Barrieren einreißen

Behindert ist man nicht, behindert wird man – diesem Verständnis hat sich die WHO in ihrem ersten Weltbehindertenbericht angeschlossen. Eine Vielzahl von sozialen und baulichen Barrieren erschweren behinderten Menschen den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und gesellschaftlicher Teilhabe. Bei der Bestandsaufnahme darf es aber nicht bleiben. Es gilt, diese Hindernisse zu überwinden.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Weltbank haben erstmals einen Bericht vorgelegt, der die Situation behinderter Menschen weltweit dokumentiert. Die Christoffel-Blindenmission (CBM) hat den Report inhaltlich und finanziell unterstützt. Das rund 300 Seiten starke Dokument birgt vor allem zwei neue Erkenntnisse. Erstens: Die Zahl der Menschen mit Behinderungen ist weitaus höher als bisher angenommen – mehr als eine Milliarde Menschen weltweit müssen mit einer Behinderung zurecht kommen, nicht 650 Millionen, wie seit den 1970er Jahren angenommen.

Autor

Dr. Rainer Brockhaus

ist Direktor der Christoffel-Blindenmission Deutschland.

Und zweitens wird Behinderung von der WHO endlich so definiert, wie Selbsthilfegruppen und Entwicklungsorganisationen es schon lange fordern: Als Zustand, der einen Menschen von seinem sozialen Umfeld isoliert, von gesellschaftlichen Aktivitäten trennt und an der Teilhabe an Bildung und medizinischer Versorgung hindert. Behinderung ist damit nicht mehr ein rein medizinisches Phänomen, das isoliert unter dem Aspekt betrachtet wird, inwieweit Fehlfunktionen des Körpers den Menschen „krank“ oder „behindert“ machen.

Dieser längst überfällige Ansatz ist für Menschen mit Behinderungen in Deutschland ebenso relevant wie in Entwicklungsländern. Nach der neuen Definition sind sie nicht deshalb behindert, weil sie etwa im Rollstuhl sitzen, sondern weil ihnen das Umfeld Barrieren in den Weg stellt. Was nützt dem Rollstuhlfahrer in Deutschland die Straßenbahn mit Niederflureinstieg, wenn der Zugang zum Theater über eine Treppe führt? Es würde kaum einen Unterschied machen, wenn die Theatergäste in Abendrobe – die weiblichen ohnehin oft in Stöckelschuhen – über eine sanft ansteigende Rampe defilieren müssten statt über eine steile Treppe. Das gelähmte Schulkind in Ruanda hat wenig von einem gespendeten Rollstuhl, wenn der Weg zur Schule so voller Schlaglöcher ist, dass es ihn nicht befahren kann. Was hindert das Kind, sein Recht auf Bildung wahrzunehmen: Die körperliche Einschränkung oder der schlechte Weg?

Auch in der medizinischen Grundversorgung sind Menschen mit Behinderungen benachteiligt: Mehr als die Hälfte dieser Menschen in Entwicklungsländern kann sich laut WHO nicht einmal den Transport zu Gesundheitszentren leisten. Das mag in der industrialisierten Welt weniger das Problem sein. Doch dafür trifft die Rollstuhlfahrerin, die die Anreise zur Arztpraxis noch mühelos bewältigt hat, dort auf Mammografiegeräte zur Brustkrebs-Früherkennung, die sie nur benutzen kann, wenn sie aufrecht steht. Und während ein Kind mit intellektueller Einschränkung in Afrika oft gar keine Schule besucht, hätte es bei uns sogar das Anrecht auf den Besuch einer Regelschule. Doch seine Eltern stoßen in der Regel bereits im Vorfeld auf so viele Vorbehalte, dass sie oft beschließen, es doch lieber auf eine „Sonderschule“ zu schicken.

Der Bericht der WHO zeigt deutlich: Noch immer stehen zu viele Barrieren zwischen Menschen mit Behinderungen und ihrer vollen Teilhabe an der Gesellschaft. Dabei sind sie die größte Minderheit der Welt und machen in Entwicklungsländern bis zu einem Fünftel der Bevölkerung aus. Die Weltgemeinschaft kann es sich kaum leisten, auf die Potenziale behinderter Menschen zu verzichten, es sei denn, sie will erhebliche volkswirtschaftliche Schäden in Kauf nehmen.

Wir alle sind gefordert, die Hindernisse im Gesundheitsbereich, Bildungswesen oder Berufsleben zu beseitigen, die es behinderten Menschen schwer machen, ihre Fähigkeiten einzubringen und als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Das kontext- und umfeldbezogene Denken, das in der Entwicklungszusammenarbeit schon lange selbstverständlich ist, sollte im Norden wie im Süden angewendet werden, wenn es darum geht, soziale oder bauliche Barrieren zu überwinden.

Bei einer reinen Bestandsaufnahme darf es jedenfalls nicht bleiben. Wir alle haben etwas da-von, wenn wir die Hindernisse beseitigen, die Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen erst zu „behinderten Menschen“ machen – seien sie in öffentlichen Gebäuden, Arztpraxen oder in unseren Köpfen.

 

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erschienen in Ausgabe 8 / 2011: Die Jagd nach dem dicksten Fisch
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