Gefälscht, kopiert, verscherbelt

In Mexikos informeller Wirtschaft arbeiten mehr Menschen als in legalen, sozialversicherungspflichtigen Jobs. Kaum ein Politiker wagt es, dagegen vorzugehen, denn Schmuggel und Markenpiraterie garantieren den Verbrauchern unschlagbar günstige Preise. Doch zunehmend kontrolliert das organisierte Verbrechen die informellen Geschäfte.

Alfredo Herrera (Name geändert) hat alle aktuellen Hollywoodproduktionen im Angebot. 1,75 Euro kostet die DVD. Pedantisch aufgereiht bietet der 34-jährige Filmhändler seine Raubkopien feil, von „Fast and Furious V" bis „Thor", dazu ein paar Dutzend Filmklassiker. Zum selben Preis erfüllt Herrera auch exotische Wünsche. Deutsche Spielfilme der 1950er Jahre, französische Dokumentarstreifen oder koreanische Kunstfilme hat er nach spätestens einer Woche beschafft, selbstverständlich mit Garantie. Schlechte Kopien tauscht er diskussionslos um. Kassenbelege gibt es nicht. Es gilt das Wort.

Autor

Matthias Knecht

arbeitet als Auslandskorrespondent in Lateinamerika für die Nachrichtenagentur epd, die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“.

Nike-Shirts für 3,50 Euro, Rolex-Uhren für 12 Euro, Converse-Schuhe für 15,65 Euro: Herrera verkauft seine Raubkopien im Zentrum der mexikanischen Millionenstadt Cuernavaca, wo sich eine heruntergekommene Markthalle an die nächste reiht. Tausende weiterer Händler machen dort ihre Geschäfte, täglich von 10 bis 20 Uhr. Unter den Augen der Polizei wird alles verscherbelt, was sich fälschen oder kopieren lässt. Fayuca heißen solche informellen Märkte in Mexiko, und es gibt sie in allen Städten.

Der informelle Handel ist bei Herrera eine Familientradition und darauf ist er stolz. „Schon mein Großvater war Straßenhändler", berichtet der untersetzte Mann mit den indigenen Gesichtszügen. Als Kind verbrachte er jede freie Stunde auf der Straße, reinigte Windschutzscheiben an den Kreuzungen, verkaufte Kaugummis und Plüschtiere. Der Handel brachte der Familie genug ein, um Herrera auf die Universität zu schicken. Doch nach dem siebten Semester brach er sein Ingenieurstudium ab. Bereut hat er das noch nie: „Mit meiner informellen Arbeit verdiene ich mehr, als ich jemals als Akademiker in einem regulären Job in Mexiko verdienen könnte."

Razzien in Cuernavacas informellen Märkten sind genauso selten wie in den Fayucas im Rest des Landes. Meist rafft sich die Bundespolizei dazu auf, wenn die internationalen Klagen über Mexikos ausufernde Piraterie allzu laut werden. „Ungefähr alle zwei Jahre kommen sie im Morgengrauen und transportieren alles ab. Das ist dann ein Totalverlust. Aber den habe ich schon einkalkuliert", sagt Herrera.

Parkplatz bewachen für 0,30 Euro, frische Mangos für 0,58 Euro, Schuhe putzen für 1,45 Euro: Die Piraterie ist Teil einer gigantischen Schattenwirtschaft, die in Mexiko nüchtern als informelle Ökonomie bezeichnet wird. Und die ist allgegenwärtig. Kein Gehsteig, der nicht von anarchisch aufgebauten Verkaufsständen zugestellt ist. Keine rote Ampel, an der nicht Dutzende von Händlern ihre Dienste anbieten. Keine Metrofahrt, bei der nicht im Minutentakt fliegende Händler den Fahrgästen die abenteuerlichsten Produkte andrehen wollen.

Laut einer vorsichtigen Schätzung der Weltbank macht die informelle Wirtschaft knapp ein Drittel des mexikanischen Bruttoinlandsproduktes aus. Einige mexikanische Ökonomen gehen von deutlich höheren Werten aus. Längst zur Norm geworden ist damit die informelle Arbeit. So wie Herrera und seine Familie arbeiten 28 Millionen Mexikaner im informellen Sektor, ergab jüngst eine Studie des Zentrums für Wirtschaftsstudien des Privatsektors (CEESP) in Mexiko-Stadt. Das sind fast doppelt so viele wie die knapp 16 Millionen regulär Beschäftigten.

Taufen ab 29 Euro, Trauungen ab 115 Euro: Selbst die Marke Vatikan wird im katholischen Mexiko schamlos raubkopiert. Bis zu 10.000 falsche Priester zelebrieren landesweit Rituale oder Messen, von der Presse schlicht „Piraterie-Priester" genannt. Statt legal als freikirchliche Priester aufzutreten, geben sie vor, Geistliche der römisch-katholischen Kirche zu sein, eine Straftat nach mexikanischem Recht. Geahndet wird sie allerdings genauso selten wie der illegale Filmverkauf. Denn die Piraterie ist in Mexiko salonfähig. Acht von zehn Mexikanern kaufen laut Umfragen regelmäßig und bewusst gefälschte Markenprodukte.

Viele informell Beschäftigte kommen gerade einmal auf den gesetzlichen Mindestlohn von 3,50 Euro täglich. Doch es gibt auch viele, die bewusst die Schattenwirtschaft wählen, weil es ihnen dort deutlich besser geht als in der regulären Ökonomie. Wie Herrera, der sich in den vergangenen zehn Jahren ein kleines Filmhandelsimperium aufgebaut hat. Seine Liebe zum Kino entdeckte er an der Universität. Seine Lieblingsregisseure sind die Deutschen Fatih Akin und Doris Dörrie sowie der Koreaner Kim Ki-duk, allesamt unbekannte Namen in Mexiko. Wer dort etwas anderes sehen will als US-Streifen oder mexikanische Billigproduktionen, landet darum früher oder später an Herreras DVD-Stand.

Selbst Mexikos Star-Regisseure, die sich gerne im noblen Hauptstadtvorort Cuernavaca niederlassen, zählen zu seinen Kunden. „Bei mir bekommen sie die Filme, die im legalen Handel gar nicht erhältlich sind. Das spricht sich herum." Herrera ist nicht beim Finanzamt gemeldet, er hat weder eine Krankenversicherung noch eine Altersvorsorge. Genauso geht es seinen inzwischen vier Angestellten. „Bei uns gibt es keine Verträge. Es wird per Handschlag gearbeitet", sagt er. Dass sein Filmhandel illegal ist, gibt er ohne Zögern zu und ergänzt: „Was will man machen? Von den normalen Löhnen in Mexikos Wirtschaft kann man nicht leben."

Die US-amerikanische Politologin Vanda Velbab-Brown sieht Mexikos enorme Schattenwirtschaft als Folge des schwachen Staates, der weder Sicherheit noch Beschäftigung gewähren kann. „Für viele Menschen ist die Teilnahme an der informellen oder gar illegalen Ökonomie der einzige Weg, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie gibt ihnen überhaupt eine Chance auf sozialen Aufstieg", sagt die Wissenschaftlerin, die sich am Brookings-Institut in Washington mit informeller und illegaler Wirtschaft beschäftigt.

Herrera beschafft die Hälfte seiner Ware in Tepito, zwei Autostunden von Cuernavaca entfernt. Das berüchtigte Viertel im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt ist das Herz des informellen Handels Mexikos. Hier decken sich Händler aus der ganzen Republik mit Ware ein. An den Ausfallstraßen Tepitos kontrolliert die Bundespolizei die Kofferräume. „Einmal haben sie mich mit 1000 Kopien erwischt. Für ein Schmiergeld von 1000 Peso (58 Euro) haben sie mich durchgewunken. Aber das ist nicht kalkulierbar. Manchmal nehmen sie dir alle Ware und alles Geld ab."

Kalkulierbar machen das Geschäft Mexikos Drogenkartelle, die sich mehr und mehr als Schutzmacht des informellen Handels profilieren. Die Politologin Velbab-Brown sieht einen „Trend der organisierten Kriminalität, in die informelle und illegale Wirtschaft zu expandieren". Nach ihrer letzten Forschungsreise durch Mexiko im März stellte Velbab-Brown fest: „Immer mehr Geschäfte zahlen Schutzgelder. Das ist für sie lohnender als Steuern zu zahlen. Denn das organisierte Verbrechen verspricht ihnen den Schutz, den der Staat nicht bietet."

Je schwächer der Staat, desto bereiter seien Gemeinschaften, kriminelle Gruppen zu unterstützen, sagt Velbab-Brown. Damit erklärt die ausufernde informelle Ökonomie auch einen Teil der Gewalt in Mexiko. „Schattenwirtschaften funktionieren nur dann, wenn es Akteure gibt, die ein bestimmtes Reglement durchsetzen, notfalls mit Gewalt", erläutert die Politologin. Filmhändler Herrera bestätigt diese Beobachtungen. Er selbst blieb zwar bisher von Besuchen der Mafia verschont, nicht aber seine weitverzweigte Familie, die in ganz Mexiko handelt. Im Norden des Landes und im Bundesstaat Michoacan, beides Regionen mit starker Präsenz der Drogenkartelle, können die informellen Händler demnach nur noch mit deren Genehmigung arbeiten und müssen von ihnen die Ware beziehen. Das schlägt sich auf die Preise nieder. So kosten raubkopierte Filme im nördlichen Monterrey fast das Doppelte wie im Zentrum Mexikos. Dafür tragen sie das Siegel des Kartells. Ein Einhorn auf dem Cover steht für das Kartell der „Zetas", ein Schmetterling für „La Familia" aus Michoacan.

Crack für 0,58 Euro, Koks für 6,95 Euro, Auftragsmorde ab 290 Euro: Der mexikanische Kriminalitätsforscher und Ökonom Edgardo Buscaglia schätzt, dass Mexikos Kartelle inzwischen weniger als die Hälfte ihres Umsatzes mit Drogen erzielen und dafür immer mehr mit anderen illegalen Aktivitäten oder informeller Wirtschaft. Die Kartelle schmieren lokale Beamte, um informelle Märkte vor Polizeirazzien zu schützen. Sie sorgen dafür, dass die Ware ins Land kommt. Und sie haben das notwendige Kapital, um beispielsweise Raubkopien im großen Stil zu erstellen. Buscaglia bezeichnet die Drogenkartelle als „illegale Unternehmen" mit einem Umsatz von jährlich 100 Milliarden US-Dollar.

Dank der Infrastruktur der Drogenkartelle globalisiert sich auch der informelle Handel. Wurden früher in Mexikos Pirateriezentrum Tepito noch Lacoste-Shirts in Heimarbeit gefälscht, dient das verrufene Viertel heute vor allem als Umschlagplatz. Denn die Chinesen produzieren falsche Schweizer Taschenmesser inzwischen billiger und besser. Das Ausmaß der grenzüberschreitenden Piraterie machte im April eine Razzia der Bundesstaatsanwaltschaft deutlich. In Monterrey stellte sie 250 Tonnen Piraterieware sicher. Der größte Fund der vergangenen Jahre umfasste Schuhe, Kleidung, Rucksäcke, Elektronikartikel, CDs und Uhren, allesamt gefälschte Markenartikel aus ausländischer Herstellung.

Velbab-Brown warnt vor einer solchen rein polizeilichen Bekämpfung der illegalen Ökonomie. Mexiko täte besser daran, die „Wurzel des Übels" anzupacken, nämlich die „wirtschaftlichen und sozialen Faktoren", die Menschen in die Informalität treibe. Doch das ist leichter gesagt als getan. In guten Zeiten setzt Alfredo Herrera mit seinem Filmhandel bis zu 100.000 Pesos (knapp 6000 Euro) wöchentlich um - in Mexiko eine gigantische Summe. Dennoch fühlt er sich nicht immer wohl dabei. „Man ist immer in der Defensive", meint er. Vor einigen Jahren hat er deshalb versucht, seine Geschäfte zu legalisieren. Er scheiterte an der Bürokratie und an der Arroganz der Filmgroßhändler, bei denen er anklopfte. „Sie wollen nur mit den großen Ladenketten Geschäfte machen", klagt Herrera. Und hat resigniert: „Es ist unmöglich, aus der Informalität herauszukommen."

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erschienen in Ausgabe 6 / 2011: Wir konsumieren uns zu Tode
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