzeige erstattet worden ist, von der Kandidatur ausgeschlossen werden. Weil dies oft zu fadenscheinigen Anschuldigungen gegen politische Gegner führt und sich solche Fälle vor den überlasteten Gerichten über Jahre hinziehen, sollten hierfür Sondergerichte zur schnellen Bearbeitung eingerichtet werden.

Viertens sollte die städtische Mittelschicht, von der die lauteste Unterstützung für die Hazare-Bewegung kommt, einmal in sich gehen. Es gibt vor allem zwei Formen der Bestechung: Bei einer zahlt man Schmiergeld, um zu beschleunigen, was ein Beamter nach seinen Dienstvorschriften tun soll. Bei der anderen erhält der Beamte dagegen Geld, damit er etwas tut, was er nicht tun soll – zum Beispiel wegschauen, wenn Waren geschmuggelt und Steuern hinterzogen werden oder Personen, die dazu nicht berechtigt sind, einen Führerschein oder eine Lebensmittelkarte erhalten. Diese Fälle erfordern eine Übereinkunft zwischen dem Schmiergeldzahler und dem Bestochenen, dass sie die Gesetze umgehen wollen. Wenn sie ehrlich sind, können viele Angehörige der städtischen Mittelschicht in Indien kaum behaupten, dass sie sich noch nie auf solche Absprachen eingelassen haben. Da ist es einfacher, vor dem Fernseher Parolen zur Unterstützung eines frommen Mannes zu skandieren.

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner

 

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erschienen in Ausgabe 10 / 2011: Globalisierung: Auf dem Weg zur Einheitskultur?
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